Die Kontroverse um die sogenannten Sharia-Gerichte in Großbritannien

Was muslimische Frauen wollen

In Großbritannien ist eine Debatte über Sharia-Gerichte ausgebrochen. Muslimischen Frauenrechtlerinnen von den Southall Black Sisters wird Islamophobie vorgeworfen.

Wenn selbsternannte Richter in Hinterzimmern von Reihenhäusern im Londoner Stadtteil Leyton über Ehescheidungen zwischen gläubigen Muslimen entscheiden, dann passiert das, weil »die säkulare britische Gesetzgebung keine religiösen Scheidungen vollstrecken kann«. Die islamischen Richter, die den sogenannten Sharia-Gerichten vorsitzen, entscheiden über verschiedene Anliegen der muslimischen Gemeinde, von Scheidungen bis zu Tes­tamenten und Vertragsstreitigkeiten.
Diese selbstberufenen Gerichte gibt es nicht nur in Hinterzimmern von ­ärmeren Stadtteilen im Osten Londons, sondern sind auch in großen Moscheen wie der Birmingham Central Mosque. Die Anzahl der Sharia-Gerichte ist unbekannt, doch die Nachfrage ist groß. In Anbetracht der Tatsache, dass etwa 30 Prozent der Ehen zwischen Muslimen rein religiös, aber nicht offiziell amtlich sind, ist dies nicht verwunderlich. Ein Sharia-Gericht in London berichtet von etwa 600 Fällen, über die es 2015 entschieden habe.
Muslime sind nicht die einzige religiöse Minderheit, welche diese Art von Streitbeilegung praktiziert. Juden, und insbesondere orthodoxe Juden in Großbritannien, wenden sich bei zivilrecht­lichen Streitigkeiten beispielsweise an die Beth Din, ihre eigenen religiösen Gerichte.
Auch die Beth Din sind einiger Kritik seitens liberaler Teile der jüdischen Gemeinde sowie der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt, doch ist diese bei den Sharia-Gerichten deutlicher. Die extreme Rechte in Großbritannien sieht Sharia-Gerichte als Problem. Die United Kingdom Independence Party (Ukip) spricht von einem parallelen Rechtssystem, welches die britische Justiz unterminiere.
Sind die Entscheidungen dieser Gerichte rechtsverbindlich? Die Antwort: Es ist kompliziert. Das Beispiel Scheidung zeigt, dass englische Gerichte die Entscheidungen von Sharia-Gerichten nicht befolgen müssen. Dies setzt aber voraus, dass eine der Parteien gegen die Entscheidung klagt. Passiert dies nicht, werden Entscheidungen der Sharia-Gerichte automatisch rechtskräftig. Das ist durch den sogenannten Arbitration Act möglich. Das Gesetz, ­welches für England, Wales und Nordirland, nicht aber für Schottland gilt, regelt die außergerichtliche Streitbeilegung, bei der Parteien in zivilrechtlichen Fällen im gegenseitigen Einvernehmen die Regelung ihrer Streitigkeit durch ein nicht offiziell gerichtliches Tribunal akzeptieren. Sofern es keine Fehler im Prozess gibt, wird die Entscheidung dieses Tribunals als rechtsverbindlich von amtlichen Gerichten vollstreckt.
Vielfach kritisiert wird jedoch, dass die islamischen Richter die Sharia so auslegen, dass Frauen klar benachteiligt werden. Ehen gelten als heilig und müssen unter allen Umständen erhalten werden, selbst in Fällen von häus­licher Gewalt. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass auch nach der Bewilligung einer Scheidung Frauen finanziell und in Fragen des Sorgerechts für Kinder benachteiligt werden. Nach gängiger Auslegung hat die Aussage einer Frau nur halb so viel Gewicht wie die eines Manns. Zudem wird manchen Frauen ein Rechtsbeistand oder sogar eine Begleitperson verweigert. Sagt eine Frau aus, ihr Mann sei ihr gegenüber gewalttätig, kann der Richter schon mal urteilen: Der Mann soll auf den Koran schwören, dies in Zukunft zu ­unterlassen.
Wegen dieser Vorwürfe setzte die damalige Innenministerin Theresa May im Mai vorigen Jahres einen Untersuchungsausschuss ein, um die Praxis der Sharia-Gerichte zu untersuchen. Ziel sei es, festzustellen, ob die Sharia in einer Weise angewendet wird, die den geltenden Gesetzen widerspricht. Um zu verdeutlichen, dass dies im In­teresse der muslimischen Community geschehe, soll auch geprüft werden, ob die Anwendung der Sharia den muslimischen Gemeinden allgemein schade. May betonte damals allerdings, dass es nicht darum gehe, die Sharia zu bewerten, sondern lediglich die Praxis einiger islamischer Institutionen.
Während eine Reaktion seitens der Linken ausblieb, entfachte die Einsetzung des Untersuchungsausschusses eine Debatte unter muslimischen Frauengruppen. Das Muslim Women’s Network UK schrieb einen offenen Brief, in dem die Untersuchung zwar begrüßt, doch auch davor gewarnt wird, Sharia-Gerichte abzuschaffen. Zwar würden in einigen Fällen tatsächlich Frauen diskriminiert, aber ein Verbot würde nicht nur die Beilegung zivilrechtlicher und religiöser Angelegenheiten in den Untergrund treiben, sondern auch die Stimmen muslimischer Frauen unterdrücken. Das Problem mit Sharia-Gerichten sei unter anderem die inkonsistente Auslegung der religiösen Richtlinien sowie deren einseitige, patriarchale Anwendung. Der Brief rief also zu einer Reform der Sharia-Gerichte, nicht zu deren Abschaffung auf.
Anderen muslimischen Frauen geht dies nicht weit genug. Die Southall Black Sisters (SBS) sind eine säkulare und inklusive, aber mehrheitlich mus­limische Frauenrechtsgruppe, die seit 1979 besteht und sich gegen Gewalt gegen Frauen einsetzt. Die SBS sprechen sich in einer Kampagne gegen jegliche Form religiöser Herrschaft über Frauen aus. Sharia-Gerichte haben demnach keine Autorität über das Leben muslimischer Frauen, da sie sich nicht der Gleichstellung und sozialer Gerechtigkeit verschrieben haben. Der Aufruf der SBS weist auf die Gewalt und Diskriminierung hin, der alle Frauen, gläubig oder nicht, ausgesetzt seien. Während Mitglieder der SBS sich als religiös betrachten, sehen sie ihren Glauben als Privatangelegenheit. Sie kritisieren außerdem, dass die Richter in Sharia-Gerichten oft fundamentalistische Kleriker sind, die nicht viel von Frauenrechten halten. Mit Verweis auf die Viktimisierung vieler ihrer Mitglieder durch religiöse Praxis in ihren Herkunftsländern und auf den Wunsch, dieser zu entfliehen, fordern die SBS Gleichstellung vor dem Gesetz.
Maryam Namazie, eine iranische Humanistin, Marxistin und verantwortlich für die Kampagne »One Law for All« (Jungle World 50/2016), argumentiert, dass Sharia-Gerichte nicht repräsentativ für Muslime seien, sondern Teil einer fundamentalistischen ex­tremen Rechten. Sharia-Gerichte seien nicht notwendigerweise religiös inspiriert, sondern lediglich ein Mittel dieser extremen Rechten, ihre konservative Agenda ungeachtet widersprüchlicher religiöser Interpretationen zu implementieren.
Religiöse muslimische Frauen sehen hinter dieser Art von Opposition gegen Sharia-Gerichte allerdings manchmal eine rassistische Motivation. Das Muslim Women’s UK Network etwa bezeichnet den Standpunkt von SBS und One Law for All als »islamophob«. Die Gruppe weist herablassende Hilfe durch die Mehrheitsgesellschaft und nichtreligiöse Gruppen zurück. Diese Frauen wollen ihre Religion in allen Lebensbereichen praktizieren, also auch in zivilrechtlichen Angelegenheiten, und wehren sich dagegen, als ohnmächtige Opfer einer rückschrittlichen Tradition gesehen zu werden. Ihrer Ansicht nach sind muslimische Frauen diejenigen, deren Stimmen in der Debatte am meisten zählen sollten. Stattdessen würden sie als Objekt in politischen Auseinandersetzungen benutzt.
Diese Zurückweisung jeder nichtmuslimischen Einmischung erstreckt sich allerdings auch auf muslimische Frauen, deren Kritik an Sharia-Gerichten nicht religiös motiviert ist. Wenn die SBS, vor dem Hintergrund von Verfolgung und Diskriminierung im Herkunftsland, Religion als Privatangelegenheit und die säkularen Gesetze in der britischen Demokratie als etwas Erstrebenswertes ansehen und sich als Teil einer globalen Frauenbewegung verstehen, die gegen patriarchale Unterdrückung in jeglicher Form kämpft, werden sie als islamophob abgetan, da sie ihre Kritik von einem nichtreligiösen Standpunkt aus formulieren. Dieser Argumentation zufolge weiß also nicht einfach die Minderheit selbst am besten, was gut für sie ist, vielmehr wissen es nur diejenigen Mitglieder der Minderheit, welche einer bestimmten Interpretation folgen.
»Sharia-Gerichte und ­parallele Rechtssysteme abzuschaffen, wird nicht alle bestehenden Probleme lösen«, meint Maryam Namazie und fügt hinzu: »Es wird dennoch klar machen, was akzeptabel ist und was nicht, und wird das Engagement für Gendergleichheit unterstreichen.«