Ein Urteil im Prozess gegen Beteiligte der »Operation Condor« in Italien

Der ungesühnte Terror

Ein italienisches Gericht hat einen langjährigen Prozess über im Rahmen der »Operation Condor« in Südamerika begangene Menschen­rechts­verletzungen das Urteil gesprochen. Die meisten Mörder und Folterer der ehemaligen südamerikanischen Diktaturen bleiben jedoch weiterhin unbehelligt.

Als vor zwei Jahren in Rom der sogenannte Condor-Prozess begann, waren die Erwartungen groß: Zum ersten Mal sollte die »Operation Condor« vor einem europäischen Gericht verhandelt werden. Unter diesem Decknamen ­organisierte ein transnationales Netzwerk südamerikanischer Geheimdienste und Militärs in den siebziger und achtziger Jahren die massenhafte Verschleppung und Ermordung politischer Oppositioneller. In dem Prozess sollte neben der Einflussnahme des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA auch die Verstrickung europäischer Regierungen, Nachrichtendienste und neofaschistischer Gruppen in die staatsterroristischen Verbrechen offengelegt werden.
In den an der Operation Condor maßgeblich beteiligten Ländern Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Brasilien und Peru hatten Militärangehörige gegen demokratische Regierungen geputscht und rechtsgerich­tete, autoritäre Regime eingerichtet. Ab Mitte der siebziger Jahre sollte durch den geheimen Krieg der Ordnungskräfte gegen die eigene Bevölkerung jede regimekritische Stimme ausgelöscht werden. Oppositionelle wurden weltweit verfolgt, Mitglieder linker ­Parteien und Gewerkschaften sowie Anhänger der katholischen Befreiungstheologie massenhaft verhaftet, gefoltert und ermordet. Aus den Dokumenten eines 1992 in Paraguay aufgefundenen »Archivs des Terrors« geht hervor, dass im Zusammenhang mit der Operation Condor 400 000 Menschen verhaftet und mindestens 50 000 getötet wurden, über 30 000 weitere verschwanden spurlos. Insbesondere die Angehörigen und Freunde der desa­parecidos (Verschwundenen) kämpfen seit Jahrzehnten um eine transnationale juristische Aufklärung der Verbrechen, da in den betroffenen südamerikanischen Staaten im Rahmen des demokratischen Neuanfangs häufig ­Amnestiegesetze erlassen wurden, die eine Strafverfolgung der Verantwort­lichen schwierig oder unmöglich machen.
Der römische Condor-Prozess hatte Verbrechen an 23 Männern und Frauen italienischer Herkunft zum Gegenstand, die in den siebziger Jahren in Südamerika lebten und im Zuge der geheimdienstlichen Repression verschleppt und ermordet worden waren. Doch trotz eines aufwendigen Ermittlungsverfahrens, das die römische Staatsanwaltschaft bereits 2001 einleitete und über ein Jahrzehnt weiterführte, musste sich letztlich nur eine überschaubare Zahl von Angeklagten wegen Entführung und mehrfachen Mordes vor Gericht verantworten. Viele Verfahren waren eingestellt worden, weil die Beschuldigten in der Zwischenzeit verstorben waren. 
Doch nicht nur deshalb blieb das Urteil, das vorige Woche in Rom verkündete wurde, hinter den Erwartungen zurück. Zwar wurden acht lebenslange Haftstrafen für ranghohe Angehörige der einstigen Militärregime verhängt, unter anderem gegen die früheren Diktatoren von Bolivien und Peru, Luis García Meza Tejada und Francisco Morales Bermúdez. Allerdings ­erfolgten die Urteilsverkündungen in Abwesenheit der Verurteilten, weil diese just zu den wenigen gehören, die bereits in ihren südamerikanischen Herkunftsländern für ihre Verbrechen belangt und in Haft genommen worden waren. Dass das Gericht 19 Freisprüche verkündete, war für die Hinterbliebenen besonders bitter. Uruguays Vizepräsident Raúl Sendic, der zur Urteilsverkündung angereist war, nannte den Ausgang des Verfahrens sehr schmerzlich. Von 14 Angeklagten aus seinem Land war nur der ehemalige Außenminister, Juan Carlos Blanco, für schuldig befunden worden, selbst der seit langem in Italien lebende Jorge Nestor Fernandez Troccoli wurde »aus Mangel an Beweisen« freigesprochen. Er soll als Hauptmann des uruguayischen Marinegeheimdienstes in den siebziger Jahren als »El Torturador« (der Folterer) berüchtigt gewesen sein. Troccoli war der einzige im Gerichtssaal ­anwesende Angeklagte und der einzige, der tatsächlich in Italien hätte inhaftiert werden können.
In der Annahme, durch das weitreichende Amnestiegesetz auf Lebenszeit vor Strafverfolgung geschützt zu sein, hatte Troccoli noch 1998 in einem autobiographischen Rückblick auf die Militärdiktatur freimütig bekannt, als treuer »Staatsdiener« an der geheimdienstlichen »Politik des Verschwindenlassens« beteiligt gewesen zu sein und an »Verhören« mutmaßlicher Aufständischer teilgenommen zu haben. Doch im Jahr 2000 schien sich in Uruguay mit der Einrichtung einer Friedenskommission zur Aufklärung des Verbleibs der »Verschwundenen« ein Umbruch in der Vergangenheitspolitik anzudeuten. Troccoli besann sich daraufhin auf seinen italienischen Urgroßvater, Pietro Troccoli, der wegen seiner heroischen Unterstützung des Befreiungskampfes von Giuseppe Garibaldi in Italien eine gewisse Berühmtheit genießt, und beantragte einen zweiten Pass. Nach ­seiner Ankunft in Italien wurde er zwar zunächst strafrechtlich verfolgt, blieb aber nicht lange in Haft und lebt seit 2007 relativ unbehelligt in der Provinz seiner Vorfahren südlich von Salerno.

Aus den Dokumenten eines 1992  in Paraguay aufgefundenen »Archivs des Terrors« geht hervor, dass im Zusammenhang mit der Operation Condor mindestens 50000 Menschen getötet wurden.

Javier Tassino, ein Sprecher der uruguayischen Organisation »Madres y ­Familiares de Detenidos Desaparecidos« (Mütter und Angehörige der verschwundenen Inhaftierten), kündigte an, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Auch italienische Prozessbeobachter und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen hoffen auf die Revision des Urteils durch höhere Instanzen. Die zur Splitterpartei geschrumpfte Rifondazione Comunista nannte die Freisprüche »beschämend«, es sei außerdem »skandalös«, dass die Rolle des italienischen Geheimdienstes, vor allem seiner klandestinen, neofaschistischen Verzweigungen, im Prozess nicht aufgeklärt worden sei.
Tatsächlich fand der erste europäische Prozess über die Verbrechen der Operation Condor nicht zufällig in Rom statt. Die von den südamerikanischen Geheimagenten verfolgte Stra­tegie zur Ausschaltung Oppositioneller war in Italien erprobt worden. Im Frontstaat des Kalten Kriegs verübten Mitglieder neofaschistischer und geheimdienstlicher Organisationen bereits Ende der sechziger Jahre Terror­akte gegen die Zivilbevölkerung, die anschließend durch die Manipulation von Ermittlungsverfahren der außerparlamentarischen Opposition angelastet wurden. Mit der »Strategie der Spannung« sollte in der italienischen Gesellschaft ein Klima der Angst und Einschüchterung erzeugt und letztlich der Einfluss der nach 1968 erstarkten sozialen Bewegungen sowie der Kommunistischen Partei und ihr nahestehender Gewerkschaften zurückgedrängt werden. Obwohl es bereits in den frühen Nachkriegsjahren Anschläge auf linke Veranstaltungen und gescheiterte Putschversuche neofaschistischer Generäle gab, gilt der Bombenanschlag im Dezember 1969 auf die Mailänder Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana als erste im Rahmen der sogenannten Strategie der Spannung verübte Aktion. Verantwortlich für den Anschlag, bei dem 17 Menschen starben, war die neofaschistische Gruppe Ordine Nuovo. Weitere Anschläge auf Züge und öffentliche Versammlungen sollten folgen. Dennoch ging die Strategie zunächst nicht auf, die linken Parteien konnten sich behaupten und die außerparlamentarischen sozialen Bewegungen hatten weiterhin Zulauf.
Nachdem Salvador Allende 1970 in Chile als Kandidat eines linken Par­teienbündnisses zum Präsidenten gewählt worden war, schien vielen Linken auch in Italien der demokratische Weg zum Sozialismus offen. Dagegen lag der antikommunistischen italienischen Regierungspartei Democrazia Cristiana und ihren nordatlantischen Bündnispartnern alles daran, vergleichbare linke Wahlsiege in Westeuropa zu verhindern. Im September 1973 wurde in Chile gegen Allendes Regierung geputscht, unter der Führung von General Augusto Pinochet eine Militärdiktatur errichtet und die auf den gesamten südamerikanischen Kontinent angelegte Operation Condor eingeleitet. 
Daraufhin änderte sich auch in Italien die Strategie der Spannung: Mit dem Bombenattentat auf eine von kommunistischen und katholischen Gewerkschaften organisierte Kundgebung 1974 in Brescia wurde nicht mehr willkürlich die Zivilbevölkerung, sondern, wie in Südamerika, ganz gezielt die politische Opposition angegriffen. Dass der Anschlag auf der Piazza della Loggia, bei dem acht Menschen getötet und über 100 verletzt wurden, auf eine Zusammenarbeit staatlicher Organe mit Rechtsterroristen zurückzuführen ist, wurde im Sommer 2015 erstmals in ­einem entsprechenden Urteil von der italienischen Justiz bestätigt (Jungle World 39/2015).
Der römische Condor-Prozess hätte an diese Aufklärungsarbeit anschließen können. Doch obwohl nachweislich zahlreiche Verantwortliche der Operation Condor Mitglieder der italienischen Geheimloge P2 waren, die wiederum bis in die achtziger Jahre die Strategie der Spannung unterstützte, trug das Verfahren nicht zu einer Aufarbeitung der transatlantischen Kooperation der geheimdienstlichen Terrornetzwerke bei.