Die Bundesregierung rät, keinen Mindestlohn an Flüchtlinge und Praktikanten zu zahlen

Die Bundesregierung rät zum Dumping

Der Mindestlohn gilt nicht für alle Beschäftigten. Die Bundesregierung möchte dafür sorgen, dass neben ehemaligen Langzeitarbeitslosen, Auszubildenden und manchen Praktikanten bald auch Flüchtlinge und andere Zuwanderer zu den Ausnahmen gehören.

Ausnahmen bestätigen die Regel – das Sprichwort dürfte manche Beschäftigte im Fall des seit zwei Jahren bestehenden gesetzlichen Mindestlohns kaum trösten. Zwar gilt dieser prinzipiell für alle Beschäftigten, das Mindestlohngesetz sieht jedoch zahlreiche Ausnahmen vor. Ehemalige Langzeitarbeitslose, Auszubildende und manche Praktikanten sind beispielsweise von der Vorschrift ausgenommen.
Nach Plänen der Bundesregierung soll die Lohnuntergrenz auch für Flüchtlinge und Zuwanderer gelten. In einem gemeinsamen Papier der Bundesministerien für Arbeit, Finanzen und Bildung wird ausgeführt, dass Flüchtlinge und andere Zuwanderer, die zur Anerkennung ihres Berufsabschlusses eine nachträgliche Qualifikation im Betrieb benötigen, in dieser Zeit kein Anrecht auf eine Bezahlung nach dem Mindestlohngesetz haben. In etwa einem Drittel der Berufsanerkennungsverfahren verlangen die Behörden solche Qualifizierungsmaßnahmen, bevor Flüchtlingen und Zuwanderern die Gleichwertigkeit ihres Abschlusses mit dem entsprechenden hiesigen bescheinigt wird. Die Maßnahmen dauern oft neun Monate oder länger.
Bisher sind zwar Pflichtpraktika, etwa im Rahmen eines Studiums oder der Berufsausbildung, vom Mindestlohn ausgenommen, nicht jedoch betriebliche Nachqualifizierungen. Dem nun bekanntgewordenen fünfseitigen Papier zufolge, das den Titel »Praxis­hinweise zur Anwendung des Mindestlohngesetzes im Kontext der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen« trägt, soll künftig auch die Nachqualifizierung wie ein Pflichtpraktikum bewertet werden. Auf der Grundlage eines solchen Anwendungshinweises, der die Rechtsauslegung der Bundesregierung wiedergibt, kann den Betroffenen auch ohne eine Gesetzesänderung der Mindestlohn vorenthalten werden. »Rechtsänderungen oder Änderungen der Verwaltungs- beziehungsweise Kontrollpraxis sind hiermit nicht verbunden«, schreibt das Arbeitsministerium. Das Papier sei lediglich ein »Bestandteil des Informationsangebots der Bundesregierung«.

Auf der Grundlage des Hinweises der Bundesregierung kann Flüchtlingen auch ohne eine Gesetzesänderung der Mindestlohn vorenthalten werden.

Die Opposition teilt die Rechtsauffassung der Bundesregierung nicht. So kündigte Brigitte Pothmer, die Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik der Bundestagsfraktion der Grünen, bereits an, juristisch überprüfen zu lassen, ob die »Interpretation« der Bundesregierung vom Mindestlohngesetz gedeckt sei. »Sonderauslegungen des Mindestlohngesetzes für Zuwanderer und Geflüchtete darf es nicht geben«, so Pothmer. Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei, hält es für »ein Armutszeugnis, dass der Bundesregierung für die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und Einwanderern nichts Besseres als eine weitere Trickserei beim Mindestlohn einfällt«. Die Regierung schaffe so ein »System des Sozialdumpings«, kritisiert er.
Den Unternehmerverbänden hingegen geht der Vorschlag der Bundesregierung noch nicht weit genug. So fordert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Gleichstellung von Nachqualifizierungen und verpflichtenden Praktika gesetzlich festzuschreiben. Die Pläne der Bundesregierung wiesen jedoch in die richtige Richtung. So äußerte sich ein Sprecher der BDA: »Das ist gut, denn der Mindestlohn würde die Bereitschaft der Betriebe bremsen, solche Anpassungsmaßnahmen anzubieten. Für die Betroffenen würde der Weg in Ausbildung und Beschäftigung dadurch erschwert.«
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) befürchtet eine massenhafte »Umdeklarierung« von Beschäftigten zu »Pflichtpraktikanten«. »Schlimm genug, dass manche Unternehmen gerade Flüchtlinge, die sich mit ihren Rechten noch nicht auskennen, als billige Arbeitskräfte ausnutzen. Nun darf nicht auch noch der Staat ›Lösungen‹ ermöglichen, die unserer Meinung nach nicht durch das Gesetz gedeckt sind, um sogar Flüchtlinge mit Ausbildung vom Mindestlohn auszunehmen«, sagte das DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Eine solche Auslegung des Gesetzes führe dazu, dass die Möglichkeiten zur Umgehung des Mindestlohns größer und unkontrollierbar würden.
Tatsächlich nutzen zahlreiche Arbeitgeber bereits die Ausnahmen im Gesetz, um den Mindestlohn zu umgehen. Die unternehmerische Kreativität kennt dabei kaum Grenzen. So werden mindestlohnpflichtige freiwillige Praktika zu Pflichtpraktika erklärt oder Sachleistungen wie kostenloser Kaffee auf den Lohn angerechnet. Häufig setzen Firmen zudem auf Kettenpraktika, in denen ein freiwilliges Praktikum mit einem Pflichtpraktikum kombiniert wird, um so die Zahlung des Mindestlohns zu vermeiden.
Der DGB sieht in den Plänen eine weiterer Gefahr. »Das kann Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten sein, die gerne mit der Behauptung ›Ausländer nehmen Deutschen die Arbeitsplätze weg, weil sie billiger zu haben sind‹ Stimmung gegen Flüchtlinge machen. Eine solche Debatte sollte auf jeden Fall verhindert werden«, so Körzell. Auch Riexinger warnte jüngst davor, mit einer Ausnahme beim Mindestlohn für Flüchtlinge »den Rechtspopulisten in die Hände« zu spielen. Dass diese Befürchtungen nicht unbegründet sind, zeigt die erste Reaktion der AfD auf die »Praxishinweise« der Bundesregierung. So bemängelte das Bundesvorstandsmitglied Georg Pazderski, dass deutsche Arbeitnehmer nun im »Niedriglohnsektor einen erheblichen Wettbewerbsnachteil hinnehmen« müssten.