Das Buch »Sex, Gott und Kapital«

Konstrukte verhängen keine Todesstrafe

»Manif pour tous« und »Je suis Charlie« können wohl kaum in einen Topf gesteckt werden. Ana Daase kritisiert die Blickverengung in Jule Jakob Govrins Buch »Sex, Gott und Kapital«.
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Als Assemblage oder Gefüge bezeichneten Gilles Deleuze und Félix Guattari ihre philosophische Antimethode des umtriebigen Denkens, das die fragilen, unsteten und vielschichtigen Kontexte, aus denen sich Gegenstände zusammensetzen, berücksichtigen möchte. In ihrem Buch »Sex, Gott und Kapital« sieht Jule Jakob Govrin im Gefüge der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Diskurse hingegen nur eine einzige Kraft am Werk – den antimuslimischen Rassismus. Das Vermeiden von Wider­sprüchen reproduziert hier in antiimperialistischer Manier ein post­koloniales Weltbild, in dem »die anderen« kollektiv viktimisiert werden.
Govrin analysiert Zusammenhänge zwischen dem umstrittenen Roman »Unterwerfung« von Michel Houellebecq und aktuellen reaktionären Diskursen und Massenbewegungen in Frankreich, »Manif pour tous« (französisch für »Demo für alle«), der gegen die Homoehe gerichteten Kampagne rechtsextremer und erzkatholischer Gruppierungen. Die ­Autorin subsumiert auch die Solidaritätskundgebungen unter dem Motto »Je suis Charlie« nach dem islamistischen Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo unter dieselbe Kategorie. Houellebecqs ­Roman wiederum, der am Tag des Attentats erschien, liefere ein »Resonanzbild für antimuslimische Perspektiven«, so Govrin, weil er seine politische Dystopie der Machtübernahme einer muslimischen Partei in Frankreich in bedrohlich naher Zukunft ansiedele und damit der rechten Paranoia einer »Überfremdung« beziehungsweise »Islamisierung« Europas zuarbeite. Die angebliche ­Islamfeindlichkeit von »Unterwerfung«, die sogar schon vor der Ver­öffentlichung eine Debatte ausgelöst hatte, möchte Govrin in einer größeren Konstellation gesellschaftlicher Ereignisse und Entwicklungen diskutieren.
Anknüpfend an Michel Foucault arbeitet sie die Dimension des Sexuellen als entscheidende Funktion rassistischer Identifikation heraus, welche sich derzeit weniger über ­biologistische als über kulturalistische Zuschreibungen herstellt. Das antimuslimische Ressentiment, das durch Abgrenzung vom scheinbar Fremden den Nationalismus mitkonstituiert, speist sich zu einem entscheidenden Teil aus sexualisierten Projektionen. In einer Gesellschaft, in der sexuelle Liberalisierungen mitunter eine Funktion der kapitalistischen Logik darstellen, die auch die Lust unter ihre Zwänge subsumiert und die Verheißung individuellen Glücks durch vermeintlich freie Triebbefriedigung enttäuscht, haben sich auch die rassistischen Projektionen auf den »anderen« modifiziert. Diese Projek­tionen, die Verdrängtes auf den mutmaßlich Fremden übertragen, schreiben diesem nicht mehr in erster ­Linie ein zügelloses und alle Tabus brechendes Sexualleben zu, sondern beneiden ihn unbewusst um seine imaginierten, ursprünglich patriarchalen Strukturen, um stabile Werte und Lebensformen. Govrin bezieht sich auf den Psychoanalytiker Sama Maani, der im antimuslimischen Ressentiment – aber auch in der Verklärung des radikalen Islamismus zum Beispiel durch den linken Anti­imperialismus – den Neid auf dieses Phantasma eines vollen Aufgehens in der Gemeinschaft, das Gegenteil der Vereinzelung der Konkurrenzsubjekte im neoliberalen Kapitalismus, erkennt. Die vorgestellte Umma spiegelt die Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft, in der die beängstigende Ohnmacht der kapitalistischen Individualisierung aufgehoben ist und Antisemitismus und Homophobie unmittelbar tatkräftig werden.
Der Widerspruch, dass diese Imagination der ursprünglichen patriarchalen Gemeinschaft in eine Vorstellung verwoben ist, die Muslime auf exotische Weise sexualisisiert, wird in »Sex, Gott und Kapital« immer wieder aufgemacht, aber nicht weiter ausbuchstabiert. Vielleicht sind Libido und Triebbefriedigung für den auto­ritären Charakter allein in Form der abstrakten Negation des fetischisierten, disziplinierenden Zwangsgefüges vorstellbar und dadurch unauflösbar mit ihm verknüpft.
Auch in Houellebecqs politischer Fiktion erscheint die »Islamisierung« der französischen Gesellschaft, die sich vor allem durch Geschlechterpolitik wie die Einführung der ­polygamen Ehe für Männer auch mit minderjährigen Mädchen, durch den weitgehenden Ausschluss von Frauen aus dem Arbeitsmarkt sowie durch rigide Kleidungsvorschriften vollzieht, als Erlösung aus Depression, westlichem Sinnverlust und Dekadenz. Zugleich verspricht sie eine neu aufflammende Libido, weil der sexuelle Leistungszwang durch die stetige Verfügbarkeit kindlicher Ehefrauen ersetzt wird. Govrin bemerkt mit polemischer Anerkennung, dass der Autor sein Alter Ego François ­diese Sehnsucht nach der unterworfenen Frau ganz unverfroren aus­drücken lässt, anstatt es hinter fadenscheiniger Kulturkritik zu verstecken. Er artikuliert aus der Perspektive ­eines frustrierten Literaturwissenschaftlers in der Midlife-Crisis ­jenes verkappte Begehren, für welches der Islam als Projektionsfläche herhalten muss – eine Darstellung, die man als Bloßstellung der gescheiterten Suche nach Sinn in einer Kultur verstehen könnte, deren ­Autonomieversprechen sich selbst torpedierte und genauso wie die fremde Kultur als übermächtige Natur erscheint. So geht es in dem Buch vielleicht weniger um »die anderen« als um die französische Gesellschaft selbst, deren Teil der Islam eben auch ist, und um die Rückkehr zum Irrationalismus der Religion als ­Konsequenz einer Aufklärung, die – wie Adorno und Horkheimer schreiben – sich in letzter Instanz gegen die Vernunft selbst wendet. Das ­hinderte den Front National freilich nicht daran, sich auf Houllebecqs ­Roman zu berufen, weil er das Schreckensszenario einer drohenden »Überfremdung« Frankreichs und Europas heraufbeschwöre.
Auf diese politischen und diskursiven Querverbindungen kommt es Govrin an, die sehr gute Recherchen liefert und sich nicht für eine rein ­literaturwissenschaftliche Analyse interessiert, sondern in »Unterwerfung« den politischen Akt sieht, »mit beiden Händen in die Wunde der ­gespaltenen Gesellschaft zu greifen, um sie weiter auseinanderzureißen«.

Für Govrin scheint die Unterscheidung zwischen Staaten, die genderpolitische Fortschritte erreicht haben, und solchen, in denen auf homosexuelle Handlungen härteste Strafen stehen, ein bloßes Konstrukt zur Reproduktion westlicher Herrschaft zu sein.

Bei ihrer Kritik verfährt Govrin aber zu wenig differenziert. Sie bringt den Roman, die seit 2012 aktive ­reaktionäre Bewegung »Manif pour tous« und die Reaktion auf die islamistischen Morde an Redakteurinnen und Redakteuren von Charlie Hebdo-auf einen gemeinsamen Nenner, der heißt: antimuslimischer Rassismus. Die Kontextualisierungen dieser völlig unterschiedlichen Phänomene sind auf der einen Seite sehr vage, denn anstatt konkrete Zusammenhänge herzustellen, ist oftmals bloß von »Resonanzräumen«, »Nähr­böden« oder »Kraftlinien zwischen den Ereignissen« die Rede. Auf der anderen Seite ist dieses Verfahren essentialisierend, weil es sowohl Proteste gegen islamistischen Terror als auch die Verteidigung des Säkularismus mit antimuslimischem Rassismus identifiziert, für den die Religion höchstens ein Alibi ist. Govrin schreibt, die xenophobe Distinktion würde bei »Je suis Charlie« als inkludierende Solidaritätsbekundung kaschiert, und blendet dabei völlig aus, dass diese Bekundungen eine Erwiderung auf den Terror waren und dass es folglich auf der Weltbühne auch noch andere Akteure gibt als westliche, antimuslimische Rassisten.
Govrins Rundumschlag ist bezeichnend für vermeintlich herrschaftskritische Theorien, die die Ambivalenz in der Kritik der Aufklärung nicht aushalten, die Aufklärung somit bloß abstrakt negieren können und keinerlei Vorzüge eines säkularen Universalismus erkennen, der das Individuum gegen die Zumutungen der Religion verteidigt. So wird Antirassismus mit dem Respekt vor Kultur oder Religion verwechselt, vor deren Praktiken eine Menge Menschen fliehen, die dann im Zweifelsfall an ihrem Zufluchtsort nicht nur rassistische Anfeindungen erfahren, sondern auch mit diesem Respekt vor einer ihnen zugeschriebenen Kultur belästigt werden. Man müsste, wie Maani schreibt, nicht das Kollektivsubjekt Islam beschützen, sondern Individuen – und das sowohl vor den Zumutungen des Rassismus als auch vor denen der aufgezwungenen Religion.
Doch nicht nur Houellebecq, ­sondern auch linke Theoretikerinnen und Theoretiker, die sich nebenbei bemerkt etwas peinlich berührt fühlen könnten, weil sie die konservative Haltung des bis dato in der Szene ­gefeierten Autors erst dann erkennen, wenn er den Islam thematisiert, ­sehnen sich nach überschaubaren Verhältnissen. So wird auch in »Sex, Gott und Kapital« unterschiedslos jede Kritik an Erscheinungsformen des Islam als rassistisch abgestempelt, auch wenn es sich um Proteste gegen radikalen Islamismus handelt. Dass es diesen gibt, genauso wie es die Verfolgung von Homosexuellen in muslimischen Staaten gibt, ist kein westliches Konstrukt, wie es das Konzept des »Homonationalismus« nahelegt, auf das sich Govrins Verbindung von sexuellen und ­nationalistischen Diskursen stützt. Genauso real ist es, dass es nicht nur in Frankreich virulenten und selbst­verständlich zu bekämpfenden Rassismus gegen Menschen gibt, die als Muslime identifiziert werden. Dies gelingt aber nicht, wenn man Ideologiekritik, wie die am politischen ­Islam, aber auch an Religion überhaupt, gleich mitbekämpft. Das (post-)kolonialistische othering, das kritisiert werden soll, wird auf diese Weise ungewollt weitergetrieben, indem »der Islam« zum schützenswerten Subjekt mutiert und Menschen mit ihm identifiziert werden, anstatt die falsche Verknüpfung von Herkunft und religiöser Überzeugung aufzulösen. 
Wenn dies aber auf der Strecke bleibt, erscheinen auch andere notwendige Differenzierungen ver­dächtig. Im Sinne der israelfeinlichen queer theory-Stars Judith Butler und Jasbir Puar, die in »Sex, Gott und Kapital« zitiert werden, scheint für Gov­rin die Unterscheidung zwischen Staaten, die genderpolitische Fortschritte erreicht haben, und solchen, in denen auf homosexuelle Handlungen härteste Strafen stehen, ein bloßes Konstrukt zur Reproduk­tion westlicher Herrschaft zu sein. Natürlich erledigt sich mit der Einsicht in die Faktizität von Differenzen verschiedener Gesellschaftsformationen nicht die Notwendigkeit einer Kritik an Homophobie auch dort, wo Homosexuelle nicht die Todesstrafe zu ­befürchten haben. Eine solche Kritik leistet man aber nicht, wenn man jede Kritik an nichtwestlichen Gesellschaften pauschal des Rassismus verdächtigt und es beispielsweise bei dem Verweis auf »erzkatholische Tendenzen im Westen« nicht einmal für nötig hält zu bemerken, dass ­diese auf rechtlicher Ebene eben nicht bindend sind.
Die Autorin schließt ihr Buch mit dem Satz: »Es bleibt zu hoffen, dass der totgesagte Gott wieder in die Gruft hinabsteigt und dass sich die Ent­täuschung über die gescheiterten Glücks- und Gleichheitsversprechen des Neoliberalismus nicht in Glaubensfragen verzetteln, sondern dagegen richten, was die Krise hervorrief: das Kapital.« Um dieses sicherlich wünschenswerte Entwicklung voranzutreiben, müsste man den Widerspruch aushalten und in die Debatte einbringen, dass diese vermeintlichen Glaubensfragen Resultate des modernen Kapitalismus sind – und dass zugleich die Möglichkeit, den Glauben höchstens als ­Privatangelegenheit zu betrachten, auf einer Errungenschaft eben des Kapitalismus beruht, nämlich auf der Religionsfreiheit (was auch Freiheit von Religion bedeuten kann) und dem Säkularismus.

Jule Jakob Govrin: Sex, Gott und Kapital – Michel Houellebecqs Unterwerfung ­zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken. Edition ­Assemblage, Münster 2016, 96 Seiten, 9,80 Euro