Die neuen »Gilmore Girls«

Lass uns wieder Freundinnen sein

Die neuen »Gilmore Girls« blicken nostalgisch in die Zukunft.

In den Jahren um die Jahrtausendwende wurden einige großartige Serien produziert, die, obwohl durchaus populär, niemals zum quality television gezählt wurden. Man schaut zumeist in verständnislose Gesichter, wenn man freudig »Buffy the Vampire Slayer« oder »Sex and the City« erzählt. Ist das nicht Mädchenkram? Auch im Fernsehen gibt es die Tendenz, ernst daherkommenden Formaten einen Platz in der Hochkultur zu gewähren und sie als anspruchsvoll zu adeln, während Serien, die für ein weibliches oder homosexuelles Publikum produziert sind, als Unterhaltung abgetan und nicht ernst genommen werden.
Dieses Schicksal ereilte auch »Gilmore Girls«. Die Serie, die in den USA von 2000 bis 2007 lief, ist als kitschig und schrill verschrieen. Es geht um eine Mutter-Tochter-Beziehung, die eher nach dem Beste-Freundinnen-Muster funktioniert. Bei Netflix ist im November eine vierteilige Fortsetzung erschienen, die ironischerweise gerade für ihre Ernsthaftigkeit kritisiert wurde, obwohl sie genau deshalb sehenswert ist.
Die Familie ist ein wichtiger Topos des Fernsehens der neunziger Jahre. Die Erfinderin der Gilmore Girls, Amy Sherman-Palladino, hatte schon über mehrere Staffeln hinweg für die Sitcom »Roseanne« geschrieben. Diese handelte von der Arbeiterfamilie Connor. Der Fokus lag auf dem täglichen Überleben der Angehörigen des White Trash. In »Gilmore Girls« sieht man hingegen einen Single-Mom-Haushalt, aber auch eine Patchwork-Familie, die aus einer ganzen Kleinstadt besteht.
Lorelai Gilmore (Lauren Graham) wurde mit 16 schwanger und floh mitsamt dem Baby aus ihrem privilegierten Elternhaus, was ihre Mutter Emily (Kelly Bishop) ihr ungebrochen übelnimmt. Mit ihrer Tochter Rory (Alexis Bledel) lebt sie in Stars Hollow in Connecticut und leitet ein kleines Hotel. Rory, die trotz ihrer Bibliophilie und ihres Ehrgeizes nicht wirklich als Freak durchgeht, will unbedingt auf eine Privatschule gehen, um später Journalismus in Harvard studieren zu können. Das Schulgeld kann Lorelai nicht selbst aufbringen, deshalb wendet sie sich an ihre reichen Eltern, vor denen sie einst geflohen war. In der ersten Folge entsteht so das Handlungs­gerüst der Serie: Als Gegenleistung dafür, dass die Großeltern die Schule bezahlen, kommen die Tochter und Enkeltochter jede Woche zum Essen, zum sogenannten Friday Night ­Dinner. Dem alten System der Familie mit seinen Abhängigkeiten und tiefsitzenden Kränkungen kann man zwar temporär entkommen, es holt einen aber immer wieder ein. Die ­Serie spielt all die daraus entstehenden Konflikte exemplarisch durch.
Der Gegenpol zum konservativen Elternhaus ist Stars Hollow, der Ort, in den Lorelai als junge Frau mit ihrer Tochter flieht und in einem kleinen Hotel arbeitet. Stars Hollow steckt voller exzentrischer Figuren und absurder Traditionen. Das linksliberale Amerika versammelt sich hier. Exemplarisch stehen dafür etwa Miss ­Patty, eine gealterte Tanzlehrerin vom Broadway, und Kirk, der in jeder ­Folge einem anderen Beruf und einer anderen Macke nachgeht. Das örtliche Diner gehört dem immer schlecht gelaunten und heimlich in Lorelai verliebten Luke und die beste Freundin von Rory ist Lane, deren großer Wunsch es ist, Schlagzeug in einer Punkband zu spielen, und die sich ständig neue Ausreden dafür einfallen lassen muss, um diese Passion vor ihrer hochreligiösen Mutter geheimzuhalten.

Die vier neuen Folgen stellen eine von der Gegenwart aufgezwungene Korrektur an den ersten sieben Staffeln dar. An die Stelle des fröhlichen Plapperns der frühen Zweitausender sind ernstere Dialoge getreten. 

In den ursprünglichen sieben Staffeln der Serie passiert eigentlich nicht viel. Es herrscht Wiederholungszwang. Natürlich gibt es eine Handlung, aber keine dramatischen Wendungen oder tiefgreifenden Entwicklungen der Figuren. Es geht hier nicht primär um eine Geschichte, sondern um das Sprechen über etwas. Alles, was in »Gilmore Girls« passiert, geschieht, damit darüber geredet und mit Zitaten und Referenzen um sich geschmissen werden kann. Tonnen von Büchern, Filmen und Musik werden zitiert, rezitiert, als Vergleich herangezogen, besprochen, verulkt oder in die Handlung eingebaut. Die Serie gerät zu einem Bingo-Spiel für Popkultur, zu einem endlosen Kreuzworträtsel, dessen Lösungen gar nicht so einfach zu verstehen sind, da die Figuren rasend schnell sprechen und sich im Zweifelsfall dazu noch in minutenlangen Szenen ohne Schnitt (im sogenannten, für die Serie typischen Master Shot) durch die Kulisse bewegen. Rory und Lorelai sind Universalgelehrte. Sie wissen, wie man sich schminkt, welche Band gerade aktuell ist, haben politische Positionen und können endlose ­Szenen aus Filmen nachsprechen. All das widerspricht sich nicht. Die Serie atmet den Geist der gerade vergangenen neunziger Jahre, in denen Kunst, Popkultur und Politik keine getrennten Sphären waren, sondern Hand in Hand gingen.
Die vier neuen Folgen stellen eine von der Gegenwart aufgezwungene Korrektur an den ersten sieben Staffeln dar. An die Stelle des fröhlichen Plapperns der frühen Zweitausender sind ernstere Dialoge getreten. Rory arbeitet als Journalistin, der die ­Themen fehlen und die sich von Job zu Job hangeln muss. Lorelai hat das Gefühl, etwas zu verpassen und kommt trotz Erfolg und Partnerschaft nicht zur Ruhe. Und Emilys Mann Richard, der Patriarch der ­Familie, ist gestorben, was seine Frau lebensuntüchtig zurück lässt. Es sind feministische Erzählungen über drei typische Modelle weiblicher Existenz, die allesamt in der (privaten oder den äußeren Umständen geschuldeten) Krise stecken und zu deren Überwindung die alten Rezepte nicht mehr ausreichen. Die neue Form der Krisenbewältigung, die Selbst­findung, schlägt aber auch nicht an. 
Das Leben der Gilmores ist ein Leben in der Nostalgie. Die Unmöglichkeit, in der Gegenwart nostalgisch zu sein, wird in den neuen Folgen satirisch kommentiert. Statt des Plauschs im örtlichen Diner hört man das Klappern von Laptop-Tastaturen, der örtlichen Zeitung droht das Aus und Lorelais gemütliches Inn muss sich vergrößern und modernisieren, um überleben zu können. Wenn in den Kritiken im Feuilleton nun steht, ­diese Handlungsstränge seien düster, dann spiegelt sich in dieser Wortwahl der regressive Wunsch, in Stars Hollow solle doch bitte alles so schön bleiben, wie es war. Aber das ist nicht möglich. 
Statt die Referenzen in Hollywood oder in einem Jane-Austen-Roman zu suchen, wird »Gilmore Girls« selbst zum Material für die Zitatschlacht. Munter werden kleinste Erzählungen aus der ursprünglichen Serie in den neuen Folgen thematisiert, selbst die winzigsten Nebenfiguren tauchen wieder auf. Man verhält sich nostalgisch und die Erinnerungen, die ­dabei aufkommen, sind zwangsläufig nicht nur schöner Art. Die Grundkonflikte, zum Beispiel zwischen Lorelai und Emily, sind immer noch die gleichen. Aber ohne die Erinnerung, ohne das Bewahren, ist keine Zukunft zu machen. Die Serie bleibt nicht bei einem »Früher war alles besser« stehen. Sie ironisiert stattdessen die Erwartungen des Publikums, indem sie einerseits den alten Ort wiederauferstehen lässt und ­andererseits Fallen des heutigen Lebens einbaut, die in Stars Hollow ­allesamt wie Fremdkörper wirken. 
Die letzte Folge endet mit einem wuchtigen Cliffhanger, der die Vorgeschichte der ersten Staffel wieder aufnimmt. Der Kreis schließt und öffnet sich zugleich. Vielleicht ­können uns die Gilmore Girls lehren, nicht nostalgisch in die Vergangenheit, sondern nostalgisch in die Zukunft zu blicken.