Ein Dorf für ausgesetzte Kinder in Marokko

Kultur für »weggelegte« Kinder

In Marokko werden nach offiziellen Angaben jedes Jahr rund 12000 Kinder ausgesetzt. Der Schweizer Hansjörg Huber schuf in der Nähe von Marrakesch ein Dorf für diese Kinder. Mit Hilfe von Bildung, Kunst und Kultur möchte er ihr Selbstwert­gefühl stärken, denn in vielen Regionen werden sie immer noch stigmatisiert.

Die Tanzschule liegt in Gueliz, dem modernen Teil von Marrakesch. »Zieht eure Schuhe aus und kommt in den großen Saal«, ruft die Gymnastiklehrerin Anna. Elf Kinder im Alter von einem bis fünf Jahren und drei Mütter folgen ihrer Aufforderung. Französische Popmusik tönt aus den Lautsprechern, während die Kinder durch den Saal rennen. Nach dem Aufwärmtraining setzen sich alle auf den Boden. Anna legt ein langes Seil quer durch den Raum und balanciert graziös darüber. »Jetzt seid ihr dran.« Eine Fünfjährige mit Pferdeschwanz möchte es als Erste versuchen. »Tatarata – ich präsentiere euch die große Seiltänzerin Laila*«, ruft Anna theatralisch. Das kleine Mädchen läuft langsam mit ausgebreiteten Armen über das Seil. Begleitet von Bravorufen und dem Klatschen des Publikums gelingt ihr der Balanceakt. Die junge Seiltänzerin tritt stolz zur Seite und genießt den Applaus sichtlich.
Es sind keine gewöhnlichen Kinder, die hier jeden Mittwochnachmittag zum Bewegungs- und Tanzunterricht kommen. Sie kommen aus einem Kinderdorf, rund 30 Kilometer von Marrakesch entfernt. Hier leben zurzeit 41 Kinder im Alter von einem Monat bis acht Jahren. 59 weitere sollen bald hinzukommen. Es sind Kinder, die niemand haben wollte. »Kinder der Schande«. Ihr Start ins Leben verlief denkbar ungünstig. Fast alle wurden nach der Geburt abgegeben. Sie landeten in Decken gewickelt vor Polizeistationen oder Moscheen. Manche von ihnen fand man im Müll. Meist sind es Kinder ­lediger Mütter, die ihr Baby aussetzen, weil die Gesellschaft keinen unehelichen Nachwuchs akzeptiert. Nach offiziellen Angaben werden in Marokko jedes Jahr rund 12 000 Kinder ausgesetzt. Die Dunkelziffer ist wohl weit höher. Wer die Babys findet, bringt sie in eine der Auffangstationen des Landes, die sogenannten Kafalas. Die aber sind überfüllt. Für individuelle Förderung, Spiel und Spaß bleibt hier keine Zeit. Vor allem aber fehlt es an Zuneigung.
Der Schweizer Hansjörg Huber erfuhr von diesen Kindern und wollte etwas tun. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Jeanette* schuf er ein Kinderdorf. Er kaufte ein Grundstück mitten in der Pampa und verwandelte es in ein Zuhause für »weggelegte« Kinder. Anfangs finanzierte er alles selbst, gab die Hälfte seines Vermögens her, um sein Vorhaben zu realisieren. Der Baubeginn war im Oktober 2012, drei Jahre später zogen die ersten Bewohner ein. Das zehn Hektar große Gelände des Dorfs liegt etwa 30 Kilometer südlich von Marrakesch. Neben zwölf Wohnhäusern soll es bald schon einen Kindergarten, eine Schule, einen Spielplatz, eine Krankenstation und einen Bauernhof umfassen. Dabei schottet sich das Dorf nicht ab – im Gegenteil, Huber wünscht sich einen lebendigen Austausch zwischen Kinderdorf und Umgebung. Er setzt auf Integration gegen die Stigmatisierung.

Ein Dorf der Visionen

Seinen Schützlingen schenkte er weit mehr als ein Zuhause. Er möchte, dass sie von Tanz, Musik, Theater, Fotografie und Malerei umgeben sind, dass sie mehrsprachig aufwachsen, dass sie erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. »Wir wollen aus unseren Kindern stolze und starke Menschen machen, die sich nicht er­drücken lassen, nur weil sie keine Eltern haben«, sagt er mit lauter Stimme. »Kinder lediger Mütter werden in der marokkanischen Gesellschaft stigmatisiert. Sie müssen besonders stark sein, sonst gehen sie unter. Wir müssen durch unsere Erziehung den fehlenden Familienstolz ersetzen. Unsere Kinder sollen später sagen können: Ich spreche drei Sprachen, ich spiele ein Musikinstrument, ich kann tanzen – und was kannst du?«
Huber ist dünn und drahtig. Er trägt Jeans, eine Daunenjacke und eine rote Kappe mit dem Schweizer Kreuz. Sein Gesicht ist von Sonne, Wind und der Zeit geprägt. Der 70jährige redet schnell und viel. Mit ausdrucksstarker Gestik unterstreicht er die Begeisterung für sein Projekt. Der Unternehmer hat viele Ideen. Später will er eine praktische Berufsausbildung nach Schweizer Vorbild entwickeln, den 18jährigen etwa eine Lehre als Schreiner oder Metallbauer ermöglichen. Er möchte Musiklehrer ins Dorf holen, die die jungen Bewohner unterrichten, und ein Atelier eröffnen, in dem Künstler aus der Umgebung die Kinder anleiten. Auf dem Gelände, größer als 15 Fußballfelder, gibt es genügend Platz.
Täglich wirbt er für sein Projekt. Er klopft an Türen der Regierung und wohlhabender Bürger. Er führt Gruppen durch das Kinderdorf. Er holt Firmenchefs persönlich vom Flughafen ab, um sie ins Dorf zu bringen, und hofft auf Großspenden. Wohl hundertfach hat er seine Geschichte erzählt. »Ich habe schon seit 50 Jahren eine Sensibilität für die Schwachen. Wieso hat er nichts und ich habe alles?« Diese Frage beschäftigte Huber spätestens, seit er als 22jähriger ein Kinderdorf in der Schweiz besuchte. »Da wusste ich, eines Tages möchte ich etwas Ähnliches errichten.« Nachdem er seine Karriere in der Versicherungsbranche beendet hatte, war es so weit. 2012 begann er sein Projekt. In Marokko, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und jüngst in Spanien wurden Vereine und Stiftungen zur Unterstützung gegründet. Jetzt will Huber sein erstes Dorf fertigstellen – und plant bereits den Bau von zehn weiteren. »Meine restliche Lebenszeit gehört den Kindern«, sagt der dynamische Mann, der mit fünf Stunden Schlaf täglich auskommt.
»Wir können nicht den ganzen Tag am Pool liegen, wir wollen etwas tun«, ergänzt seine Lebensgefährtin Jeanette*. Auch sie hat sich ganz der neuen Aufgabe verschrieben. Die 68jährige ist groß und schlank. Das lange blonde Haar hat sie vorne mit einer Spange zusammengefasst. Ausdrucksstarke Augen blicken aus einem fein geschnittenen Gesicht. Jeanette arbeitete als Model und später als Immobilienentwicklerin. Mittlerweile widmet sie ihre Zeit hauptsächlich dem Kinderdorf. »In Marokko sind wir auf das Schicksal der ausgesetzten Kindern gestoßen und dann von Zürich nach Marrakesch gezogen«, erzählt sie. »Viele der Kinder sind ganz steif und verängstigt, wenn sie zu uns kommen. Manche reden am Anfang nicht. Es ist schön zu sehen, wie sie im Laufe der Zeit auftauen und sich gut entwickeln.«

Unterricht in der »crèche«, einer Mischung aus Kindergarten und Vorschule

Hier tragen Häuser Namen

Drei Häuser im Dorf sind bereits fertiggestellt. Hier wohnen zurzeit 41 Kinder mit ihren »Müttern«. Die Häuser tragen aussagekräftige Namen, etwa La Fierté (der Stolz), L’Amour (die Liebe) oder Le Bonheur (das Glück). »Hier seid ihr willkommen. Ihr habt ein Recht auf Glück, Stolz und Liebe, auch wenn euch niemand wollte«, so die indirekte Botschaft an die Bewohner.
»Niemand hat sich auf die Geburt dieser Kinder gefreut«, sagt Huber. »Viele der leiblichen Mütter wurden vergewaltigt und haben versucht abzutreiben. Die Kinder sind bereits traumatisiert, noch bevor sie auf die Welt kommen.« Die Lebensgeschichten seiner Schützlinge sind meist schwer zu ertragen. Beispielsweise die der anderthalbjährigen Mona*. Ihre Mutter wurde als junge Frau vom eigenen Bruder geschwängert. Nachdem die Familie diesen zur Rede gestellt hatte, erhängte er sich in der Scheune. Der Geburtstag des Kindes war gleichzeitig der Todestag ihres Vaters.
Die achtjährige Alia* ist das älteste Kind im Dorf und besucht die Schule der nahegelegenen Kleinstadt Tahannout. »Das ist mein Zuhause«, sagt sie und deutet auf das Haus mit dem Namen Le Bonheur. Der traditionelle rotbraune Verputz, eine Mischung aus Erde, Lehm, Sand und Stroh, leuchtet in der Sonne. Alia öffnet die Tür. Drinnen toben ihre acht Dorfgeschwister im Alter von zwei bis fünf Jahren über die Sofalandschaften im Wohnzimmer. Spielzeug liegt verstreut auf dem Teppich. Auf dem Herd brodelt Harira, die traditionelle marokkanische Suppe. Im Kamin knistert ein Feuer. Hanan*, eine von drei »Müttern« des Hauses, hat sich die dreijährige Amira* mit einem Tuch auf den Rücken gebunden und putzt den Boden. Multitasking ist gefragt. Um sieben soll es Abendbrot geben.
Die »Mütter« kommen meist aus den umliegenden Dörfern. »Wir rekrutieren sie mit größter Sorgfalt. Sie sind nicht nur wichtige Bezugspersonen, sondern auch Bindeglied zur traditionellen Gemeinschaft«, sagt Huber. Auch die »Mütter« werden geschult, bekommen etwa eine Ausbildung in Gesundheitsfürsorge und Hygiene.

Zweisprachiger Unterricht in der Vorschule

In Le Bonheur wohnen neben Alia die Zwei- bis Fünfjährigen. Jeden Morgen besuchen sie die dorfeigene crèche, eine Mischung aus Kindergarten und Vorschule, die sich links vom Eingang des Dorfs befindet. »Ich habe die crèche entwickelt, damit die Kinder von Anfang an gefördert werden und später in der Schule gut zurechtkommen«, sagt der Gründer.
Ein kühler Januarmorgen. Der Wind pfeift den Kindern um die Nasen. Die Rucksäcke gepackt und in dicke Jacken gemummelt stapfen sie los. Vormittags von zehn bis zwölf und dann wieder von 15 bis 17 Uhr findet der Unterricht statt. Den Kiesweg entlang, vorbei an Oliven- und Orangenbäumen, nähert sich die Neunergruppe ihrem Ziel. »Bonjour«, sagt die Leiterin der crèche. Im Raum hängen Kinderzeichnungen, Bäume aus Pappe und bemalte Tücher. Wochentage und Monate wurden auf Arabisch und Französisch in großen Lettern an die Wand gemalt. Die Ankömmlinge setzen sich auf die kleinen Holzschemel rund um den Plastiktisch. »Donnerstag, der 19. Januar«, steht auf Französisch auf der Tafel. Welchen Wochentag haben wir heute? »Aujourd’hui c’est jeudi« (heute ist Donnerstag), antwortet der vierjährige Ayoub*. »Bravo!« lobt die Leiterin. Dann wiederholt sie mit der Gruppe Wochentage und Monate auf Französisch und Arabisch.
»Fremdsprachen sind der Zugang zu Kommunikation und Kommunikation bedeutet Zugang zum Wissen«, sagt Huber nach dem Unterricht. »Später müssen sich die Kinder in einer globalisierten Gesellschaft zurechtfinden.«

Ein Theater steht im Zentrum

Schon von Weitem sieht man die Silhouette der Bauten. Die schneebedeckten Gipfel des Atlasgebirges bilden die Kulisse des Dorfes. Ein Wächter öffnet das schlichte Holztor. Dann steht man vor einem quaderförmigen Haus, der Galerie des Kinderdorfs. Im Inneren hängen rund 200 Bilder, Malereien aus dem 16. Jahrhundert neben signierten Fotografien sowie Werken abstrakter Kunst. Alles stammt aus Hubers Privatsammlung. »Das waren mal meine Bilder, ich habe sie dem Kinderdorf geschenkt. Ich verkaufe sie und der Erlös fließt in unser Projekt«, sagt Huber.
Kunst begleitet den Besucher fast im ganzen Dorf. Künstler haben die von Stein ummantelten Fresken gestaltet, die die Auffahrt zum Wohnbereich säumen. Sie führen zum Amphitheater mit 300 Plätzen, dem Zentrum des Dorfs. Es ist die Bühne von Geschichtenerzählern, Schauspielern und Musikern. Kürzlich fand ein Konzert statt. »Wenn ein dreijähriges Kind einem Geigenkonzert lauscht, entstehen Träume«, sagt Huber. »Wir schenken unseren Kindern Visionen!«

* Namen von der Redaktion geändert.
 Weitere Informationen auf www.kinderdorf-marrakech.de