Der Film »Neruda«

Auf der Flucht

Der Film »Neruda« zeigt Verfolgung und Flucht des chilenischen Dichters und Nationalhelden Pablo Neruda in den Jahren 1948/49.

Im Flur vor dem Sitzungssaal der zweiten Kammer des chilenischen Parlamentes drängt sich eine Gruppe von Menschen: Rauchende Männer in Anzügen, auch einige Frauen. Pablo Neruda (Luis Gnecco) eilt in Richtung Toilette, doch die ist selbst wieder ein kleiner Debattensaal. Es kommt zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen Neruda und einem konservativen Senator, der ihm Vaterlandsverrat wegen seiner Kritik an der Armee vorwirft: Neruda vertrete doch nur die Interessen der Sowjetunion und versuche, Chile zu destabilisieren. Ob Neruda kriminell sei, wo er doch seinen Namen Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto in Pablo Neruda geändert habe? Senatoren der KP Chiles verteidigen Neruda empört.
Im Sitzungssaal geht es im Januar 1948 ebenso hoch her, Senator Neruda kann seine Rede nur unter lauten Zwischenrufen beenden. Scharf kri­tisiert er Präsident Gabriel González Videla (Alfredo Castro): »Ich klage den Präsidenten der Republik an, von dieser Tribüne Gewalt ausüben zu lassen, um die gewerkschaftlichen Organisationen zu zerstören!« Zu diesem Zeitpunkt sind, das zeigt der Film, viele Gewerkschafter und Mitglieder der KP bereits verhaftet. Auf sie wartet im Norden Chiles das Gefangenenlager Pisagua in der Atacamawüste – geleitet von dem jungen Armeeoffizier Augusto Pinochet.
Auch Neruda soll nicht entkommen. Im Februar 1948 erkennt das Obersten Gericht dem Senator das Mandat ab, ein Haftbefehl wird erlassen. Im Film empfängt Präsident González den melancholischen Polizeiinspektor Óscar Peluchonneau (Gael García Bernal) und trägt ihm auf, Neruda zu verhaften. »Sie kennen doch Neruda?« – »Nein, Herr Präsident!« – »Aber sie müssen ihn doch kennen!« – »Jawohl, Herr Präsident!« Peluchonneau kommt im Verlauf einer knapp anderthalbjährigen Verfolgungsjagd Neruda mehrmals sehr nahe, findet aber statt des Gesuchten lediglich von ihm signierte Bücher, die der Polizeiinspektor tatsächlich mit in seine kleine Wohnung nimmt und liest. Das erste dieser Bücher wartet auf Peluchonneau, als er eines Morgens mit 300 Polizisten anrückt, um Neruda in Santiago zu verhaften. 13 Monate lang lebt Neruda unerkannt in einem Dutzend Wohnungen zwischen Santiago de Chile und Valparaíso, in denen die verbotene, aber gut organisierte KP Unterschlupf für ihn organisiert hatte. Im Februar 1949 überquert Neruda schließlich im kaum besiedelten Süden Chiles zu Pferd und über unwegsame Andenpässe die Grenze nach Argentinien.
Über weite Strecken des Films fungiert der Verfolger Peluchonneau als Ich-Erzähler. So wird »Neruda« von einem absurden, befremdlichen Kommentar begleitet, der von den Handlungen und den Dialogen zwischen den Verfolgten – Neruda und seine Lebensgefährtin, die Malerin Delia del Carril (Mercedes Morán) – gebrochen wird. Die Ausstattung des Films ist sehr durchdacht, im Vordergrund aber stehen die schauspielerischen Leistungen. Luis Gnecco, der dem von ihm gespielten Schriftsteller verblüffend ähnlich sieht, hat sogar die Intonation, mit welcher Neruda seine Gedichte vortrug, perfekt imitiert. Der bildästhetische Kontrast zwischen den teilweise recht dunklen Wohnungen sowie den nächtlichen heimlichen Kurzausflügen der Verfolgten einerseits und dem taghellen Treiben auf den Straßen andererseits verstärkt die Intensität des Gezeigten. Zwischen den ­Zeitebenen und den Handlungsorten wird munter hin- und hergesprungen, der souveräne Schnitt (Hervé Schneid) und die selten in einer ­Totalen stillstehende, meist in Bewegung halbnah an den Protagonisten filmende Kamera (Sergio Armstrong), die sie umkreist, mit ihnen mitgeht, mitläuft, setzen die Verfolgungsjagd meisterhaft in Szene. Die Jagd währt anderthalb Jahre, während derer Pablo Neruda große Teile seines zentralen Werkes »Canto General«, des »Großen Gesangs«, schreibt. In jeder Fluchtwohnung klappert eine Schreibmaschine, werden Gedichte ins Reine geschrieben; unterdessen jagt der ­Polizeiinspektor im Auto durch die Straßen.
Jener »Canto General«, eine großartige Beschreibung der Geschichte sowie der Flora und Fauna Lateinamerikas, umfasst 15 000 Verse in 231 Gedichten in 15 Kapiteln, chan­gierend zwischen Kampfgedichten und Naturschilderungen, und sollte Neruda zum bekanntesten Dichter Chiles, ja Lateinamerikas machen. 1971 erhielt er den Literaturnobelpreis nicht zuletzt für den »Canto General«. In seiner Dankesrede erinnerte sich der Dichter an die Flucht im Jahr 1949: »Es war eine nebelverhangene und geheimnisvolle Natur, mit einer wachsenden Bedrohung von Kälte, Schnee und Verfolgung.« Die Preisverleihung fiel mitten in eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung in Chile, die mit dem Militärputsch von Augusto Pinochet am 11. September 1973 abrupt endete. Zwölf Tage später starb Pablo Neruda, der bis zu seinem Tod KP-Mitglied war und 1970 sogar als Präsidentschaftskandidat für die Partei antreten sollte. Er verzichtete auf seine Kandidatur und unterstütze stattdessen im Rahmen der linken Einheitsbewegung Unidad Popular den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende, der drei Jahre später blutig ­gestürzt wurde.
Bis heute ist Neruda in Chile für Linke eine Ikone, jeder kennt seine ­Gedichte und seinen Lebenslauf. Die Memoiren des Dichters sind ein vielgelesenes Buch. So entschied sich Pablo Larraín zusammen mit dem Drehbuchautor Guillermo Calderón dafür, kein Biopic zu drehen, sondern eine besonders bewegte Phase im Leben von Neruda herauszu­greifen: »Wir haben versucht, einen nerudianischen Film zu drehen, ein falsches Biopic, zu dem uns Neruda selbst provoziert hat«, sagte Larraín im Mai 2016 bei der Vorstellung des Filmes beim Festival von Cannes.


Neruda (Chile/Argentinien/Frankreich/Spanien 2016). Regie: Pablo Larraín. ­Darsteller: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán. Filmstart: 23. Februar