Gespräch mit Mária Vásárhelyi über die Medienpolitik der ungarischen Regierung

»Fidesz hat eine sehr bewusste Medienpolitik betrieben«

Mária Vásárhelyi ist Soziologin und war leitende ­Forscherin der Abteilung Kommunikationstheorie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ende 2010 wurde ihr Arbeitsplatz von der Regierung gestrichen. Sie hat acht Bücher geschrieben und mehrere Sammelbände herausgegeben.
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Vor kurzem behauptete ein Staatssekretär, in Ungarn verbessere sich die Lage der Ärmsten. Die ungarische Wochenzeitung Élet és Irodalom hielt dieser Behauptung folgende Fakten entgegen: 2010 lebten drei Millionen Ungarinnen und Ungarn in extremer Armut, 2016 seien es 3,6 bis 3,8 Millionen gewesen. Das Statistische Amt veröffentlicht seit 2011 aber keine Daten mehr dazu. Wie viele Menschen nehmen solche Stimmen in oppositionellen unga­rischen Medien wahr?

Theoretisch können das alle, denn das Blatt kann gekauft werden und es gibt auch Fernsehstationen, die regierungskritische Töne von sich geben. Aber ich schätze, bewusst nutzen nur 300 000 bis 350 000 Menschen regierungskritische Medien. Dazu gehört auch das Journal des RTL-Klub, das zwischen 800 000 und eine Million Zuschauer hat. Es beginnt um 18 Uhr mit einer halben Stunde Boulevardmeldungen, danach kommen 15 Minuten politische Nachrichten und Berichte, die mit denen unabhängiger Medien in anderen Ländern Europas vergleichbar sind. Allerdings ist der Großteil des Publikums des RTL-Klub wahrscheinlich in erster Linie an den Boulevardberichten interessiert, die viel professioneller gemacht werden als diejenigen der staatlichen Konkurrenz. Rund 90 Prozent der politisch-gesellschaftlichen Medien befinden sich in den Händen der Regierung, die restlichen zehn Prozent werden ständig bedroht.

Seit Oktober erscheint die oppositionelle Tageszeitung Népszabadság nicht mehr. 2015 hatte die österreichische Gruppe Mediaworks die Zeitung übernommen, am 9. Oktober 2016 stellte sie sie ohne Vorwarnung ein und entließ die ganze ­Belegschaft – vorgeschoben wurden wirtschaftliche Gründe. Kurz danach kaufte die Mediengruppe Opimus Press, die einem Verbündeten Viktor Orbáns gehört, Mediaworks Ungarn. Ende Januar entschied nun ein ungarisches Gericht, dass die Schließung von Népszabadság ­illegal gewesen sei, die Besitzer hätten die Beschäftigten vorher informieren und konsultieren müssen, Entschädigungen wurden den Entlassenen aber nicht zugesprochen. Die Schließung hatte die Aufmerksamkeit auf die Lage der ungarischen Medien gelenkt, es gab große Proteste und das Vorgehen löste Empörung in westlichen Demokratien aus. Warum hatten die Machthaber dennoch alles getan, um Népszabadság auszuschalten?

»Die Linken begriffen die Bedeutung der Medien nicht und aus den abgezweigten Geldern haben weder die MSZP noch die linken oder liberalen Medien einen Nutzen gezogen.«

Népszabadság erschien zuletzt in einer Auflage von 30 000 Exemplaren, das heißt, die Zeitung wurde von nicht mehr als 70 000 bis 80 000 Menschen ge­lesen. Es waren nicht die kritischen Meinungen über die Regierung, die zur Ausschaltung geführt haben, sondern den Machthabern bereitete Sorgen, dass die Tatsachen, über die das Blatt berichtete, weiterverbreitet wurden. Wenn Népszabadság am Morgen über Regierungsskandale, Korruption und dergleichen berichtete, verbreiteten unabhängige Medien, vor allem der RTL-Klub, das am Abend. So haben dann fast eine Million Zuschauer das gesehen, was Népszabadságs-Reporter, die zuletzt sehr professionell investigativen Journalismus betrieben, aufgedeckt hatten. Das hat die Regierung mittels eines österreichischen Strohmanns unterbunden, denn solange solche Nachrichten im engen Raum der linksliberalen Medienkonsumenten blieben, hat sie das nicht gestört. Doch die wichtigste Nachrichtenquelle des RTL-Klubs hat sie zum Verstummen gebracht.

Wie kommt es, dass die rechte Partei Fidesz ihr Medienimperium auch während der Zeit der linksliberalen Regierung (2002–2010) konsolidieren konnte, in ihren Medien sogar eine Hetzkampagne gegen Ministerprä­sident Ferenc Gyurcsány führte, während die damalige Regierung die linken und liberalen Medien im Stich ließ?

Fidesz hat eine sehr bewusste Medienpolitik betrieben. Korruption gab es schon vor 2010, auch wenn deren Ausmaße nicht mit den heutigen vergleichbar sind. Doch damals bestand ein Einverständnis zwischen den Oppositions- und den Regierungsparteien, nicht bestätigten Quellen zufolge gab es eine Teilung des illegal abgezweigten Geldes: 70 Prozent gingen an die regierende sozialdemokratische Partei MSZP und 30 Prozent an Fidesz. Zwischen 1994 und 2010 arbeiteten die für wirtschaftliche Belange verantwortlichen Vertreter dieser Parteien eng zusammen. Die Liberalen haben daran in der Regel nicht teilgenommen, obwohl es auch bei ihnen Korruptionsfälle gab. Anders als bei der MSZP, wo Privatpersonen sich bereicherten und die Partei und ihre Medien leer ausgingen, hat Fidesz den wesentlichen Teil dieser abgezweigten Gelder bewusst in Partei und Medien investiert. Einige Fidesz-Mitglieder konnten natürlich auch davon profitieren. Das beste Beispiel dafür ist Lajos Simicska, der diese abgezweigten Gelder verteilte und gleichzeitig ein professionell geführtes Medienimperium schuf. Dieses führte schmutzige Hetzkampagnen, aber es war gut strukturiert und hatte eine Strategie.
Die Linken begriffen die Bedeutung der Medien nicht und aus den abgezweigten Geldern haben weder die MSZP noch die linken oder liberalen Medien einen Nutzen gezogen. Jetzt sehen wir, in welcher Lage diese sind.

Noch 1996 gab es eine Diskussion in Népszabadság über »Meinungsfreiheit und Nazidiskurs« und Liberale betonten, auch die Nazis sollten zu Wort kommen dürfen.

Ich habe diese Meinung nicht geteilt, ich halte die Menschenwürde für wichtiger als die Meinungsfreiheit. Das ist eine große Diskussion, doch die wurde fast nicht geführt, so wie wir über vieles andere nicht diskutierten, und jetzt sind wir mit den Konsequenzen konfrontiert. Heute ist es zum Gemeinplatz geworden: Alles beginnt mit Worten.

Die Hetze gegen Roma begann sehr früh nach der Wende.

Ja, gegen Roma und Juden. Doch dass man in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf öffentlichen Plätzen antisemitische Schmähungen hört, wie das heute oft der Fall ist, wäre Anfang der neunziger Jahre noch unvorstellbar ­gewesen. Verbieten kann man das nicht, aber man hätte damals die Grenzen des Erlaubten aufzeigen müssen, um klar zu machen, dass ein solcher Diskurs nicht toleriert wird.
Die Antisemiten betreiben auch ­eifrig Ahnenforschung. Es genügt, dass jemand einen jüdischen Großvater hat, der seinerzeit konvertiert ist, also sogar im Dritten Reich als »Vierteljude« keinen Nachteil erfahren hätte, doch in Ungarn wird er als Jude beschimpft.
Das wichtigste Blatt der ehemaligen konservativen Regierungspartei MDF (1990–1994) markierte mich und den Journalisten János Kennedi als Juden. Ich war schockiert, denn bis dahin wurde ich nie zuvor als Jüdin wahrgenommen.
Während der Ära Kádár (1957–1989) hatten viele antijüdische Vorurteile, die in den Familien weitergegeben wurden, doch blieben diese unter der Oberfläche. Seit den neunziger Jahren zeigen alle in- und ausländischen soziologischen Untersuchungen, dass der Antisemitismus in der Bevölkerung zunimmt, und heute gehört Ungarn zu den Ländern Europas, wo dieser sich am stärksten äußert. Das hat auch mit der Rhetorik der Regierung zu tun, mit der Agitation gegen das globale Kapital, die ausländischen Banken und George Soros, der als Symbol des jüdischen Finanzkapitals herhalten muss.
Es ist auch interessant, wie Ministerpräsident Orbán seit vielen Jahren Mária Schmidt unterstützt, eine ­revisionistische Historikerin, die unter anderem behauptet, es habe »mehrere Holocausts« gegeben und die Juden würden den Holocaust als »Markenartikel« gebrauchen.
Schon 1998 spielte sie in einer gegen mich begonnen Kampagne eine Rolle. Diese war eigentlich gegen meinen damals noch lebenden Vater Miklós Vásárhelyi gerichtet. Er war Vorsitzender der Soros-Stiftung. Fidesz hielt es für wichtig, unseren Namen in den Schmutz zu ziehen und gegen die Stiftung zu hetzen. Weil ich den Handschuh aufnahm, wurde die Kampagne von Mária Schmidt und Zsolt Bayer, ­einem rechten Publizisten und Mitbegründer von Fidesz, gegen mich geführt, nicht weil ich so wichtig gewesen wäre.

Wieso kann Mária Schmidt heute noch einen derartigen Einfluss ausüben?

Weil sie genauso hemmungslos wie die Machthaber und zu allem bereit ist. Als Schöpferin der Geschichtsnarrative der Fidesz ließ sie nach der Ausschaltung von Népszabadság deren Inschrift auf dem Redaktionsgebäude in das von ihr geführte »Haus des Terrors« bringen, mit der Begründung, diese sei ein Symbol des Kommunismus, da die Zeitung nach Niederschlagung der Revolution von 1956 gegründet worden sei. Eine Historikerin, die nicht weiß, dass Népszabadság am 2. November 1956 gegründet wurde, also noch während der Revolution, beweist, dass sie historisch ungebildet ist. Sie behauptete auch, der Holocaust sei ein Nebenschauplatz gewesen, da die Vernichtung der Juden kein Kriegsziel ­gewesen sei. Alles, was sie in Angriff nimmt, endet katastrophal. Nehmen wir ein anderes Geschichtsprojekt, das »Haus des Schicksals«: die Regierung hat Milliarden Forint investiert und es steht leer. (Das Haus soll, aus nationalkonservativer Sicht, an den Holocaust – als »Schicksal« – erinnern. Ungarn soll entsprechend nicht als Verbündeter Nazideutschlands, sondern als von den Deutschen besetzt dargestellt werden. Anm. d. Red.) Seit 2014 steht das grausliche Besatzungsdenkmal in der Mitte von Budapest, das bis heute nicht eingeweiht worden ist. Wichtig sind für diese Regierung nur die his­torischen Narrative, wie viele Milliarden Forint das kostet, ist Nebensache.

Wie erklären Sie sich, das die EU all das toleriert, was in Ungarn geschieht und eigentlich ihren deklarierten Werten widerspricht? Kann es sein, dass die Europäische Volkspartei (EVP) Fidesz nicht ausschließen will, weil die Fraktion ohne die Partei die Mehrheit im EU-Parlament verliert?

Mich hat Fidesz nicht überrascht, ich habe damit gerechnet, was geschehen würde, wenn sie wieder an die Macht kommt. In einem gewissen Sinne kam es zur Restauration des Horthy-Regimes, die Bühnendekoration der Demokratie bleibt. Institutionen wie das Parlament und der Verfassungsgerichtshof bleiben bestehen, sind jedoch sinnentleert und dienen der Auto­kratie. Die EU ist meine größte Enttäuschung, das ist ihre unmessbare Schande, dass all dies in einem ihrer Mitgliedsländer geschehen kann. ­Ungarn ist keine Demokratie.