Small Talk

»Im Safe Space gefangen«

»Erlebende« statt »Opfer« – so möchte die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal zukünftig vergewaltigte Frauen bezeichnet sehen. Die Argumente, die sie in einem Buch und einem Artikel in der Taz vorgebracht hat, stoßen nicht überall auf Zustimmung. Das feministische Blog »Die Störenfriedas« widerspricht Sanyal in einem Anfang der Woche veröffentlichten offenen Brief. Anneli Borchert ist Autorin für »Die Störenfriedas« und hat mit der Jungle World gesprochen.

Wie verbreitet ist die feministische Kritik am Wort »Opfer«?

Die Kritik am Wort »Opfer« kommt nicht nur von Mithu Sanyal. In dieser Gesellschaft wird Opfern sexualisierter Gewalt Misstrauen entgegengebracht: Hat sich die Frau irgendwie falsch verhalten? Hat die Frau sich nicht gewehrt? Hat sie nicht laut genug »nein« gesagt? Die Kritik am Opferbild, die Sanyal vorbringt, ist richtig. Aber der Begriff »Opfer« ist dennoch überaus wichtig und noch dazu sprachlich neutral. Klaut mir jemand auf der Straße die Handtasche, bin ich Opfer eines Diebstahls. Doch kaum geht es um sexualisierte Gewalt, empfinden manche das Wort »Opfer« als schlimm. Dabei verwechseln sie Opferhaltung mit Opferstatus. Wer vergewaltigt worden ist, ist ein Opfer, muss aber nicht dauerhaft in einer Opferhaltung verharren.

Kommen Täter in dieser Sichtweise überhaupt vor?

Es gibt kein Opfer mehr, also gibt es auch keinen Täter mehr. Sanyal findet es nicht gut, dass es bei der Rede von Vergewaltigungen immer eine wehrlose Frau, das Opfer, und einen bösen Mann, den Täter, gibt. Viel hilfreicher fände sie es, wenn alle miteinander über das Problem sprächen. In der Realität gibt es allerdings einen Haken: Die große Mehrheit der Vergewaltiger sind Männer. Das muss man so benennen können. Sanyal lenkt den Blick von den Tätern ab. Frauen sind für sie »Erlebende«, auf die aus heiterem Himmel ein Geschehen herabkommt. Vergewaltigungen sind aber ein gesellschaftliches Problem, das es zu analysieren gilt. Sie finden nie ohne Täter statt.

Ist es das erste Mal, dass der Begriff »Erlebende« als Bezeichnung für Opfer von Vergewaltigungen vorgeschlagen wird?

Ja. Das ist original Mithu Sanyal. Bei uns haben sich viele Frauen gemeldet, die das Wort zum ersten Mal gehört haben. Viele verbitten es sich, so genannt zu werden.

Was kritisieren Sie an dem Begriff »Erlebende«?

Alle Leute, die ich gefragt habe, was sie mit dem Begriff »Erleben« assoziieren, haben mir gesagt: Kino, Freizeitpark, schöner Ausflug. Der Begriff ist nicht dazu geeignet, eine Vergewaltigung zu beschreiben. Zudem bedient sich Sanyal der Argumentation, nach der Frauen nur Opfer sind, wenn sie sich wie solche fühlen. So wird die Schwere der Tat in das Erleben des Opfers verlagert. Und wer den Status des Opfers annimmt, nimmt der Argumentation zufolge auch die Stigmatisierung an. Sanyal zufolge leidet eine vergewaltigte Frau an der Stigmatisierung als Opfer. Das ist eine Verharmlosung der tatsächlichen sexualisierten Gewalt. Die Vergewaltigung bedeutet Leid.

Hat Sanyal auf Ihre Kritik reagiert?

Auf meine Artikel hat sie nicht reagiert. Auf den offenen Brief der Störenfriedas hat sie im Kommentarbereich der Website geantwortet. Dort schreibt sie, sie wolle den Begriff »Opfer« nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Das macht es allerdings nicht besser. Wenn der Begriff »Opfer« so negativ definiert wird, werden Frauen stigmatisiert, die sich als Opfer bezeichnen.

In welchem Umfeld bewegt sich Sanyal?

Sie gehört zu einem Kreis liberaler Feministinnen, meist mit akademischer Bildung, die offenbar in ihrem Safe Space gefangen sind. Zentral für dieses Milieu ist die Annahme, dass Sprache das Denken strukturiert. Man kann aber die Realität nicht einfach ignorieren und sagen: Wir reden jetzt anders drüber und dann ist das auch anders.