Die Hamas in Gaza hat einen neuen ­Regierungschef. Die ökonomische Krise bekommt sie nicht in den Griff

Neuer Vorsitz, alter Hass

Die Hamas hat einen selbst für ihre Verhältnisse fanatischen Israel­hasser an die Spitze ihrer Regierung in Gaza gewählt. Der wirtschaft­lichen Krise und dem gesellschaftlichen Unmut der Bevölkerung wirkt sie nicht entgegen.

Die Hamas hat ihre Führungsspitze ausgetauscht. Als Regierungschef in Gaza löste Jahia al-Sinwar, der die Kassam-Brigaden, also den militärischen Flügel der Hamas mitgegründet hatte, vergangene Woche Ismail Haniya ab, der sich für die Gesamtführung der Hamas als Nachfolger Khaled Meshals wählen lassen will. Sinwar wurde 1988 von Israel festgenommen und zu viermal lebenslänglicher Haft verurteilt. Ihm wurde damals vorgeworfen, Mordkommandos gegen mutmaßliche palästinensische Israel-Kollaborateure organisiert zu haben. 2011 kam Sinwar im Zuge des Gefangenenaustauschs gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit frei. 1 027 palästinensische Häftlinge, viele von ihnen als Mörder verurteilt, wurden damals für den entführten Soldaten freigelassen. Einer der größten Gegner dieses Abkommens war Sinwar. Zugeständnisse jeglicher Art gegenüber Israel kamen für ihn nicht in Frage. Der 55jährige, der fließend Hebräisch spricht, gilt selbst nach Hamas-Standards als fanatischer Israel-Hasser. Er ist medial eher unbekannt, seine Ernennung ist dennoch keine Überraschung. Während seiner Haft, in der er sich von israelischen Ärzten einen Gehirntumor erfolgreich entfernen ließ, hat er sich einen Namen unter den eingesperrten muslimischen Brüdern gemacht. Daher sind ihm die Gefangenen seiner Gruppe ein besonderes Anliegen.
Derzeit befinden sich drei israelische Zivilisten und zwei tote israelische Soldaten aus dem Krieg 2014 in der Hand der Hamas. Erst kürzlich hat Israel vergeblich über ihre Freilassung und Übergabe verhandelt. Die Hamas beharrt unter anderem auf der Freilassung von 56 ihrer Mitglieder, die im Zuge des Shalit-Abkommens zunächst freigelassen, 2014 aber wieder festgenommen wurden und in Israel in Haft sitzen.
Ely Karmon vom israelischen Institute for Counter-Terrorism zufolge sei durch die Wahl Sinwars zwar der militärische Flügel der Hamas gestärkt worden, der nun zum ersten Mal die Führung stellt, doch sei »kurzfristig nicht mit einem Kurswechsel in Richtung einer bewusst herbeigeführten größeren Eskalation zu rechnen. Die Hamas weiß um die Konsequenzen, insbesondere seit Avigdor Lieberman als neuer Verteidigungsminister im Amt ist.«

Die Hamas kämpft nicht nur gegen den Unmut der Bevölkerung, sondern auch gegen zahlreiche Splittergruppen und ­IS-nahe Islamisten

Militärische Erfolge der Hamas gegen Israel sind rar und auch in Zukunft kaum zu erwarten. Das wird auch Palästinensern in Gaza langsam klar, auch wenn gewohnt jähzornig auf Donald Trumps Ankündigung reagiert wurde, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Mehr als ein willkommenes Thema, um von der eigenen Unfähigkeit zu einem Minimum an wirtschaftlichem Aufbau abzulenken, sind die Drohungen der Hamas aber nicht. Selbst Lieberman gibt sich nach der Wahl Sinwars milde. Im Gegenzug für die Freilassung der Gefangenen, die Demilitarisierung von Gaza und die Streichung des antiisraelischen Artikels in der Hamas-Charta stellt er in Aussicht, einen Hafen, einen Flughafen und Industriezonen an den Grenzübergängen zu Israel zu bauen: »Wir können Partner sein und Gaza in ein Singapur des Nahen Ostens verwandeln«, so Lieberman. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz sagte er: »Die wahre Grenze verläuft nicht zwischen Juden und Muslimen, sondern zwischen den Moderaten und Radikalen.«
Doch weder wird die Hamas in naher Zukunft ihre Selbstauflösung als islamistische Widerstandbewegung bekanntgeben, noch wird sie durch die sporadischen Proteste, die derzeit in Gaza stattfinden, gestürzt werden. Die Demonstrationen gegen die Hamas sind wegen ihrer relativen Größe etwas Neues, doch »Grund zur Hoffnung auf eine demokratische Veränderung bieten die wirtschaftlich enttäuschten Demonstranten nicht, denn es geht hier nicht um eine ideologische Revolution. Dennoch können sie einer von vielen Faktoren sein, die Druck auf die Hamas-Regierung ausüben«, so Ely Karmon.
In Gaza herrscht eine Arbeitslosen-, Wasser- und seit Januar zudem eine Elektrizitätskrise. In einigen Gebieten gibt es derzeit weniger als drei Stunden am Tag Strom. Die Hamas hat den Gazastreifen wirtschaftlich in eine Sackgasse gefahren und versucht nun, sich dort wieder heraus zu manövrieren, indem sie sich an Ägypten anbiedert. An Verbündeten hat sie fast nur Katar und die Türkei. Während es aus der Türkei moralische und humanitäre Unterstützung gibt, gilt Katar als der lebensrettende Geldgeber. Mit Ägypten gibt es seit dem Militärputsch 2013 gegen Mohammed Mursi keine Kooperation mehr. Die ägyptische Militärregierung sieht in der Hamas den natürlichen Komplizen der verhassten Muslimbrüder. Doch allmählich ändert sie ihre Ansichten. Die ägyptischen Generäle machen der Hamas Hoffnung auf eine schrittweise Aufhebung des Embargos. Die Hamas spricht von »fruchtbaren Verhandlungen«, die sie Ende Januar in Kairo führen konnte. Die dort eingesetzte Delegation betont in einer Pressemeldung, »das ägyptische und arabische Blut« sei dem »palästinensischen Volk« heilig. Ägypten wiederum erhofft sich einen Einsatz der Hamas gegen den Ableger des »Islamischen Staats« (IS) im Sinai, den Präsident Abd al-Fattah al-Sisi immer noch nicht militärisch befrieden konnte. Im Nordsinai gehen bis zu 25 000 Soldaten gegen die Gruppe Wilayat Sinai vor, die Schätzungen zu­folge über 1 000 Kämpfer verfügt und zu einem bedeutenden Teil aus ansässigen Beduinen besteht. Fünf durch das Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangene Raketen auf die israelische Urlaubsstadt Eilat Anfang Februar wurden von diesen Jihadisten abgefeuert. Es wird sich zeigen, ob Sinwar, ein Freund des iranischen Regimes, Interesse an einer weiteren Annäherung an Ägypten hat.
Die Hamas kämpft nicht nur gegen den Unmut der Bevölkerung, der sich hauptsächlich gegen ihre Unfähigkeit richtet, die Stromversorgung zu gewährleisten, sondern auch gegen zahlreiche Splittergruppen und dem IS nahestehende Islamisten, denen die Annäherung der Hamas an Ägypten nicht passt. Diesen gelingt es immer wieder, die Hamas durch militante Einzelaktionen in Verlegenheit zu bringen. Israel macht die Hamas für jeden Angriff verantwortlich, der aus Gaza kommt; für jede Rakete greift das Militär meist noch am selben Tag Stellungen der Hamas an. Die Hamas ist auf die wenigen verbliebenen, von IS-nahen Beduinen betriebenen Schmugglerrouten zwischen dem Sinai und Gaza angewiesen. Zumindest so lange, wie Ägypten den Grenzübergang Rafah zwischen Sinai und dem Gaza-Streifen nur sehr selten öffnet.
Am Montagmorgen trafen zwei aus dem Sinai abgefeuerte Raketen israelisches Gebiet, verletzt wurde niemand. Wenn sich die Gelegenheit zu einem gezielten Schlag ergeben sollte, werden aber auch die Kassam-Brigaden der Hamas kaum zweimal überlegen. Da sich Israel gegen Angriffstunnel und Raketenterror mittlerweile gut zu wehren weiß, hat für die Hamas ein isra­elischer Soldat in ihrer Gefangenschaft einen noch höheren Stellenwert. Nur so kann sie Druck auf Israel ausüben. Die Wahl Sinwars, der 22 Jahre Zeit hatte, die israelische Mentalität in Haft ­genau zu studieren, bestätigt diese Bedeutsamkeit. Kurz nach seiner Frei­lassung aus der israelischen Haft 2011 kündigte er an, mit Hilfe weiterer Entführungen alle Häftlinge zu befreien. Kaum eine Aktion bringt in der Bevölkerung heute noch so viel Sympathien wie ein erzwungener Gefangenenaustausch. Doch mit jedem Angriff auf Israel droht auch der Hamas die Gefahr der weiteren Schwächung durch einen israelischen Gegenschlag.