Velvet Undergrounds Debütalbum war der wohl wichtigste Flop der Popgeschichte

Botschaften von der Nachtseite

Vor 50 Jahren erschien Velvet Undergrounds berühmte Bananenplatte.
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Höchste Charts-Notierung in den USA: Ein kümmerlicher 171. Platz am 16. Dezember 1967. In Großbritannien verfehlte jene Platte, die die englische Sonntagszeitung The Observer knapp 40 Jahre später auf die Nummer eins ihrer Liste von »50 Alben, die die Musik veränderten« setzte, die Charts sogar komplett; die Verkaufszahlen lagen im nahezu unmessbaren Bereich. Die Rede ist von »The Velvet Underground & Nico«, dem Debütalbum der gleichnamigen Band, das am 12. März 1967, vor einem halben Jahrhundert also, in die Plattenläden kam – und dort erst einmal in den Regalen stehen blieb. Und das lag sicher nicht daran, dass das Werk sich nicht auffällig genug präsentierte: Auf dem Cover prangte jene berühmte, von Andy Warhol entworfene Banane, die heute mindestens denselben ikonograhischen Stellenwert genießt wie die gebleckte Zunge der Rolling Stones.
Selten trifft die Floskel, dass ein Album seiner Zeit weit voraus war, so zu wie bei Velvet Underground. Deren Debütalbum muss gewirkt haben wie eine dystopische Botschaft aus der Zukunft, wie eine Platte, die sich bei einer Zeitreise im Rückwärtsgang aus den zerrütteten Siebzigern in die hoffnungsfrohen Sechziger verirrt hatte: Sie zelebrierte die falsche Droge – Heroin statt LSD –, die falsche Sexualität – Leopold von Sacher-Masoch statt Oswalt Kolle –, die falsche Stadt – New York statt San Francisco – und die falsche Belichtung – nächtliche Obsessionen statt sonnenbunten Blumenfeldern. »The Velvet Underground & Nico« überforderte ein Publikum, das sich eben erst daran gewöhnte, dass Popmusik den Rahmen des Teenageramüsements zu überschreiten begann.
Darauf nahmen Velvet Underground nicht die geringste Rücksicht. Sie setzten kompromisslos Andy Warhols Vorstellungen in Musik um. Warhol, Mentor und Förderer der Band, hatte postuliert, dass die Trennung zwischen Kunst und Pop obsolet sei und sich Pop alle zuvor getrennten Bereiche der Kunst wie Literatur, Malerei und E-Musik einverleiben werde, um ihnen eine verbindliche moderne Gestalt zu verleihen. So war es auch alles andere als Zufall, dass die Band, zu der auf ihrer Debütplatte auch die mit hörbar teutonischem Akzent singende Warhol-Muse Nico (bürgerlich: Christa Päffgen) stieß, nicht aus dem eigentlichen Popbusiness kam, sondern aus der New Yorker Underground-Kinoszene. Die Musiker  – in erster Linie Songschreiber und Gitarrist Lou Reed sowie Violinist und Soundexperimentator John Cale – hatten als eine Art elektrisches Film­orchester zusammengefunden. Sie improvisierten live zu heute noch überaus merkwürdig wirkenden, fast schnittlosen Experimentalfilmen, wie beispielsweise »Rites of the Dream ­Weapon« von Angus MacLise oder Piero Heliczers »Venus in Furs«, die allein auf die optische Stimulation des Unbewussten bedacht waren. Überhaupt war Heliczer wohl derjenige, dem Warhols neue Popformel der multimedialen Attacke auf die Alltäglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung am meisten verdankte: Er organisierte bereits 1965 sogenannte »ritual happenings« mit Filmprojektionen, Lichteffekten, Tänzern und improvisierter Musik. Andy Warhol übernahm diese Idee samt den dazugehörigen Techniken und schickte seine Performanztruppe Exploding Plastic Inevitable – inklusive Velvet Underground – 1966 auf eine Tour durch die Vereinigten Staaten; die Resonanz in Publikum und Presse war verheerend.
Das schreckte aber weder Warhol noch die Band, deren Name sich von einem damals verbreiteten, reichlich sensationslüsternen Buch übernommen war. Michael Leighs »The Velvet Underground« behandelte die im Verborgenen blühenden sexuellen Subkulturen der frühen Sechziger und ließ seine Leser mit Schilderungen von fetischistischen Sexualpraktiken und männlicher Prostitution wohlig schaudern. Der Bandname passte bestens zu den Sujets, die Lou Reed vorschwebten, Transvestismus, Abstieg und Dekadenz, Sucht und Sehnsucht, alles eben, was sich auf der Nachtseite der Großstädte abspielte. Reed ortientierte sich an den Außenseiterliteraten der Fünfziger und Sechziger – Burroughs, Purdy, Selby – und goss schonungsose Beobachtungen in kleine, ebenso hübsche wie bösartige Melodien; »pretty songs of anomie«, wie Jon Savage Reeds Songs in seinem Buch »1966« charakterisierte.
In »Heroin«, »Venus in Furs« oder auch »I’m Waiting for the Man«, das das Warten auf den Dealer in lakonischen Worten thematisiert, kontrastierte jedoch nicht nur der jeweilige Liedtext scharf mit der  einfachen Melodik und Harmonik. Auch die musikalische Umsetzung zerfetzte die Hülle des Popsongs: John Cale, ein Schüler des minimal music-Pioniers La Monte Young, erzeugte auf seiner Viola lange, stehende Drones, die drohend im Hintergrund waberten, Reed selber experimentierte mit ­sogenannten Ostrich-Gitarrenstimmungen (alle Saiten sind auf einen Notenwert gestimmt) und Schlagzeugerin Maureen Tucker zerdehnte und verdrehte mit ihrem mäandernden Spiel die an sich schlichten Metren der Stücke auf »The Velvet Underground & Nico«.
Das Ergebnis war von einer derart schaurigen Schönheit, dass die Platte im Frühjahr 1967 so gut wie unverkäuflich blieb. Doch nicht jeder schreckte vor »The Velvet Underground & Nico« zurück. Ein gewisser David Robert Jones, ein exzentrischer junger Brite, der später unter dem Namen David Bowie bekannt wurde, bekam Ende 1966 eine Testpressung der LP in die Hände. Und was er dazu im Jahr 2002 rückblickend sagte, ist wohl die Art von Würdigung, die dem Stellenwert der Platte mit der Banane gerecht wird: »Alles, was ich wirklich über Rockmusik wissen musste, erschloss sich mir plötzlich durch eine einzige unveröffentlichte Platte. Mit dem Spaß war es nun offensichtlich vorbei. Das hier war von einer Coolness, die ich nie für möglich gehalten hatte, es war überwältigend.«