Das Comeback der europäischen Sozialdemokratie

Ein Kümmerer kommt

Die Sozialdemokratie ist so systemkonform und spaßbefreit wie eh und je. Trotzdem erlebt sie gerade ein Comeback. Während anderswo sozialdemokratische Außenseiter die Führung über scheinbar radikale Bewegungen übernehmen, genügt für Deutschland der traditionelle Kümmerer Martin Schulz.

Es gibt ihn nicht mehr: den klassischen sozialdemokratischen Funktionär, den alle in der Nachbarschaft kennen, den Kümmerer. Immer bereit, für seine Leute zu kämpfen, aber höchst misstrauisch, wenn die Leute selbst an­fangen zu kämpfen und dabei andere als die parlamentarisch oder tarifpartnerschaftlich vorgesehenen Wege einschlagen. Dieser Kümmerer war ein Profi des Paternalismus – und er wandelte sich in der Praxis mehr und mehr zu einem Virtuosen der Enttäuschung. Keine sozialdemokratische Regierung in Europa hielt sich in den letzten 20 Jahren an ihr klassisches Programm des sozialen Reformismus. Der Parteiarbeiter aus dem Viertel, der für seine Leute »die Dinge regelte«, streckte vor den angeblichen Sachzwängen »Globalisierung« und »Privatisierung« die ­Waffen. Und das auch noch erstaunlich widerstandslos.
Kein Wunder, dass an die Stelle der sozialdemokratischen Kümmerer andere getreten sind. Der Widerstand gegen Globalisierung ist für diese der Kampf gegen alles vermeintlich »Fremde« und Privatisierung ein Werk der »Volksverräter«. Die Rechtspopulisten und Neofaschisten treten das Erbe der Sozialdemokratie an, das sich bereits in völkisches Gift verwandelt hat.
So könnte man den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie (und gleichzeitig der US-amerikanischen ­Gewerkschaften) kurz beschreiben – und würde doch nur die Hälfte er­zählen. Denn tatsächlich erleben wir derzeit eine Renaissance sozialdemokratischen Denkens. In der spanischen Bewegungspartei Podemos, den Kampagnen für Jeremy Corbyn und Bernie Sanders und zuletzt im Überraschungserfolg Benoît Hamons bei der Kür des sozialistischen Kandidaten für die französischen Präsidentschaftswahl hat sich ein neuer sozialdemokratischer Geist artikuliert: Den Kandidaten und ihren Wahlbündnissen ist gemeinsam, dass sie als unerhört links gelten – aber auch als strikt systemkonform. Nicht mal die größten Kritiker Corbyns sehen in ihm einen Revolutionär, sondern weisen vielmehr auf sein altmodisches Programm hin, das an den britischen Linkskeynesianismus der siebziger Jahre erinnert: Bankenkontrolle, Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und ­Infrastruktur. Für viele seiner jungen ­Anhänger dürften diese Forderungen Hieroglyphen gleichkommen. Überhaupt wäre es interessant herauszu­finden, ob die stürmischen Fans dieser neoradikalen Sozialdemokraten ein tiefergehendes Interesse an deren Programm haben. Auf das Programm kommt es bis auf ein paar Schlagworte nicht an, sondern auf Symbolpolitik und mehr noch auf Selbstermächtigung.
Die Symbolpolitik lässt sich schnell erklären: Zwar sind Hamon, Corbyn, Sanders oder Yanis Varoufakis Teil des politischen Establishments und der intellektuellen Elite ihres Landes, aber sie können für sich eine Außenseiterrolle beanspruchen. Für ihre Glaubwürdigkeit reicht das einstweilen. Interessanter ist der Aspekt der Selbstermächtigung. Den stellen die Theoretiker dieses neuen Sozialdemokratismus in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die Rede ist von Paul Mason (»Postkapitalismus«) und den Politikwissenschaftlern Nick Srnicek und Alex Williams (»Die Zukunft erfinden«), die ­allesamt aus England stammen. Grundlegend ist für sie die Unterscheidung zwischen Reformen, die Sozialdemokraten für ihr Klientel einst durchgesetzt haben (Ausbau des Sozialstaats) – die typische Stellvertreterpolitik –, und Reformen, die die Leute befähigen, selbst aktiv zu werden. Mason, Srnicek und Williams schwebt hier in erster ­Linie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens vor. Die neue Sozialdemokratie steckt in einem ewigen Verratsdilemma. Sie verspricht ihren Wählern innerhalb des existierenden politischen Systems substantielle Verbesserungen, deren Verwirklichung dann zuverlässig an diesem System scheitert. Aus dieser Zwickmühle solle sie sich befreuen, indem sie dem Neo­liberalismus dessen Aktivierungspostulat entwendet. Das Versprechen des Neoliberalismus lautete: Wenn man sich nur anstrengt, und wenn die Freiheit der privaten Initiative uneingeschränkt ist, dann kann jeder für sich selbst am besten sorgen. Die Neo­sozialdemokraten kombinieren dieses Versprechen mit der Garantie sozialer Sicherheit und dem demokratischen Zugang zu modernen Technologien.
Von einer Umsetzung dieser Politik sind die neuen Sozialdemokraten weit entfernt. Deshalb konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Anführer. Sanders, Corbyn, Varoufakis oder auch Pablo Iglesias von Podemos begreifen sich nicht als Politiker, sondern als Sprecher einer Bewegung, die ihre Anhänger permanent zur Selbsttätigkeit auffordert. Andererseits agieren sie sehr wohl als Politiker und arbeiten auf eine Regierungsübernahme durch ­demokratische Wahlen hin. Das entspricht dem Szenario, das Mason, ­Srnicek und Williams skizzieren. Nur Basisbewegungen, nur Bambule auf Straßen und Plätzen, Besetzungen von Hörsälen und Streiks von Care-Arbeiterinnen reiche nicht aus. Srnicek und Williams sprechen abfällig von Folklo­repolitik und Lokalismus. Es bedürfe des Eingriffes der absoluten gesellschaft­lichen Gewalt, des Staates, in ökonomische Makrostrukturen. Auch Mason sagt, dass etwa die Initiativen solidarischer Ökonomie nie aus ihrem linksgrünen Ghetto herauskämen, würden sie in Zukunft nicht vom Staat protegiert und ausgebaut.
Es fällt auf, dass dieser Neosozialdemokratismus in solchen Ländern auf den größten Zuspruch trifft, die zwischen Himmel und Hölle schwanken. Spanien, Großbritannien, Frankreich und die USA sind überentwickelte ­kapitalistische Nationen, die aber im internationalen Vergleich – in der Konkurrenz mit Deutschland oder China – ins Schlingern geraten sind. In ­einem kaputtregulierten Land wie Griechenland hätte diese Politik keine Chance; die dortigen Organe der Selbstorgani­sation dienen dem Überleben, nicht der Verteilung des Überflusses. 
In Deutschland findet der Radikal­reformismus keinen Widerhall und dürfte am ehesten von der Gruppe um die Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping oder dem chimärischen Institut für solidarische Moderne vertreten werden. Stattdessen feiert hier das Kümmern ein Comeback. Martin Schulz hat ein Ohr für die Sorgen des kleinen Mannes und teilt mit ihm den hemds­ärmeligen Habitus. Deutschland steht wirtschaftlich stark da. Zweifel an Wolfgang Schäubles schwarzer Null gibt es schon lange. Wenn jetzt jemand kommt, der ein bisschen Umverteilung verspricht und auf ein paar sozial­politische Zwangsgesetze verzichten will, ist ihm zumindest der Anfangs­erfolg sicher.
Der neue sozialdemokratische Geist Europas spricht vor allem die akademische Jugend an. Gut ausgebildet, gleichzeitig immer chancenloser auf den nationalen Arbeitsmärkten, aber – als Kinder ihrer Zeit – schon längst neoliberal affiziert, mit aktivistischem ­Habitus, technologieaffin, geübt im schwarmhaften Handeln und Denken. Für diese Gruppe ist das Grundeinkommen eine echte Option. Eine gewisse Sicherheit wäre gegeben, und auf dieser Basis kann man sich für den nötigen Zuverdienst ständig neu vernetzen und zu aufregenden Projekten verabreden. Aber wer sagt denn, dass ­daraus eine solidarische Gemeinschaft entstehen müsste? Viel wahrscheinlicher ist, dass es Atomismus und sozialen Egoismus der Protagonisten fördert. Die Sozialdemokratie kooperiert mit anderen nur, soweit es den eigenen Projekten förderlich ist. Das Grundeinkommen bricht nicht mit der Logik des Geldes, sondern strukturiert diese bloß anders.
Aber das sind schon abgehobene ­Debatten, die den Rausch der Bewegung nicht tangieren. Die neue Sozialdemokratie inszeniert sich nicht nur als Bewegung, sie hat diesen Status noch nirgendwo überschritten. Da sie sich an Wahlen beteiligt, spricht alles dafür, dass ihre Anführer den Bewegungs­status hinter sich lassen wollen. Dann schlägt wieder die Stunde der Realisten.