Hierzulande leben 48 000 von Genitalverstümmelung betroffene Mädchen und Frauen

Köln wirkt gegen Verstümmelung

Eine Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland fördert erschreckende Zahlen zutage. Sie zeigt jedoch auch, dass es Wege gibt, die Praxis der Verstümmelung von Mädchen und Frauen zu beenden.

Die Zahl ist erschreckend: In Deutschland leben etwa 48 000 Mädchen und Frauen, die von weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation, FGM) betroffen sind. Das geht aus der neuen »Empirischen Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung« der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hervor. Weitere 1 500 Frauen und 5 700 Mädchen sind von FGM bedroht. Die vorliegende Studie ist die erste mit empirischem Zahlenmaterial für Deutschland, die Ergebnisse sind besorgniserregend: So stieg mit der vermehrten Zuwanderung aus Risikoländern auch die Opferzahl um 30 Prozent. Die quantitativen Ergebnisse der Studie beziehen sich jedoch nur auf Ausländerinnen, zu deutschen Staatsbürgerinnen und sogenannten Illegalen fehlen weiterhin valide Zahlen. Die Repräsentativität wird weiter dadurch beschränkt, dass die Interviewten bereit sein müssen, über FGM zu sprechen. Es dürfte also eine Dunkelziffer geben. Die qualitative Studie basiert auf Interviews mit Frauen, Männern, religiösen und sozialen Autoritäten, Ehrenamtlichen, Fachkräften wie Ärzten und Gruppen innerhalb der Communities, die sich regelmäßig treffen. Allen Interviews lässt sich entnehmen, dass strikte Verbote von FGM, Aufklärungskampagnen und anonyme Beratungs- und Anlaufstellen durchaus positiv wirken. Die Arbeit von NGOs wird besser bewertet als staatliche Maßnahmen. Das passt zu den fast ausschließlich negativen Aussagen über Ärzte und Krankenhäuser. Alle Befragten berichten von schlechten Erfahrungen mit Ärzten, die weder mit der Genitalverstümmelung seriös und professionell umgehen konnten noch sensibel reagierten. Zumeist waren die Ärzte den Aussagen der Interviewten zufolge nicht in der Lage, bestimmte Symptome und Beschwerden richtig zuzuordnen. Auch wurden Betroffene demnach oft herablassend oder sogar rassistisch behandelt. Manche seien nach Einzelheiten des Tathergangs befragt worden, was große Scham hervorgerufen habe, so die Studie. Zwei Faktoren tauchen im Interviewteil immer wieder als Hindernis für die Beendigung der FGM auf: Zum einen gehörten ältere und selbst verstümmelte Frauen zu den entschiedensten Befürworterinnen der FGM und setzten auch in den jeweiligen Communities Familien, insbesondere Mütter, unter Druck. Eine Mutter berichtet im Interview, ihre Schwiegermutter habe ihre Tochter heimlich in das Herkunftsland geschafft und beschneiden lassen. Sie sei machtlos gewesen und habe ihre Tochter nicht schützen können. Zum anderen wird den Männern eine Schlüsselrolle zugesprochen. Zwar bekundeten sie nach außen häufig Gegnerschaft oder Neutralität in dieser »Frauenangelegenheit«, dies jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung. Die Bereitschaft, die Ehe auch mit einer unbeschnittene Frauen einzugehen, zeigen sie öffentlich jedoch nicht. Und so heiraten sie letztlich doch Opfer der FGM. Passend hierzu sagten die interviewten Männer, dass ihre Mütter, Schwiegermütter und Frauen sie unter Druck setzten, sollten sie sich gegen die Verstümmelung ihrer Töchter wenden. Manchmal geschehe die FGM dann auch heimlich, ohne Wissen des Vaters. Alle religiösen Würdenträger lehnten die FGM zwar im Einzelinterview ab und sagten, die Praxis habe nichts mit ihrer Religion zu tun. Einige der befragten islamischen Autoritäten gaben dennoch zu, dass ihre Religion als Rechtfertigung dienen könne. Trotz dieser Einsicht schweigen sie sich in ihren Gemeinden über das Problem aus und wagen es nicht, sich offen gegen FGM auszusprechen. Die sogenannten sozialen Autoritäten, also besonders einflussreiche, beliebte und anerkannte Einzelpersonen, sind nicht nur meist entschiedene Gegner der Praxis, sondern suchen ihren Einfluss auch zur Abschaffung der FGM zu nutzen. Auch diese Personen betonten den großen sozialen Druck: Eltern, die ihre Töchter nicht beschneiden lassen, gelten demnach nicht nur als Abtrünnige, Renegaten und Verräter, sondern ihnen droht zumeist der soziale Ausschluss. Dasselbe droht der Studie zufolge denjenigen, die die Praxis der FGM öffentlich verurteilen. Alle Befragten gaben einstimmig zu Protokoll, dass sie unter Rassismus, Einsamkeit und Ausschluss litten und sich eine größere Zugehörigkeit in Deutschland wünschten. Die Bereitschaft, auf die Verstümmelung der eigenen Tochter zu verzichten, scheint dort am höchsten zu sein, wo die Befragten positive Erfahrungen mit der deutschen Gesellschaft und den Behörden gemacht haben. Viele Gesprächspartner lobten beispielsweise die Stadt Köln. Dort war die Bereitschaft, die FGM aufzugeben, mit acht von neun Interviewten am höchsten. Je geringer die Kontrolle der religiösen und sozialen Herkunftsgemeinde ist, je länger die Befragten in Deutschland leben und je besser sie sich integriert fühlen, desto stärker verurteilen sie FGM. Die weibliche Genitalverstümmelung lässt sich in manchen Aspekten mit anderen sogenannten Ehrenverbrechen wie Zwangsverheiratung und Ehrenmord vergleichen. So unterscheiden sich die Aussagen befragter Eltern zu illegaler FGM im Ausland nicht allzu stark von denen von Eltern, die ihre Kinder außerhalb Deutschlands zwangsverheiraten. Die Gesetzesänderung zur Bekämpfung von FGM aus dem Jahr 2016, die es ermöglicht, die Pässe bedrohter Mädchen aus Risikoländern einzuziehen, war deshalb ein guter Anfang. Denn Passsperren haben sich im Fall von Zwangsheirat und Ehrenmord bereits als wirksam erwiesen. So wurde der Berliner Jugendliche Nasser el-Ahmad wegen seines gesperrten Passes im europäischen Ausland vor einer Zwangsverheiratung im Libanon gerettet. Seine Geschichte wurde 2015 bekannt. Übereinstimmungen finden sich auch in der sozialen Kontrolle, der paradoxen Doppelrolle der älteren Frauen der Familien als Opfer und Täterinnen und der Stümperei deutscher Ämter und Ärzte, die oft nicht wahrhaben wollen, was nicht sein darf. Was postmoderne Kulturrelativisten und Anhänger der Critical Whiteness besonders stören dürfte: Fast alle Interviews ergaben, dass die eindeutige Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen und das Unrecht der Genitalverstümmelung ebenso wie die strenge strafrechtliche Verfolgung der Täter von den Betroffenen keineswegs als rassistischer, neokolonialistischer Akt wahrgenommen werden. Die meisten Interviewten wünschen sich weitere Aufklärung, deutlich mehr Anlaufstellen, eine strengere, öffentlichkeitswirksame Verfolgung von Tätern und die Sanktionierung derer, die die FGM weiterhin propagieren.