Ein neues SPD-Mitglied stellt sich vor

Vom Schulzzug mit­genommen

Unser Autor ist vor kurzem in die SPD eingetreten.

Warum tritt man eigentlich in eine Partei ein? Bei den meisten ist es klar: In die FDP geht man, wenn man sich den Rotary Club nicht leisten kann; in die CDU, weil man sich die FDP nicht leisten kann; den Grünen tritt man bei, weil einem der Rotary Club nicht mehr exklusiv genug ist. Und wer sich von frechen Thesen zu Weltfinanz und Hochjudentum angezogen fühlt, findet in der »Linken« eine traditionelle Heimstätte. Aber die SPD? Die meisten Mitglieder dieser Partei lernte ich bisher auf Lesereisen kennen. In der Stadtbücherei Völklingsdorf-Raßhausen oder in der »Bar aller Vernunft« Wupswedel. Meistens sind es silberhaarige, sehnige Patriarchen, die in der vordersten Reihe sitzen und ausgewaschene rote Pullunder tragen. Bei der obligatorischen Lesungsnachbesprechung lassen diese Herren dann durchblicken, dass sie die Lesung mitorganisiert, ja praktisch aus eigener Tasche bezahlt haben, und Satire ja auch grundsätzlich okay finden, wenn sie gut gemacht ist. Es folgen dann gewundene Ausführungen zur Lokalpolitik, die darauf hinauslaufen, dass ihr persönlicher Rivale im Wupswedeler Wurstparlament persönlich für den Aufstieg Schröders und das Ende der europäischen Sozialdemokratie verantwortlich ist, wegen dieser richtungsweisenden Abstimmung 1996, und dergleichen Faustdickes mehr.
Doch mein Misstrauen gegenüber der SPD reicht weit in die früheste Kindheitsjugend zurück. Im schwärzesten Bayern großgeworden, sah ich schon in der Idee einer zweiten Partei eine sinnlose Vielfalt. Wer etwas ändern wollte, konnte doch in die CSU eintreten, sich auf zwei bis sechs Maß Bier an den Oberbürgermeister heranduzen und die Sache dann unbürokratisch regeln. Die SPD brachte bloß Verwirrung in dieses bewährte Verfahren. Und als sie dann anfing, meine Freunde in die künstliche Armut zu stoßen, die sie »Hartz IV« nannte, verlor ich vollends die Geduld.
Dann aber: 2017, Aufbruch, Schulz! Neben den ergrauten Gesichtern Gabriels und Steinmeiers, die auf den immer gleichen Pressekonferenzen aus ihren winzigen Knopfaugen angstvoll in die Kameras blinzelten und nach Filterkaffee rochen, wirkte er robust, weltläufig, kraftvoll, wie vom wilden Affen gebissen. Sein joviales Lachen dröhnte schon über so manches internationale Parkett, seine muskelbepackten, haarigen Arme schleiften schon über die Marmorböden von Rom, Genf und Schwandorf in der Oberpfalz. Glanzvoll leuchtete seine Stirn, glänzender nur der darin schlummernde Intellekt, in dessen Zentrum ein einziges unhintergehbares Prinzip sonnengleich lodert, ja ludert: das der Gerechtigkeit. Inmitten von Trump, Krise und Tod sah ich noch einmal das Bild vom gütigen Paterfamilias aufscheinen, sah ich noch einmal Kinderlachen, Volksheim und Betriebsrenten am Horizont, wie ein Segelschiff, das man längst zerschollen wähnte. Ich wollte ihn Daddy nennen. Schnurstracks spazierte ich zum Frankfurter SPD-Palast. Schon im Eingangsbereich bemerkte ich den frischen Wind, der hier wehte: Blutjunge Praktikanten trugen kistenweise Mottenkugeln hinaus, zupften Spinnweben aus den Gesichtern der örtlichen Spitzenkandidaten. Ein Techniker schloss eben ein brandneues Faxgerät an das hauseigene Rohrpostsystem an. Und mittendrin der Topinnovator himself – Sascha Lobo, der heimliche Lokführer des Schulzzugs, Digital-Entrepreneur, Keynote-Speaker und Mindset-Changer in Personalunion! Er gilt als der Steve Bannon der SPD – verwirrt, schlecht gekleidet und todkrank. Aber bis zum Bersten gefüllt mit Motivation! Mit sicherer Hand verteilte er Memes und Hashtags unter den Mitarbeitern, mit lachenden Zähnen klatschte er einen bezwingenden Rhythmus, den ich sofort als den des Fortschritts erkannte. Kaum hatte ich meine Unterschrift auf den Bierdeckel gesetzt, der als Antragsformular gestaltet war (freche, witzige Idee), begann sich etwas an mir zu verändern. Liebgewonnene Denkgewohnheiten lösten sich, verkrustete Strukturen brachen auf. Ich schenkte zwei zufällig anwesenden Flüchtlingen je ein glänzendes Euro-Stück und strickte einer alten Frau einen Sparstrumpf, in welchen sie ihre nunmehr fließende Solidarrente stecken soll. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich, dass sich das Land bereits jetzt veränderte, spürte, wie Gerechtigkeit aus mir hinausperlte wie radioaktive Strahlung. Ich lief hinaus auf die Straße, regelte den bisher ungezügelten Verkehr auf der Hanauer Landstraße und heilte einen Leprakranken. Dann aber: die neuesten Umfragewerte. Der Schulzzug war unplanmäßig zwischen Würselen und Berlin zum Halten gekommen. Die Leute hatten nach der Anfangseuphorie ein bisschen was über Schulz auf der Wikipedia nachgelesen. Der war ja einer von der alten Garde, ein eiskalter Schröderianer! Bei allen Verbrechen immer schön dabei gewesen! Stimmt das, Daddy? Ich schickte Martin eine SMS und harrte der Antwort. Am Abend kam Schulz persönlich bei mir vorbeigebraust. Ganz natürlich und unverkrampft, im Volkswagen Multivan statt in der Limousine. Wir fuhren zur Metro, verdrückten in der Kantine ein Riesenschnitzel, tranken Weizenbier. Er erklärte mir die Sache ausführlich, sprach von historischem Materialismus und der List der Vernunft. Manchmal, sagte er, müsse man etwas unvorstellbar Böses tun, um dann fünfzehn Jahre später kleine Kurskorrekturen daran vorzunehmen. Ich verstand sofort. Pragmatismus, Kompromisse, Schlawinern für die gute Sache. Den Teufel mit der Cholera austreiben. Er zeigte mir vier Finger und fragte mich, wie viele Finger er gerade hochhalte, wusch mir das Gehirn mit Kernseife. Es wurde eine lange Nacht. Beim Abschied küsste ich ihn auf die Stirn und auf den Mund. Schon am nächsten Morgen nahm der Schulzzug wieder Fahrt auf. Mit mir vorne auf dem Prellbock, nackt bis auf eine rote Fahne, in die ich mich gehüllt hatte. Fahrplanänderung: ohne Halt Richtung nirgendwo. Es war mir gleich. Ich spürte nichts als aufrichtige Liebe zur Sozialdemokratie. Und unbändigen Hass auf diesen einen Quertreiber aus Wupswedel. Auch er würde noch auf den Schulzzug springen. Oder von ihm unbarmherzig zermatscht werden.