Whistleblower liefern Beweise, keine Neuigkeiten. Nun werden die Leaks von Rechten genutzt

Blowing’ in the Wind

Whistleblowing beweist, was man bereits wusste. Das kann nützlich sein. Wird es aber von Rechtslibertären gemanagt, führt es auf verschwörungstheoretische Abwege.

Früher war zwar nicht alles besser, die Enthüllung von Staats- und Betriebsgeheimnissen aber förderte Bedeutenderes zutage. Von Whistleblowing spricht man erst seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, doch die wohl spektakulärste und folgenreichste Veröffentlichung geheimer Dokumente erfolgte bereits vor 100 Jahren durch eine Zeitung, die später nicht für unnachgiebige Recherche und Wahrheitsliebe berühmt werden sollte. Im November 1917 veröffentlichte die Praw­da das Sykes-Picot-Abkommen über die Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich.

Die Enthüllung verstieß gegen alle Regeln der internationalen Beziehungen. Um der Dokumente habhaft zu werden, bedurfte es des ultimativen Regelverstoßes: der Revolution. Doch wie groß war die Überraschung wirklich? Die Dreistigkeit der Briten und Franzosen mag ebenso verblüffend gewesen sein wie die exakte Ausarbeitung der Aufteilung. Aber waren deren arabische Verbündete tatsächlich so naiv zu glauben, dass die Kolonialmächte, die damals den größten Teil des Planeten direkt oder indirekt beherrschten, ausgerechnet ihnen die vollständige Unabhängigkeit gewähren würden?

Fast alle Menschen lieben Geheimnisse, weil sie die Neugier wecken und die Phantasie anregen. Einmal enthüllt, sind sie aber meist gar nicht mehr so interessant. Ausgerechnet von Politikern, Bürokraten und Offizieren – nicht für ihren Esprit bekannte Berufsgruppen – aufregende Geheimnisse zu erwarten, wäre unangemessen. Überdies sind die Voraussetzungen dafür, ernstzunehmende Geheimnisse zu hüten, immer schlechter geworden. Diplomatische Verhandlungen werden nicht mehr von ein paar exzentrischen Aristokraten geführt, an ihnen sind Scharen von Bürokraten beteiligt. Auf allen Ebenen staatlicher Tätigkeit gibt es so viele Mitwisser, dass Leaks immer einkalkuliert werden müssen.

Auch um die verdeckte Militäroperation ist es in der Smartphone-Epoche schlecht bestellt. Als US-Präsident Richard Nixon 1969 die Bombardierung Kambodschas anordnete und dies geheimhielt, dauerte es fast zwei Monate, bis erste Berichte in der US-Presse erschienen. Kein Winkel des Planeten ist heute noch so abgelegen, dass nicht umgehend Fotos solcher Geschehnisse auftauchen würden.

Als wirklich sensationell kann denn auch keine Veröffentlichung von Wikileaks gelten, in der Regel wurde bestätigt, was man wusste, aber nicht beweisen konnte. Solche Enthüllungen sind nicht unwichtig. Der Whistleblower spielt eine ähnliche Rolle wie ein Privatdetektiv, der illegal die nötigen Beweise beschafft, um den Täter, den man längst kennt, zu überführen. Über dessen Motiv und Ziele sagen solche Beweise nichts aus und sie geben auch keine Auskunft darüber, wie derartige Taten in Zukunft verhindert werden können.

Die illegale Beweisbeschaffung ist weiterhin notwendig. Bürgerrechtsbewegungen ist es in einigen Staaten zwar gelungen, Gesetze durchzusetzen, auf deren Grundlage die Herausgabe von Informationen, die als Staatsgeheimnisse deklariert wurden, erzwungen werden kann. In den USA gelingt es einflussreichen NGOs wie der American Civil Liberties Union (ACLU) immer wieder, auf Grundlage des 1967 beschlossenen Freedom of Information Act die Veröffentlichung von Dokumenten zu erzwingen – ein vergleichbares Gesetz existiert in Deutschland nicht. Auch der Schutz von Whistleblowern kann gesetzlich geregelt werden (siehe Seite 5), allerdings nur, sofern sie Illegales enthüllen. Die Informationsfreiheit findet ihre Grenzen an der bürgerlichen Eigentumsordnung, die auf ein Betriebsgeheimnis nicht verzichten kann, und, nicht in allen Fällen zu Unrecht, an der »nationalen Sicherheit«. Wie bei anderen Regelverstößen bedarf es daher des Verantwortungsbewusstseins.

Ein solches Verantwortungsbewusstsein hat Wikileaks bei der Veröffentlichung persönlicher Daten nicht immer gezeigt. Dass die Enthüllungsplattform nun immer häufiger mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht wird, hat gute Gründe. »Ich liebe Märkte«, sagte Julian Assange 2010 dem Magazin Forbes. »Wikileaks wurde konzipiert, um den Kapitalismus freier und ethischer zu machen.« Er und seine Mitstreiter folgen einer rechtslibertären Ideologie der Durchsetzung ihrer eigenen Freiheitsrechte auch auf Kosten der Rechte anderer. Sie sind unpolitische Staatsfeinde, die sich nicht für die Produktionsverhältnisse oder irgendeine auf Ökonomie oder Gesellschaftswissenschaften basierende Analyse interessieren. So bleibt ihnen als Erklärung für das Böse in der Welt nur, die geheimen Machenschaften der Mächtigen zum Hauptproblem zu erklären. Das führt fast zwangsläufig auf den Weg der Verschwörungstheorie – die hier ausnahmsweise tatsächlich als Theorie gelten darf, da Assange seine Ideen 2006 in dem kurzen Essay »Conspiracy as Governance« darlegte – und zu eigenwilligen Feindbildern.

Mangels ausreichender Enthüllungen über Wikileaks ist die Beweisführung vorläufig auf Indizien und unüberprüfbare Aussagen angewiesen. Die Geheimdienste der USA gehen davon aus, dass die Informationen aus dem Hauptquartier der Demokraten (DNC), die Wikileaks veröffentlichte, von russischen Hackern mit Verbindungen zur Regierung beschafft wurden. In einem Metier, das alles andere als ein Refugium von liberals ist, zu einem Zeitpunkt, da Donald Trump seinen Kampf gegen die Geheimdienste noch nicht begonnen hatte, eine so umfassende Verschwörung zugunsten Hillary Clintons zu unterstellen, ist absurd. Eine smoking gun, einen unwiderlegbaren Beweis für die Urheberschaft des Hacks zu präsentieren, ist jedoch ausgeschlossen, schon weil jedes Dokument unter dem unüberprüfbaren Verdacht stünde, eine Fälschung zu sein.

Wikileaks begnügte sich nicht damit, auf der Anonymität seiner Quellen zu beharren. Julian Assange deutete an, der im Juli 2016 in Washington ermordete DNC-Mitarbeiter Seth Rich sei die Quelle gewesen. Auf die Aufklärung des Falls, der von der Polizei als Raubmord eingestuft wird, setzte Wikileaks 20 000 Dollar Belohnung aus – eine recht ungewöhnliche Maßnahme für ein Enthüllungsportal. Dass Rich (und nicht nur er) Killern zum Opfer fiel, die von den Clintons angeheuert wurden, ist eine unter US-Rechten beliebte Verschwörungstheorie. Sie wird unter anderem von Trumps Wahlkampfberater Roger Stone propagiert, der nach eigenen Angaben mit Assange in Kontakt steht.

Verdächtig ist nicht nur das Timing der Enthüllungen. Der Wahlkampf wurde begleitet von Wikileaks-Tweets wie »Nach unserer Analyse hat Trump bezüglich TPP recht« und »Trump hat recht, die Zerstörung Libyens ist vor allem ein Ergebnis der Handlungen Clintons«. Kein Wunder also, dass die populistische und extreme Rechte nun ihre Ansichten über den »Verräter« Assange revidiert.

Dies führt zu der paradoxen Situation, dass die Leaker und ihnen verbundene Publizisten sich über Leaks empören, die Trump zum Nachteil gereichen. Glen Greenwald etwa sieht die Verschwörung eines deep state am Werk. Sieht man davon ab, dass ein erheblicher Teil der Enthüllungen wahrscheinlich seinen Ursprung im Machtkampf zwischen Rechtsextremen, republikanischem Establishment und anderen Fraktionen in der Regierung hat, fehlt jeder Beweis für ein organisiertes Netzwerk, das gegen Trump arbeitet. Was als deep state oder permanent government bezeichnet wird, ist nichts anderes als die Bürokratie, die in jedem entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Staat die Kontinuität gewährleistet.

Diese Bürokraten leisten ihren Eid auf die Verfassung, nicht auf den Präsidenten. Was also tun, wenn der Präsident oder einer seiner Mitarbeiter die Verfassung bricht, illegal handelt, vielleicht gar mit einer ausländischen Macht konspiriert, man auf dem Dienstweg aber nichts dagegen tun kann? Doch selbst wenn weniger edle Regungen wie Rache für Beleidigungen Trumps oder institutionelles Eigeninteresse das Motiv sind, gibt es keinen Grund, in diesen Leaks etwas anderes als Whistleblowing zu sehen.

Wikileaks arbeitet mittlerweile selbst wie ein Geheimdienst mit dubioser Agenda, undurchschaubaren Führungsstrukturen und fragwürdigen Methoden. Die Enthüllungsplattform reproduziert die Strukturen, die sie zu bekämpfen vorgibt. Völlige Transparenz und demokratische Kontrolle kann es zwar nicht geben, wenn es um Verstöße gegen das bürgerliche Recht geht, doch sind an das Whistleblowing ähnliche Ansprüche zu stellen wie an linke Organisations- und Aktionsformen: der Standard der bürgerlichen Demokratie sollte übertroffen, darf aber keinesfalls unterschritten werden. Wer Schutzrechte gegen staatliche Überwachung in Anspruch nehmen will, darf nicht seinerseits ausgesprochen Intimes wie etwa die im vorigen Jahr geleakte E-Mail über die angebliche Suizidgefährdung einer Mitarbeiterin der Clinton Foundation und die dafür Verantwortlichen posten.

Für die Entpolitisierung der Debatte ist Wikileaks nicht verantwortlich, die Enthüllungsplattform nutzt sie nur aus. Niemand war gezwungen, den inhaltlich dürftigen Resultaten der Hillary-Hacks Beachtung zu schenken. Gerade wer für ein demokratischeres System als das parlamentarisch-kapitalistische kämpft, sollte eigentlich nicht erstaunt sein, dass im Establishment intrigiert wird. Und darüber nachdenken, warum es einer Frau auf rational kaum noch erklärbare Weise sehr, sehr übel genommen wird, dass sie dieses Spiel so gut spielt. Radikale Kritik jedenfalls sollte dem Normalbetrieb des Kapitalismus gelten und nicht erst den tatsächlich oder vermeintlich skandalösen Regelverstößen.

Sie muss derzeit aber auch berücksichtigen, dass die bürgerliche Demokratie durch jihadistischen und nationalistischen Terror, Rechtspopulismus und -extremismus sowie die Interventionen von Diktatoren und Autokraten gefährdet ist. Mögen die Motive der Whistleblower unklar bleiben und die meisten Verbindungen ebenso, so genügen die Indizien doch für die Feststellung, dass Wikileaks in dieser Auseinandersetzung der extremen Rechten in den USA und Russland zuarbeitet.