Der beliebige Herr Schulz und die die alte Tante SPD

Hundertprozent beliebig

Eine Partei im Rausch: Martin Schulz wurde auf dem Bundesparteitag der SPD mit 605 von 605 gültigen Stimmen zum neuen Bundesvor­sitzenden und zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten gewählt. Ein paar Fragen bleiben.

Seit am 24. Januar bekannt wurde, dass Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel das Amt des SPD-Vorsitzenden an Martin Schulz abtreten würde, wirkt die älteste Partei des Landes wie ein Rentner auf Speed, dem von der AOK Turboherzklappen spendiert wurden. Kaum ward der »Mann aus Würselen«, als der sich Schulz gerne bezeichnet, aufs Schild gehoben, brachen alle sozialdemokratischen Dämme. Seit den Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder war die SPD kaum mehr als scheintot gewesen. Egal was sie in zwei Großen Koalitionen auf den Weg brachte, es nutzte ihr nichts: Mindestlohn, »Mietpreisbremse«, Meister-BAföG, eine Frauenquote bei Führungspositionen, die doppelte Staatsbürgerschaft oder mehr Kindergeld und BAföG – die SPD kam in den Umfragen nur noch auf knapp über 20 Prozent. Für eine Partei mit dem Anspruch, irgendwann einen Kanzler oder eine Kanzlerin zu stellen, ein lächerliches Ergebnis. Bis zu Gabriels Rücktritt schien klar: Angela Merkel (CDU) wird im Herbst wieder Kanzlerin werden. Die Frage war nur, ob sie sich mit den Stimmen der Grünen oder der SPD wählen lassen würde. Das hat sich nun geändert. Schulz, einstmals Bürgermeister der Gemeinde Würselen bei Aachen und den meisten bestenfalls als Präsident der Europaparlaments bekannt, versetzt die SPD und ihre Anhänger in Verzückung: neun Prozentpunkte Zuwachs in den Umfragen, 13 000 neue SPD-Mitglieder und ein Hype im Internet, wie es ihn bislang in Deutschland nicht gab. Der Mann mit dem Vollbart und dem Haarkranz wurde der Schulzzug, der nicht zu stoppen ist, der künftige Gottkanzler Schulz. Schulz, der als Europaabgeordneter und Parlamentspräsident mit schätzungsweise 280 000 Euro netto im Jahr deutlich mehr verdiente als Bundeskanzlerin Merkel, schafft es, sich als einfacher Mann aus dem Volk zu verkaufen, dessen Wurzeln in der Kommunalpolitik liegen und der ganz nah an den einfachen Menschen und ihren Problemen ist. Sicher, Schulz’ Biographie ist beeindruckend. Er ist trockener Alkoholiker und wurde ohne Abitur und Studium zu einem der wichtigsten Politiker Europas. Und wer Schulz vor Jahren reden gehört hat, weiß, dass er nicht nur ein hervorragender Redner ist, sondern für das Thema Europa brannte. Kaum einer konnte so überzeugend wie Schulz darüber sprechen, dass nationale Grenzen nicht mehr in die Zeit passten, dass Europa zusammenwachsen müsse und die Zeit der Nationalstaaten vorbei sei. Wie kein anderer deutscher Politiker nach Helmut Kohl stand Schulz für das Projekt der europäischen Einheit. Auf anderen Politikfeldern war Schulz bislang eher beliebig. Als Mahmoud Abbas, der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, im vergangenen Sommer in seiner Rede vor dem Europaparlament die antisemitische Legende der jüdischen Brunnenvergifter zum Besten gab, sagte Schulz später, die Rede sei inspirierend gewesen. Ganz sozialdemokratischer Parteisoldat, lobte Schulz noch 2014 die »Agenda 2010«: »Dass es Deutschland heute besser geht als vielen anderen europäischen Staaten, hängt vor allem mit der Agenda 2010 zusammen.« Das Zitat wurde mittlerweile von der SPD-Website entfernt, passt es doch nicht zum Thema Gerechtigkeit, das Schulz in das Zentrum seines Wahlkampfes stellen will. Schulz will sich im Wahlkampf als einfacher Mann aus dem Volk mit Bodenhaftung präsentieren, der mit dem Berliner Politikzirkus nichts zu tun hat und mit beiden Beinen fest im Staub der Rübenfelder seiner Heimat Würselen steht. Und bei dem es einen nicht wundern würde, wenn er voller Inbrunst den Song »Biergarten Eden« von K.I.Z. anstimmen würde, um seine Wähler zu beschreiben: »Bescheidene Menschen, einfache Menschen, Arbeiter, Handwerker, fleißige Menschen.« Unklar bleibt, was er genau will und mit welchem Koalitionspartner er sein nicht vorhandenes Programm umsetzen möchte. Bislang ist Schulz ein Medienphänomen, ein Hype, ein sozialdemokratischer Fiebertraum vom Erfolg. Eine Projektionsfläche für Sozialdemokraten und viele, die von den Grünen, der AfD oder der CDU/CSU zur SPD zurückkehren sollen. So viel Schulz auch von mehr Gerechtigkeit redet – so genau weiß niemand, was er damit meint und wie er die vermisste Gerechtigkeit herstellen will. Schulz redet viel von Einzelschicksalen, vom treuen Eisenbahnwerker, der Angst davor hat, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, und von den Jungakademikern, die keine Stelle finden. So herzergreifend die Geschichten auch sein mögen und so menschlich sie Schulz machen, haben sie doch einen Nachtteil: Sie stimmen nicht. Die FAZ recherchierte Schulzens dramatische Geschichte des von Arbeitslosigkeit bedrohten Bahnarbeiters nach, die der neue Hoffnungsträger der SPD nach einem Besuch in einem Bahnwerk in Neumünster erzählte, und stellte fest: »Es gibt für unseren Bahnwerker viele gute Gründe, sich den Erhalt seines Werks zu wünschen und die Alternativen zu scheuen. Die realistische Gefahr, irgendwann Hartz IV zu beziehen, gehört allerdings nicht dazu. Noch immer zählt ein Job bei der Bahn zu den sichersten Arbeitsverhältnissen in der Republik.« Und dass 40 Prozent der 25- bis 35jährigen nur befristete Jobs hätten, wie Schulz empört behauptete, trifft nicht zu: Es sind nur knapp 14 Prozent. Schulz ist ein großer Erzähler, bislang aber auch nicht mehr. Wie er eine bessere soziale Absicherung finanzieren möchte, wie Aufstiegs- und Bildungschancen verbessert werden und Schulen renoviert werden sollen, sagt er nicht. Klar ist nur, er will keine Steuern senken. Aber wird das allein ausreichen? Was man weiß, ist, dass Schulz an den Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger nichts ändern will. »Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen«, sagte er der Rheinischen Post. Es gehe darum, »dass sich selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregeln halten und etwa verabredete Gesprächstermine einhalten«. So sehr er von Gerechtigkeit und den Sorgen der einfachen Menschen redet, so wenig scheint er zu wissen, wie die Praxis in den Arbeitsagenturen aussieht. Niemand kann sagen, was Schulz genau will, nur eines ist bislang klar: Nichts von dem, was er auf seiner Rede auf dem Parteitag am Wochenende gesagt hat, ist neu – abgesehen vom »Arbeitslosengeld Q«, das während Qualifikationen gezahlt werden soll. Und alles könnte wahrscheinlich von der SPD bequem, auch ohne den Kanzler zu stellen, in einer Großen Koalition realisiert werden. Schulz’ Programm heißt: Schulz. Es ist der Wille, ohne jeden größeren Gestaltungswillen an die Macht zu kommen. Diese Beliebigkeit kommt an. Ihre Erfinderin, die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), regiert auf diese Weise seit 2010 das bevölkerungsreichste Bundesland und hat gute Aussichten, dies auch nach der Landtagswahl am 14. Mai zu tun. Wie Schulz ist Kraft eine Meisterin der Beliebigkeit und der warmen Worte. Dass ihr Bundesland etwa bei der Kinderbetreuung oder den Chancen von Langzeitarbeitslosen, wieder einen Job zu finden, weit unter dem Durchschnitt aller Länder liegt, stört weder Kraft noch ihre Partei und offenbar auch nicht die Wähler. In den Umfragen zur Landtagswahl liegt die SPD um die 40 Prozent. Da die Grünen sich gerade mit der Geschwindigkeit eines fallenden Dinkelbrots der Fünfprozenthürde nähern und die Fortsetzung der bisherigen Koalition aus SPD und Grünen unwahrscheinlich ist, während die FDP bei üppigen neun Prozent liegt, könnte Kraft ab Mai mit den Liberalen regieren. Oder auch mit der CDU. Oder mit Rot-Rot-Grün. Für Kraft wäre das alles inhaltlich so egal wie für Schulz. Hauptsache, die SPD stellt den Regierungschef und es gibt nicht jeden Tag Krach in Kabinett und Parlament. Die SPD-Parteibasis will nur eines: endlich wieder erfolgreich sein. Und Erfolg hat schon lange nichts mehr mit tatsächlicher Politik zu tun, sondern mit guten Umfrage- und Wahlergebnissen und vielen geteilten Memes auf Facebook. Auch Schulz hat daran nichts geändert. Er hat die Leere bei den Sozialdemokraten nur in einer Sprache verpackt, die diesen bekannt vorkommt. Immerhin ist diese Sprache sozialdemokratisch und nicht mehr grün. Doch dass der Sprache die Inhalte folgen, ist eher unwahrscheinlich.