Die Verteilung der chinesischen Handelsgewinne verläuft unfair

Überschuss und Überdruss

China ist durch den Exporthandel zu einer Wirtschaftssupermacht geworden. Die wirtschaftliche Liberalisierung hat dem Land zwar immensen Reichtum beschert, inzwischen wachsen aber die Spannungen wegen dessen ungleicher Verteilung.

»Wir dürfen es nicht weiter zulassen, dass China unser Land vergewaltigt«, sagte Donald Trump in einer Wahlkampfrede im vergangenen Jahr. China »unfaire Handelspraktiken« vorzuwerfen, gehört bis heute zum Standardrepertoire Trump’scher Rhetorik. Ihm geht es dabei um den Handelsüberschuss, den China gegenüber den Vereinigten Staaten und einem Großteil des Rests der Welt hat. In den USA ist das zu einer politisch höchst aufgeladenen Angelegenheit geworden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben niedrige Lohnkosten in China es chinesischen Exporten ermöglicht, globale Märkte zu erobern und andere Produzenten zu verdrängen. Der »China Shock« trug in den USA zu einem Prozess bei, der den gesamten Arbeitsmarkt verändert hat. Eine jüngst in Annual Review of Economics erscheinene Studie der Wirtschaftswissenschaftler David Autor, David Dorn und Gordon Hanson über den »China Shock« hat in den Regionen der USA, die am stärksten von der chinesischen Konkurrenz betroffen sind, dauerhaft erhöhte Arbeitslosigkeit, hohe Arbeitsplatzfluktuation und eine niedrigere Lebenserwartung festgestellt. Für US-amerikanische Fabrikarbeiter bedeutet das die Zerstörung ihrer gewohnten Lebensweise – diese Untergangsstimmung war sehr förderlich für Trumps Kampagne aus aggressivem Nationalismus und Protektionismus, die ihm im vergangen November die Präsidentschaft einbrachte.

In China selbst hat die Exportwirtschaft aber zu noch viel gewaltigeren gesellschaftlichen Veränderungen geführt – und einem trade shock ganz eigener Art. Als Deng Xiaoping 1978 den Prozess der Marktliberalisierung einleitete, führte dies in China zu einem Jahrzehnt ansteigenden Wachstums, das in erster Linie auf einem Arbeitskräfteüberschuss aus dem ländlichen Raum beruhte. In den frühen Neunzigern begann diese Entwicklung zu erlahmen. Zhu Rongji, der chinesische Premierminister und Architekt der heutigen chinesischen Wirtschaft, beschloss, sich auf den Export als neuen Motor wirtschaftlichen Wachstums zu konzentrieren. Es gab einen Überschuss an ungelernten Arbeitskräften und die Industrieländer wollten billige Konsumgüter. Diese Politik bescherte der chinesischen Wirtschaft weitere anderthalb Jahrzehnte stetigen Wachstums. Aus einem Dritte-Welt-Land ist eine prosperierende Industrienation geworden. 600 Millionen Menschenwurden aus der Armut befreit.

Doch neben deutlich ertragreicheren Arbeitsplätzen als denen in der traditionellen Landwirtschaft und damit einhergehender Prosperität hat der Handel dem Land auch eine gewaltige soziale Ungleichheit beschert. Wo die gegenseitigen Handelsbeziehungen in den USA Gewinner und Verlierer hervorgebracht haben, ist es in China angebrachter, von Verlierern, Gewinnern und Supergewinnern zu sprechen. Vor der Marktliberalisierung von 1978 waren die Chinesen arm, aber im Wesentlichen alle gleich arm. Die Marktliberalisierung hat dazu geführt, dass die immensen Gewinne vor allem der urbanen Führungsschicht in den Küstenregionen zugeflossen sind. Schätzungen zufolge sind Einkommen und Vermögen in China inzwischen signifikant ungleicher als verteilt als in den USA oder der Bundesrepublik. Marx und Mao bleiben gleichwohl ungebrochen Pflichtlektüre auf allen Ebenen von Bildung und Ausbildung. Nicht zu übersehen ist der Widerspruch zwischen der egalitären Rhetorik der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und dem Anblick von Lamborghinis, die auf der Nanjing-Straße von Schanghai an Luxusläden und schicken Apartmentkomplexen vorbeicruisen. Langfristig lässt sich das auch nicht durch den insgesamt gestiegenen Lebensstandard kaschieren. Korruptionsfälle wie der des 2014 in Ungnade gefallenen und inzwischen verstorbenen ehemaligen Politbüromitglieds General Xu Caihou, in dessen 2 000-Quadratmeter-Villa riesige Bargeldvorräte konfisziert wurden, erregen die Gemüter chinesischer Netzbürger. Die Wut über solche Fälle kann zwar als Ventil für sich aufstauenden gesellschaftlichen Unmut dienen und so von wesentlich grundsätzlicheren strukturellen Problemen ablenken, zugleich untergraben solche Fälle aber auch den alleinigen Führungsanspruch der Partei.

Wo die gegenseitigen Handelsbeziehungen in den USA Gewinner und Verlierer hervorgebracht haben, ist es in China angebrachter von Verlierern, Gewinnern und Supergewinnern zu sprechen.

Neben der steigenden Ungleichheit hat Chinas trade shock auch das ökonomische und kulturelle Gefälle zwischen Stadt und Land verschärft. Die Zuwanderung ländlicher Arbeitsmigranten in die großen Küstenstädte, wo sie zumeist einfache Arbeiten verrichten, sorgt für Unmut zwischen ihnen und den Städtern. Städter beklagen sich über die gedrängten Lebensverhältnisse und schlechtes Benehmen auf öffentlichen Plätzen. Zuwanderern stößt auf, wie ihnen der Zugang zu den Vorteilen des städtischen Lebens verwehrt wird. Eines der größten Hindernisse besteht für sie in dem hokou-Meldesysten (Jungle World 6/2017). Hokou bedeutet so viel wie »eingetragener ständiger Wohnsitz«. Früher waren Familien an den Ort ihrer Registrierung gebunden – das sollte eine Massenabwanderung in die Städte verhindern. Familienmitglieder behalten auch heute das hokou ihres Herkunftsorts, wodurch bestimmt wird, an welchem Ort sie Zugang zu Sozialleistungen haben. Während es heute Arbeitsmigranten eines ländlichen hokou erlaubt ist, in einer Stadt zu arbeiten, bleiben ihnen die besseren Sozialleistungen der Städte verwehrt, wozu auch Krankenhäuser und Bildung gehören. Es zwingt die Binnenmigranten, ihre Kinder auf dem Land zu lassen, da es ihnen nicht erlaubt ist, in den Städten zur Schule zu gehen.

Das Phänomen der »zurückgelassenen Kinder« nagt am Gewissen einer Gesellschaft, die historisch auf einem konfuzianischen Familienethos gründet. Kindererziehung hat in China traditionell einen sehr hohen Stellenwert. So löste das Microblog der Teenagerin Zhan Haite eine nationale Debatte aus, weil sie davon berichtete, wie sie in Schanghai, dem Arbeitswohnsitz ihrer Eltern, um einen Schulplatz kämpfte. Es führte zu Fragen über die sozialen und moralischen Implikationen der Tatsache, dass schätzungsweise 61 Millionen Kinder praktisch ohne ihre Eltern aufwachsen. Weil städtische Politiker ihre höherwertigen Sozialsysteme nicht durch ein Aufweichen des hokou-Systems belasten wollen, bleibt diese Spannung bestehen.

Insofern sind die Folgen des Handelsüberschusses zwischen China und den USA durchaus vergleichbar. Für beide Länder stellt sich die Frage der immer ungleicheren Verteilung der Vorteile und Gewinne. In den USA trug das maßgeblich zum Wahlsieg Donald Trumps bei. Auch wenn Chinas autoritäres System den Aufstieg eines populistischen und nationalistischen Kandidaten, der sich in einer Anti-Establishment-Pose präsentiert, nicht zulässt, gibt es immer mehr Anzeichen, dass der Unmut über ungleiche Verteilung der Handelsgewinne wächst. Inzwischen wird China von der Weltbank als »Land mittleren Einkommens« eingestuft, was bedeutet, dass Löhne in etwa vergleichbar sind mit denen in Brasilien oder der Russischen Föderation, und Chinas arbeitende Bevölkerung beginnt die Verteilung dieses Einkommens in Frage zu stellen. Der Druck auf das bestehende ökonomische System, eine größere Einkommensgleichheit herzustellen, wächst und die Spannungen zwischen städtischer Bevölkerung und ländlichen Arbeitsmigranten steigen. Während China bereits im Begriff ist, seine Wirtschaft von Export auf inländischen Konsum zu reorientieren, werden die Rufe nach Umverteilung und Zugang zu Sozialleistungen für Arbeitskräfte vom Land lauter. So wird sich die aufsteigende Supermacht China letztlich den Folgen des USA-Handels genauso wenig entziehen können wie sein Gegenüber auf der anderen Seite des Pazifik.

Übersetzung: Carl Melchers