Der Mord an Jo Cox und das britische Referendum

Am Wendepunkt

Nach dem Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox versuchen konservative Befürworter eines EU-Austritts, sich von Rechtsextremen und Rassisten zu distanzieren.

So viel Hetze hat Großbritannien wohl selten erlebt. Kurz vor dem Referendum über den EU-Austritt, das in dieser Woche stattfinden soll, ließ die »Leave«-Kampagne alle Hemmungen fallen. Plakate der rechtspopulistischen Partei Ukip zeigen einen scheinbar endlosen Zug von Flüchtlingen. »Breaking Point« steht in dicken ­Lettern darüber. Die Befürworter des Austritts prophezeien den Untergang des Landes, weil angeblich mit Hilfe der EU Millionen ­Migranten ­ungehindert ins Land kommen könnten. Wer gegen den Austritt stimmt, so lautet die unterschwellige Botschaft, unterstütze Wirtschaftsflüchtlinge, Schleuserbanden und skrupellose EU-Bürokraten. »Wir wollen unser Land zurück«, lautet die Parole.
»Mein Name ist Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien«, schrie denn auch der Mörder der Labour-Abgeordneten Jo Cox, als er vor Gericht vernommen wurde. Er mag als Einzelner gehandelt haben und zudem wohl psychisch labil sein. Doch ohne die vor­ausgegangene Aufwiegelung der »Leave«-Kampagne ist seine Tat von vergangener Woche kaum vorstellbar. In seinem Wahn, das Land vor dem Untergang zu bewahren, schien Cox für ihn das perfekte Opfer: eine Abgeordnete, die die mächtige wie anonyme EU verteidigte und die sich für Migranten einsetzte. Auf sie projizierte der Attentäter alles, was ihm verhasst ist.
So funktioniert mittlerweile fast überall die Propaganda der Nationalisten, die sich damit brüsten, Volk, Heim und Vaterland zu verteidigen. Eine Propaganda, die sich zunehmend verselbständigt, nicht nur in Großbritannien. Ein entsprechendes Bild skizzierte die Studie »Enthemmte Mitte«, die vergangene Woche vorgestellt wurde, auch für Deutschland. In der Mitte der Gesellschaft sei ein »völkisches Potential« erwacht, heißt es darin, das mehr und mehr zur Gewalt dränge. In vielen anderen europäischen Staaten sind die Entwicklungen vergleichbar.
Mit dem Mord an Cox könnte nun aber tatsächlich ein »Breaking Point« verbunden sein, wenn auch in anderer Hinsicht, als es sich die Ukip-Führung vorgestellt hat. Kurz nach dem Mord gaben zahlreiche Politiker und Medien der Kampagne zumindest eine indirekte Mitschuld daran. Selbst führende Konservative distanzieren sich von der rassistischen Agitation. Die ehemalige Co-Vorsitzende der Tories Sayeeda Warsi, sagte sich am Wochenende öffentlich von den Befürwortern eines EU-Austritts los. »Wollen wir wirklich ­Lügen erzählen und Hass und Fremdenfeindlichkeit verbreiten, nur um eine Kampagne zu gewinnen?« fragte sie in der Times. Der konservative Finanzminister Oswald Osborne verglich die Ukip-Plakate mit Nazi-Propaganda. »Wenn du Politik als eine Angelegenheit von Leben und Tod präsentierst«, heißt es im Spectator, dem Magazin, für das der Austrittsbefürworter und ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson, lange arbeitete, »dann sei nicht überrascht, wenn dich jemand beim Wort nimmt.« Johnson und andere führende konservative Politiker beeilen sich nun, sich von der Ukip zu distanzieren, während sie in den Wochen zuvor keine Berührungsängste kannten.
Womöglich kommt für sie diese Reaktion zu spät. In den Um­fragen liegen die EU-Befürworter wieder knapp vorne. Ohne die hysterische Polarisierung verfängt die »Leave«-Kampagne nicht mehr. Doch auch wenn das Referendum scheitern sollte, der Hass wird bleiben.