Die hohe Zustimmung unter Deutschtürken zu Erdoğans Referendum hat die Integrationsdebatte neu entfacht

Die Last mit dem Evet

Die Zustimmung deutschtürkischer Wähler zur Einführung des Präsidialsystems in der Türkei war überdurchschnittlich hoch. Deshalb wird in Deutschland erneut eine Integrationsdebatte geführt.

Es war tatsächlich knapp. Prognosen hatten zwar auf einen solchen Ausgang hingedeutet. Doch selbst Optimisten hatten kaum mehr daran geglaubt, dass am Ende eine Mehrheit gegen den Plan Recep Tayyip Erdoğans stimmen würde, in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen. Als dann sowohl das Ergebnis in der Türkei als auch das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken vermeldet wurde, war die Erschütterung groß. Siegte Erdoğan insgesamt nur knapp mit 51,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, war die Zustimmung unter den Wählern in Deutschland deutlich höher: Über 63 Prozent unterstützten Erdoğan und das Präsidialsystem. Im Wahlbezirk des türkischen Konsulats in Essen waren es sogar über 75 Prozent. Die Mehrheit der deutschtürkischen Wahlbeteiligten befürwortet damit einen Umbau der Türkei zu einem noch autoritäreren, islamistisch-nationalistischen Staat.

Dies befeuerte eine bereits laufende Integrationsdebatte, die auch in den Parteien geführt wird. Cem Özdemir hatte beispielsweise schon Umzugsempfehlungen ausgesprochen. Als der Spitzenkandidat der Grünen Ende März in Duisburg-Marxloh aufgetreten war, hatte er an die Adresse der Anhänger des türkischen Präsidenten gesagt: »Wer findet, dass das mit Erdoğan so super ist, der kann auch gerne dort leben.« Seine Parteikollegin Claudia Roth will offenbar lieber auf die Anhänger des türkischen Präsidenten zugehen. Der Welt sagte sie nach der Abstimmung: »Wir müssen uns extrem bemühen um diese Menschen, die glauben, dass Erdoğans Putsch von oben gut sei für die Türkei.« Die mangelhafte Integrationspolitik Deutschlands ist Roth zufolge der Hauptgrund für die autoritäre Sehnsucht vieler Deutschtürken.

Alle Parteien verlangen Konsequenzen. Doch Forderungen nach einem Ende der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft der Türkei klingen bedeutsamer, als sie sind.

Roth dürfte es um Menschen wie Özden Ipek gehen. Der IT-Spezialist, in der FAZ im Jahr 2009 noch als Beispiel für eine erfolgreiche Integration gefeiert, gibt mittlerweile Istanbul als seinen Wohnort an. Auf Facebook schrieb Ipek kurz nach der Wahl in einem Beitrag, der von vielen Anhängern Erdoğans geteilt wurde: »Koalitionen und Kompromisse sind nichts für uns. Wir sind keine Europäer, die sich einigen und sich dabei wohlfühlen. Für unsere Mentalität sind Kompromisse Niederlagen, wir hassen es, uns auf unser Gegenüber einzustellen und ihm auch Erfolge zu gönnen.« Ipek kam zu folgendem Schluss: »Aus diesem Grund braucht die Türkei ein politisches System, das ihrem Volkscharakter und ihrer Mentalität entspricht.« Für ihn ist das ein auoritäres Präsidialsystem mit Erdoğan an der Spitze.

Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz wies im Tagesspiegel darauf hin, dass von den 3,5 Millionen Deutschtürken »zwei Millionen gar nicht wahlberechtigt« seien, weil sie die türkische Staatsbürgerschaft nicht mehr besäßen. Für die Verfassungsänderung hätten 450 000 Deutschtürken gestimmt. »Das sind knapp 13 Prozent. Das ist schlimm genug. Aber kein Grund, alle Deutschtürken über Erdoğans Kamm zu scheren«, so Polenz.

Thomas Schmid sah in der Welt keinen Grund zur Entwarnung. Man müsse sich »schon fragen, warum die Hälfte der Stimmberechtigten aus ihren Erfahrungen mit der deutschen Demokratie und Zivilgesellschaft nicht den Schluss gezogen hat, man sollte Erdoğan besser in die Parade fahren«. Schmid kam zu dem Ergebnis: »Der Doppelpass ist nicht der Königsweg zur Integration. Offenbar ermöglicht er es vielen, zwar deutscher Staatsbürger zu werden, zu Deutschland und seinen Werten aber auf Distanz zu bleiben.« Führende CDU-Politiker wie Thomas Strobl sehen es ähnlich: »Ich halte es für falsch, wenn doppelte Staatsbürgerschaften über Generationen hinweg geführt werden.« Die SPD hält dagegen, der sogenannte Doppelpass könnte zum Wahlkampfthema werden. Andere, wie der FDP-Politiker Tobias Huch, wollen sich auf die Gegner Erdoğans konzentrieren: »Statt uns um die Türken zu kümmern, die mit ›Ja‹ gestimmt haben, sollten wir den ›Nein‹-Wählern den roten Teppich ausrollen, denn sie verdienen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und Solidarität.«

Ob Linkspartei, CDU, FDP, Grüne oder Sozialdemokraten – alle Parteien verlangen Konsequenzen. Doch Forderungen nach einer Beendigung oder einer Unterbrechung der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft der Türkei klingen bedeutsamer, als sie sind. Die Türkei wird aller Voraussicht nach niemals ein Vollmitglied der Europäischen Union, das ist allen Beteiligten seit Jahren bewusst. Ob die Finanzhilfe der EU, die für die wirtschaftlich angeschlagene Türkei wichtig ist, in Zukunft eingestellt wird, ist noch unsicher. Vieles wird darauf ankommen, wie sich Erdoğan in den kommenden Monaten verhält.

In einer gemeinsamen Erklärung verwendeten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Gegensatz zu vielen Parteipolitikern deeskalierende Floskeln: Das Abstimmungsergebnis bedeute »große Verantwortung für die türkische Staatsführung und für Präsident Erdoğan persönlich«. Die Bundesregierung erwarte, dass die türkische Regierung »nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht«. Gabriel sprach sich in einem Interview mit der Bild-Zeitung zudem gegen »vorschnelle und meist verbalradikale Vorschläge« aus, wie etwa zum »sofortigen Abbruch aller Gespräche mit der Türkei«. Konkrete Absichten zum weiteren Umgang mit dem Land äußerte er im Gespräch mit der Rheinischen Post: Die Menschen in der Türkei bräuchten keine guten Ratschläge, sondern Hilfe. Es gehe auch darum, »dass wir Journalistenaustausche organisieren, dass wir vor Ort Projekte durchführen, etwa zur Unterstützung von Medienprojekten und unabhängiger Berichterstattung«. Um türkische Wissenschaftler zu unterstützen, habe sein Ministerium bereits »Stipendienangebote aufgesetzt«. Und um junge Menschen geht es Gabriel: »Gerade der Jugendaustausch liegt mir sehr am Herzen, wir wollen noch in diesem Jahr die Förderung erheblich aufstocken.«

Trotz der keinesfalls konfrontativen Politik der Bundesregierung stehen Erdoğans Anhänger in Deutschland vor allem in den Medien unter größerem Druck als sonst. Das dürfte dem türkischen Präsidenten recht sein. Er lehnt es ab, dass sich »seine« Türken, ob Gefolgsleute oder nicht, in Europa assimilieren. Das ist, zumindest was seine Anhänger betrifft, nicht mehr wahrscheinlich. Ihnen mangelnde Integration vorzuwerfen, ganz so, als handele es sich um ungezogene Kinder, verfehlt jedoch die Sache. Ihnen, anders als rechtsextremen deutschen Wählern, Strafen oder gar Abschiebungen anzudrohen, wäre rassistisch. Sie sind Autoritäre islamistisch-nationalistischer Prägung und sie sind dies aus freien Stücken. Die Mehrheitsfähigkeit solcher rechtsextremer Milieus zu verhindern, ist notwendig. Aber das ist kein exklusiv deutschtürkisches Problem.

Die Diskussion über die Konsequenzen aus der mehrheitlichen Zustimmung deutschtürkischer Wähler zu Erdoğans Politik wird auch in linksradikalen Kreisen geführt, die für ihren Hang zu Solidarität mit Israel, für eine gewisse Distanz zu Deutschland und Medienberichten zufolge auch für wilde Sexpartys bekannt sind. Tatsächlich wünschen sich auch einige aus dem antideutschen Milieu einen Türken-Austausch: Die offenen und liberalen Türken, die mit »Hayir« gestimmt haben, sollten doch bitte nach Deutschland kommen. Alle, die mit »Evet« für Erdoğan gestimmt haben, könnten dafür gehen. Andere gingen deutlich weiter. »Bei den ganzen Spacko-Türken plädiere ich ganz offen für Abschiebung. Da will ich auch niemanden re-educaten. Alle raus«, forderte ein antideutscher User auf Facebook, etliche pflichteten ihm bei. In einer geschlossenen Facebook-Gruppe wurden solche Diskutanten von einer antideutschen Genossin zur Ordnung gerufen: Antideutsche, für die »unter bestimmten Umständen Abschiebungen« akzeptabel seien, sollten ihre Forderungen »nicht mehr unter einem linken Gewand« vorbringen. »Es gibt da bereits eine sehr passende Partei für euch; sie ist blau«, schrieb sie und erntete damit viel Zuspruch.