Die militärischen Ambitionen der türkischen Regierung im Nordirak

Konflikte mit Geschichte

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die irakische Regierung mit seinen Ansprüchen auf Mossul und seiner Interventionspolitik im Nordirak verärgert.

Da fühlte sich der türkische Präsident Ende Oktober von der irakischen Regierung nun wirklich missverstanden. »Ich habe doch nur Geschichtsunterricht gegeben«, sagte Recep Tayyip Erdoğan. »Mossul hat uns gehört«, habe er nur gesagt, und außerdem: »Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig« gezogen. Im Irak sieht man die Sache auch historisch, aber anders. Auf einer Demonstration trugen irakische Schiitinnen und Schiiten Plakate mit den Worten »Die Zeit der osmanischen Besatzung ist zu Ende« – in fehlerhaftem Türkisch.
Es sieht fast so aus, als wolle Erdoğan der irakischen Regierung nicht nur eine historische, sondern notfalls auch eine militärische Lektion erteilen. Anstatt, wie von der irakischen Regierung gefordert, türkische Truppen aus dem Irak abzuziehen, wurde am 1. November mit der Verlegung einer Brigade mit Panzern, Pioniergerät und Baumaschinen an den türkisch-irakischen Grenzübergang bei Silopi begonnen. Der türkische Verteidigungsminister Fikri Işık warnte vor der Überschreitung »roter Linien«. Als solche benannte er die »Terrorisierung« der mehrheitlich turkmenischen Bevölkerung der Stadt Tal Afar durch schiitische Milizen oder die PKK. Im Oktober hatte Erdoğan sogar das Eindringen schiitischer und kurdischer Milizen in das mehrheitlich von sunnitischen Arabern bewohnte Mossul abgelehnt.
Dass sich die Türkei plötzlich so sehr für den Schutz der turkmenischen Bevölkerung von Tal Afar interessiert, ist auffallend. Die Stadt liegt etwa 60 Kilometer westlich von Mossul und rund 90 Kilometer Luftlinie von der irakisch-türkischen Grenze entfernt. Türkische Truppen, die in Tal Afar eingreifen wollen, müssten entweder den Weg über Mossul nehmen oder sich mit allem Gerät querfeldein bewegen. Wegen Erdo­ğans »Geschichtsunterricht« dürfte die irakische Regierung mit größtem Misstrauen auf die Ankunft türkischer Truppen in Mossul reagieren.
Vor 2003 lebten an die 200 000 Menschen in Tal Afar. Danach kämpften in der Stadt Mitglieder der sunnitischen Al-Qaida sowohl gegen die US-Truppen als auch gegen die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad. Hinzu kamen Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Turkmenen, die auch nach der Niederwerfung der Rebellion anhielten. In diesen Konflikt schaltete sich der »Islamische Staat im Irak«, der heutige »Islamische Staat« (IS), mit seinen Selbstmordattentätern ein. Dessen »Kriegsminister« Abu Suleiman an-Naser prophezeite den Schiiten in Tal Afar »dunkle Tage, getränkt mit Blut«. Am 16. Juni 2014, kurz nach der Eroberung von Mossul, war es so weit: Der IS marschierte in Tal Afar ein und sprengte die schiitischen Moscheen. Viele Schiiten flohen, die türkische Regierung interessierte sich nicht dafür.
Viele der geflohenen Turkmenen kämpfen nun an der Seite der irakischen Armee. Zugleich baut die Türkei ihre eigene turkmenische Streitmacht im Irak auf. Eine kleinere türkische Truppe war seit 1992 durchgehend in Irakisch-Kurdistan, um die PKK zu überwachen. Von den derzeit etwa 2 000 türkischen Soldaten wurden voriges Jahr etwa 700 nahe der Kleinstadt Bashiqa stationiert. Eingeladen hatte sie der ehemalige Gouverneur der Provinz Ninawa, Atheel al-Nujaifi. Er stammt aus einer Familie, der von der osmanischen Verwaltung große Ländereien zugeteilt worden waren.
In seinem Stützpunkt bei Bashiqa bildete das türkische Militär eine turkmenische Miliz von mindestens 1 500 Mann aus. Der Status von Bashiqa selbst ist zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung in Bagdad umstritten. Vor der Invasion des IS bestand die Bevölkerung größtenteils aus der ethnisch-religiösen Minderheit der Baschak. Sunnitische Fanatiker verfolgen die Baschak als Ungläubige, diese wehrten sich aber auch gegen die Bevormundung durch Masoud Barzanis Demokratische Partei Kurdistans.
Während die irakische Regierung seit mehr als einem Jahr den Abzug der Türkei aus Bashiqa fordert, kann Barzani die Anwesenheit der Türken nur recht sein. Der Präsident der Autonomen Region Kurdistan und Vorsitzende der KDP liegt mit der irakischen Zentralregierung im Streit über die Zugehörigkeit weiter Gebiete zur kurdischen Regionalverwaltung. Dazu gehört insbesondere die Erdölmetropole Kirkuk. Obwohl sich Barzani als Bannerträger des kurdischen Nationalismus geriert, ist er doch ökonomisch und politisch von der Türkei abhängig. Die Opposition wirft ihm vor, Irakisch-Kurdistan wie den Gutshof seiner Familie zu verwalten. Mit der PKK, die ebenfalls eine Führungsrolle beansprucht, ist Barzani an zahlreichen Fronten in Auseinandersetzungen verwickelt.
So kommt es, dass ausgerechnet der Kurdenführer Barzani Erdoğans einziger verlässlicher Verbündeter in der Region ist. Daneben gibt der Sunnit Erdoğan seit Jahren den Anwalt der sunnitischen Araber im Nordirak, wenn es gegen die von der schiitischen Mehrheit dominierte Regierung in Bagdad geht. Damit hätte Erdoğan für eine expansive Politik Richtung Mossul drei Verbündete: turkmenische, sunnitische und kurdische Fraktionen.
Doch keine dieser Gruppen ist in sich geschlossen und auch zwischen ihnen gibt es heftige Differenzen. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat sich zwar höhnisch über die militärische Schwäche der irakischen Regierung geäußert, doch die schiitische Regionalmacht Iran täte sicher alles, was in ihren Kräften steht, um die Invasoren wieder zu vertreiben. Russland dürfte eine Ausdehnung der Nato in den Irak fürchten. In Syrien ließ sich das bisher viel bescheidenere Eingreifen der Türkei noch als Kampf gegen den IS verkaufen. Nun, da die irakische Armee bereits nach Mossul hinein vorgerückt ist, geht das für den Irak nicht mehr.
Auch wenn Erdoğan so tut, als könne er wenigstens ein Stück des Osmanischen Reiches zurückerobern, ist das derzeit nicht sehr realistisch, und die Zeit arbeitet eher gegen ihn. Ob Erdo­ğan das auch so sieht, weiß man nicht, aber mit Sicherheit hat er noch eine weitere Sache im Blick. Der Realisierung seines innenpolitischen Lieblingsprojekts, der verfassungsmäßigen Verankerung eines Präsidialsystems, ist er mittlerweile sehr nahe. Nicht nur erteilt Erdoğan Geschichtsunterricht in Sachen Mossul, auch wettert er seit August auch immer häufiger gegen den Vertrag von Lausanne. In diesem zweiten Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg erreichte der damalige Präsident Mustafa Kemal Atatürk zwar wesentliche Verbesserungen für die Türkei, konnte aber den Anspruch auf die erdölreiche Provinz Mossul nicht durchsetzen. Nun beklagt Erdoğan mal den Verlust der griechischen Inseln, mal den von Mossul.
In Lausanne verpflichtete sich Atatürk auch zur Abschaffung der religiösen Rechtssprechung. Damit war der Vertrag auch der Ausgangspunkt für die Modernisierung der Türkei. Indem Erdo­ğan nun so tut, als könne er die Grenzen revidieren, entwertet er zugleich den Gründungsakt der laizistischen türkischen Republik. An ihre Stelle tritt die Hoffnung auf einen Rausch von osmanischer Größe, der den Rest des Widerstands gegen die Umgestaltung des Staates zu einer sunnitisch-islamischen Präsidialdiktatur fortreißen soll.
Das schließt nicht aus, dass die Kraftmeierei an der irakischen Grenze durch einige militärische Schritte, insbesondere in politisch relevanten Momenten, unterstrichen wird. Doch der propagandistische Effekt steht dabei sicher im Vordergrund.