Jonathan Littells Dokumentarfilm »Wrong Elements« widmet sich den Verbrechen der Lord’s Resistance Army

Unaufhebbares ist geschehen

In seinem Debütfilm »Wrong Elements« folgt Jonathan Littell, der Autor des Romans »Die Wohl­gesinnten«, drei ehemaligen Kindersoldaten der in Uganda gegründeten Lord’s Resistance Army.

Der Film brach alle Rekorde: »Kony 2012« wurde innerhalb kürzester Zeit von knapp 100 Millionen Zuschauern angesehen. Das halbstündige Video, veröffentlicht von einer Organisation namens Invisible Children, sorgte vor fünf Jahren vor allem aufgrund seiner Reichweite für Aufmerksamkeit (Jungle World 12/12). »Kony 2012« handelte von dem Gründer und Anführer der Lord’s Resistance Army (LRA), Joseph Kony. Die LRA ist bis heute vor allem dafür bekannt, Kinder zu entführen und als Soldaten zu missbrauchen. Der Film zur gleichnamigen Kampagne von Invisible Children war Politaktivismuskitsch der schlimmsten Sorte, ein auf gegenaufklärerische Emotionalisierung zielendes Video, das es verstand, mit den Aufnahmen weinender Kinder kurzfristige Aufmerksamkeit und zahlreiche Spenden zu generieren. Zum Verständnis der politischen Situation in der Region Afrikas, in der die LRA agierte, konnte oder wollte man nicht beitragen.

Jonathan Littell, der Autor des ebenso gerühmten wie umstrittenen Romans »Die Wohlgesinnten«, hat nun sein Debüt als Dokumentarfilmer gegeben. Sein Film »Wrong ­Elements« setzt sich ebenfalls mit Kony und der LRA auseinander. Und tatsächlich wirkt der Film wie ein Kommentar und eine Gegenthese zu »Kony 2012«. Denn wo die Hashtag-Kampagne #kony2012 letztlich zu der reichlich beschränkten und ideologisch fragwürdigen Aussage kommt, dass es einen Bösewicht gibt, der Kinder bedroht, interessiert sich Littell für die sozialen Auswirkungen der Gewalt und ihr Verhältnis zum Alltag. Wo »Kony 2012« die Gewalt monströs macht, personalisiert und somit einhegt, spürt Littell ihrer Entgrenzung nach. Er banalisiert die Gewalt, nimmt ihr das scheinbar ­Außergewöhnliche und kommt ihr so nahe – in dem Sinne, dass Littell Gewalt nicht als metaphysisch Böses, sondern als eine weder unmögliche noch unwahrscheinliche Form gesellschaftlichen Handelns betrachtet.

Littell wendet sich kritisch gegen eine Mystifizierung und Persona­lisierung der Gewalt, die letztlich eine Verjenseitigung befördert und in Aberglauben umschlägt. Er verfolgt einen aufklärerischen Ansatz, aber nicht indem er seine vorgeb­liche Aufgeklärtheit ausstellt, sondern indem er dem Phänomen nach­geht.

1989 gründete Joseph Kony in Uganda, nachdem ein religiöser Aufstand von der Armee niedergeschlagen worden war, die LRA. Deren proklamiertes Ziel war die Errichtung eines christlichen Gottesstaats auf Grundlage der zehn Gebote. Dieses Ziel wurde und wird mit Terror gegen die Bevölkerung im Südsudan, im Kongo, in Uganda und der Zentralafrikanischen Republik verfolgt. Die LRA besteht größtenteils aus entführten Kindern und Jugendlichen, es handelt sich um Zehntausende solcher Fälle.

In Littells Film werden beispielhaft solche Menschen gezeigt. Die meiste Zeit folgt das Kamerateam drei Freunden, die mit zwölf und 13 Jahren entführt und Teil der LRA wurden. Sie sprechen über ihre Erfahrungen, besuchen Orte, an denen sie früher waren, schauen gemeinsam Fotos an. Die Jungen wurden zum Morden gezwungen, die Mädchen zum Geschlechtsverkehr. Manchmal fällt es einzelnen sichtbar schwer, über die Zeit in der LRA zu sprechen.

Doch im Laufe des Films passiert etwas Erstaunliches. Kurz nachdem die Protagonisten erzählt haben, dass bei den Erschießungen das Fleisch in Fetzen in den dahinterliegenden Bäumen hing, machen sie Witze, ­erinnern sich, wie sie einen ugandischen Soldaten gequält haben, lachen, schlagen ein. »Das war ein Scheißleben, aber es war aufregend«, sagt einer von ihnen. Es zeigt sich eine Faszination des Plünderns, Verstümmelns, Tötens, der Macht und auch des Lebens außerhalb der Norm. Würden sie wieder zur LRA zurückgehen? Vielleicht. Gab es Tote, die nicht zu bedauern sind? Ja. Schwule zum Beispiel. »Das alles war wirklich amüsant«, sagt ein anderer. Man war nicht nur Opfer von Gewalt, sondern nutzte sie auch zu eigenen Zwecken. Der Riss geht durch die Personen selbst. Was der Film zeigt, ist eine Erkundung des Zustandes zwangsmäßiger Selbstbehauptung und individueller Selbstentfremdung durch die Gewalt.

In einer anderen Szene des Films sitzen die drei vor einem Fernseher und sehen die Verhaftung von Dominic Ongwen. Er zählte zu den ranghöchsten Kommandeuren der LRA. 2015 begab er sich in die Hände der ugandischen Armee und wurde anschließend an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert. Seit 2005 lag ein Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit gegen ihn vor. Ongwen scheint davon nichts gewusst zu haben, er macht den Eindruck, überrascht zu sein von dem Verfahren, das ihn erwartet. Die Anklage lautet auf Sklaverei, Mord, Verstümmelung und Plünderungen. Ongwen wurde selbst als Kind entführt. Die drei vor dem Bildschirm nehmen ihn in Schutz, sie selbst haben – trotz ähnlicher Taten – eine Amnestie bekommen, mit der Ongwen wohl auch gerechnet hatte. Noch heute fordern Angehörige Ongwens eine Begnadigung, LRA-Opfer hingegen eine Bestrafung.

Würden sie wieder zur LRA zurückgehen? Vielleicht. Gab es Tote, die nicht zu bedauern sind? Ja. Schwule zum Beispiel.

»Wrong Elements« zeigt neben den ehemaligen LRA-Mitgliedern und der Suche der ugandischen Armee nach Kony auch den schwierigen Umgang mit der Gewalt am Beispiel der wieder in die Dorfgemeinschaften aufgenommenen ehemaligen LRA-Kämpfer. Einer der Reintegrierten wird beinahe von einem Angehörigen seiner Mordopfer umgebracht. Kann man die Gewalttaten vergessen? Wie wäre das zu erklären? Es ist die Rede von bösen Geistern, die Besitz von Menschen ergreifen. Konys Geist beispielsweise habe Blut gewollt, erzählt einer der Protagonisten. Man versucht es mit Beschwörungen, magischen Ritualen, Geister werden ausgetrieben, eine Ziege geschlachtet. Besessenheit als Erklärung? Angesichts der äußerst schwierigen Frage nach Schuld und Zwang, Tat und Unfreiheit tritt auch das Rationale, Rationalisierende dieser irrationalen, magischen Erklärung hervor.

Littells Dokumentarfilm weist, zumindest hinsichtlich seines Sujets, einige Ähnlichkeit mit dem von Netflix produzierten Spielfilm »Beasts of No Nation« auf. Auch in diesem geht es um Kindersoldaten und deren spätere Reintegration in die Gesellschaft. Beide Filme verzichten auf eine poli­tische Betrachtung des Gegenstands, der die Funktion von Milizen wie der LRA im Gefüge der zerfallenen oder zerfallenden Staatlichkeit in Afrika untersuchen müsste. Beide verharren weitgehend im Psychologischen, In­dividuellen. »Beasts of No Nation« allerdings bleibt in jeglicher Hinsicht konventionell. Die Hauptfigur wird aus einer glücklichen Kindheit gerissen, wird Kindersoldat, stumpft ab, wird gerettet und wieder integriert – durch das Dunkel zum Licht. Von der Ursprünglichkeit geht es durch die dunkle Entfremdung der hoffnungsvollen Synthese, Abblende, Ende.
Diese wohlige Sicherheit gibt »Wrong Elements« nicht. Hier ist etwas Unaufhebbares geschehen, die Individuen sind nicht Figuren eines vulgärdialektischen Erzähltricks, sondern in ihren Zwängen ebenso befangen wie die Welt, die all das ermöglicht. »Wrong Elements« ist ein beunruhigender Film, weil er die Bewegung der Gewalt, ihre Dynamik nicht mit dem Schlussbild aufhebt. Littell treibt den phänomenologischen Blick, die psychologische Studie bis an die Grenze, wo sie auf die Gewissheit, dass sich das alles wieder fügen wird, verzichten muss.

Wrong Elements (F/D/B 2016). Buch und Regie: Jonathan Littell. Filmstart: 27. April