Die Pro-EU-Bewegung »Pulse of Europe« ignoriert heikle Fragen

Eine Ode an die EU

Anhänger der Europäischen Union demonstrieren in vielen deutschen Städten, »Pulse of Europe« nennt sich ihre Bewegung. Doch zu heiklen Fragen schweigt der Zusammenschluss bislang.

Blaue Luftballons und Flaggen der Europäischen Union wehen im Wind. Über große Lautsprecher wird französische Popmusik gespielt. Die Sonne scheint. Auf dem Frankfurter Goetheplatz haben sich mehrere Tausend Menschen versammelt, um für eine »vereinte und demokratische Euro­päische Union« zu demonstrieren und »spaltenden Tendenzen« entgegen­zutreten. Hier schlägt also der »Pulse of Europe«, den die Anwesenden von Rechtspopulismus und Nationalismus bedroht sehen.

Für Freizügigkeit wollte »Pulse of Europe« auch in Frankfurt demonstrieren. Doch kein Wort fiel über die europäischen Außengrenzen und das Sterben im Mittelmeer.

Die Veranstalter scheinen einen Nerv getroffen zu haben. In über 120 Städten vor allem in Deutschland, aber auch in Irland, in den Niederlanden und im Kosovo, gibt es Ableger der in Frank­furt gegründeten Bewegung. Bis zu 50 000 Demontranten zieht es jeden Sonntag auf die Plätze Europas, über 100 000 Facebook-User haben auf der Seite der Organisation ein Like hinterlassen. Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien zeigen sich interessiert bis erfreut, der Moderator Klaas Heufer-Umlauf sprach in einer Talkshow des NDR von der Wichtigkeit einer »europäischen Identität« und des »Pulse of Europe«. Während die AfD auf öffentlichen Plätzen in der Bundesrepublik gegen die EU zu Felde zieht, begeistern sich die Anhänger von »Pulse of Europe« weiterhin für die Union.

»Wir sind keine verblendeten Europa-Fans«, sagt die Pressesprecherin Stephanie Hartung im Gespräch mit der Jungle World. »Doch die EU ist zu wichtig, um wegen der nationalistischen Tendenzen geopfert zu werden.« Die Frankfurter Rechtsanwältin und Mit­begründerin der Bewegung befürwortet Reformen des europäischen Bündnisses als Gegenmodell zur antieuropäischen Rhetorik im europaweiten »Superwahljahr«. Gerade derzeit sei es wichtig, einen positiven Bezug zur EU zu betonen und deren Errungenschaften nicht in Frage zu stellen. Die britische Entscheidung für den EU-Austritt und der Wahlerfolg Donald Trumps hätten viele schockiert, angesichts möglicher »Katas­trophen« in den Niederlanden und Frankreich sei es wichtig gewesen, auf die Straße zu gehen.

Ein Blick auf die Demonstrierenden lässt erahnen, wer hier für die EU einsteht. Viele Familien und junge Paare stehen neben Rentnerinnen und Rentnern in Sonntagsgarderobe und jungen Männern in Pullovern, auf die das Logo der FDP gedruckt ist. Auf und vor der Bühne wird gemeinsam die »Ode an die Freude« gesungen, ein Cellist spielt Johann Sebastian Bach. Ein Redner bedankt sich bei den Teilnehmenden dafür, dass sie bei strahlend blauem Himmel und sommerlichen Temperaturen nicht nur »lustwandeln«, sondern auch »etwas für die Gemeinschaft tun« – schließlich ließe sich das bei »Pulse of Europe« verbinden. Von einem Querschnitt der Gesellschaft kann hier nicht die Rede sein.

Neben dem Lob aus der Politik mehrt sich jedoch auch die Kritik an der Bewegung: zu oberflächlich, zu unpolitisch, zu vage. Dem sollte in Frankfurt die Einladung der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot entgegengewirken. Die Forscherin hatte in einem Interview mit dem Spiegel »Pulse of Europe« zwar kritisiert, distanzierte sich davon jedoch auf der Bühne in Frankfurt. Zu einseitig sei sie zitiert worden, vielmehr befürworte sie die Kundgebungen ausdrücklich. Im Gespräch auf der Bühne warb sie für eine größere europäische Integration sowie demokratische Reformen mit dem Ziel, Europa unter »einem Markt, einer Währung, einer Demokratie« zu vereinen. Ihre Vorschläge lösten lauten ­Jubel aus.

Mit Bezug auf Erscheinungen wie Pegida sprach Guérot von einem »Zerfall des politischen Körpers«. Die selbsternannten Retter des Abendlandes werden immer wieder als Gegenmodell zu »Pulse of Europe« angeführt, da sie antieuropäisch und nationalistisch sind. Ende März sorgte ein Artikel der Sächsischen Zeitung für Aufsehen, in dem eine Mitorganisatorin der Dresdner Kundgebung von »Pulse of Europe« eine Einladung an Pegida-Anhänger aussprach. Notwendig sei lediglich, dass diese ebenfalls »für ein vereintes Europa« einstünden, so die Funktionärin. Später revidierte »Pulse of Europe« diese Aussage auf Facebook und betonte, man verstehe sich nicht als »Antibewegung«. Zudem distanzierte sich die Organisation »ganz deutlich« von den »ausgrenzenden Ansätzen Pegidas«. Nur wer erkenne, dass es falsch sei, »andere pauschal wegen ­ihrer Religionszugehörigkeit zu diffamieren«, sei willkommen.

Für Offenheit und Freizügigkeit wollte »Pulse of Europe« auch auf dem Frankfurter Goetheplatz demonstrieren. Eine symbolische Mauer aus Pappkartons wurde mitten durch die Kundgebung gezogen und mit Sprüchen wie »EU – für Leute mit IQ«, »Reisen ohne Grenzen« und »Mauern und Grenzen weg!« bemalt. Doch von einer Grenze war in den vielen Redebeiträgen nichts zu hören: Kein Wort fiel über die europäischen Außengrenzen und das Sterben im Mittelmeer.

Darauf angesprochen weicht Hartung aus. Sie verweist auf ein »breites Spektrum« an Meinungen und auf den Diskussionsprozess in der Bewegung. Es sei nicht möglich, schon etwa drei Monate nach der Gründung zu ­allen politischen Fragen Antworten zu liefern. Insbesondere auf »die Flüchtlingsfrage« gebe es nicht »die eine Antwort«, so Hartung. Die Anhänger von »Pulse of Europe« müssten noch streiten – über Angela Merkels offene Arme, mehr europäische Kooperation und eine Grenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die Veranstaltungen der Gruppe könnten ein »Motor für solche Diskussionen« sein, sagt die Sprecherin.

Hier sieht Hartung auch die Aufgabe ihrer Bewegung. Zwar solle der Bundestagswahlkampf im Spätsommer mit weiteren Kundgebungen begleitet und für proeuropäische Wahlentscheidungen geworben werden. Davor jedoch müsse »Pulse of Europe« am ­eigenen Profil arbeiten und eine Plattform für politische Debatten sein. Das »Konglomerat von Leuten, die sich für Europa einsetzen«, wie Hartung die ­Bewegung beschreibt, wolle als »Mittler« zwischen Parteien und Bürgern auftreten. Hierfür sei es in einem ersten Schritt notwendig gewesen, sich ein Bild von der verbreiteten Meinung über ­Europa zu machen, um dann die Begeisterung für die EU neu zu entfachen. Inhaltliche Debatten stünden noch aus, so Hartung.

»Pulse of Europe« ist durchaus eine bürgerliche, proeuropäische und antinationalistische Gegenbewegung zum gesellschaftlichen Rechtsruck. Doch gerade da, wo Widerspruch nötig wäre, bei der Politik der Flüchtlingsabwehr, schweigt die Organisation. Dass eine solche Bewegung anfangs inhaltlich vage bleibt und Zeit für Richtungsdiskussionen braucht, insbesondere wenn es um realpolitische Sachverhalte geht, ist selbstverständlich. Dennoch stellt sich die Frage, wieso gerade eine Bewegung, die sich den Kampf für Toleranz auf die Fahnen schreibt, zu jene Menschen schweigt, denen nicht nur Toleranz, sondern an den Grenzen der EU das Menschenrecht auf Asyl verwehrt wird.

Zum Abschluss der Veranstaltung in Frankfurt bildeten mehrere Hundert Demonstrierende einen Kreis, hakten sich ein und tanzten ausgelassen zum Siegertitel des »Eurovision Song Contest« aus dem Jahr 1990. Der italienische Popsong »Insieme: 1992« (»Gemeinsam: 1992«) von Toto Cutugno mit seiner Aufforderung »Unite, unite ­Europe!« kam gut an, die Menge feierte. Als sich die Demonstration auflöste und die Menschen vom Goetheplatz strömen, erklangen David Bowies ­Worte »We can be heroes, just for one day« aus den Boxen. »Pulse of Europe« mag es an inhaltlicher Schärfe mangeln. Das Gefühl, irgendwie auf der richtigen Seite zu stehen, kann die ­Bewegung aber offensichtlich ver­mitteln.