über »Entrepreneure« in Start-ups

Ausbeuten statt erfinden

»Entrepreneure« gelten als kreative Einzelgänger mit großen Visionen. Dabei ist ihre Leistung auf dem Gebiet des technologischen Fortschritts gering. Der mythologischen Überhöhung tut dies aber keinen Abbruch.

Es war eine Traumgeschichte aus dem Silicon Valley, fast schon zu gut, um wahr zu sein: Die damals erst 19jährige Elizabeth Holmes hatte ihr Studium in Stanford abgebrochen, um im Jahr 2003 ein Start-up-Unternehmen zu gründen und mit einer neuen Technologie die Prozedur für Bluttests zu revolutionieren. Nadeln und Blutabnahmen sollten der Vergangenheit angehören, ein Tropfen Blut sollte genügen, um dem Patienten die Ergebnisse direkt auf seinem Mobiltelefon zu präsentieren. Fast 700 Millionen Dollar Kapi­tal sammelte Holmes für ihre Firma Theranos, in deren Aufsichtsrat bald Persönlichkeiten wie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und der derzeitige US-Verteidigungsminister James Mattis saßen. 2015 wurde das Unternehmen auf einen Wert von neun Milliarden Dollar geschätzt und Holmes galt als die jüngste Selfmade-Milliardärin der Welt.

Doch noch im Jahr 2015 kam ebenfalls heraus, dass die Technologie des Unternehmens nicht funktionierte. Theranos hatte Bluttests einfach per Outsourcing von anderen Unternehmen erledigen lassen, da die eigene Technologie unzuverlässige Ergebnisse produzierte. Inzwischen ermitteln die US-Behörden wegen Betrugs und das Magazin Fortune korrigierte Holmes’ geschätztes Vermögen von 4,5 Milliarden Dollar auf »eigentlich nichts«. Vom großen »Bluttestbluff« schrieb das Handelsblatt Ende April.

Interessant ist angesichts der Bla­mage die Frage, warum das Ganze überhaupt so lange funktionieren konnte. Vermutlich passte Holmes’ Geschichte zu gut zum Mythos des jungen Genies, das Studium und sichere Arbeit verschmäht, um seiner Vision zu folgen und die Welt mit bahnbrechenden Innovationen zu beglücken. Allerdings hatte dieser Mythos noch nie viel mit der Wirklichkeit zu tun. So wies etwa die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch »The Entrepreneurial State« darauf hin, dass alle drei Technologien, die das iPhone zu einem bahnbrechenden Produkt gemacht hatten – das Internet, GPS und der Touchscreen –, nicht von Apple, sondern vom US-amerikanischen Staat entwickelt worden waren. Technologische Fortschritte entstehen demnach nicht dank der Geistesblitze einzelgängerischer Visionäre, sondern sind Ergebnisse organisierter Arbeit. Nur der vom direkten Profit­zwang befreite Staat ist Mazzucato zufolge in der Lage, das wirtschaftliche Risiko der Forschung in großem Maßstab einzugehen, während das angeblich so risikofreudige »Wagniskapital« erst dann auf den Plan tritt, wenn bereits mit Profit zu rechnen ist.

Start-ups entwickeln daher selten neue Technologien, sie erfinden vor ­allem neue Geschäftsmodelle. »Plattformkonzerne« wie Uber zum Beispiel nutzen zwar neue technische Möglichkeiten, haben aber kein neues Produkt und keine neue Dienstleistung zu bieten. Sie zentralisieren lediglich bisher verstreut stattfindende Geschäftstätigkeiten und sorgen so für verschärfte Kontrolle und Ausbeutung der Lohnabhängigen und prekär Beschäftigten.

Diesem Modell folgt auch Flixbus, eines der erfolgreichsten deutschen Start-ups, das vor einigen Jahren von jungen Unternehmensberatern gegründet wurde und mittlerweile die Fernbusbranche beherrscht. In einer Selbstdarstellung spricht Flixbus von »einem quirligen Start-up-Team«, das »den Mobilitätsmarkt in Europa in den letzten Jahren nachhaltig durcheinandergewirbelt« habe. Das Geschäftsmodell sieht dagegen sehr traditionell aus: Flixbus zentralisierte die Fahrgastvermittlung und lagerte alles Übrige an Subunternehmen aus, deren Profitmargen so winzig sind, dass gesetzliche Vorgaben und Arbeitsschutzricht­linien bis aufs äußerste ausgereizt und regelmäßig gebrochen werden. Die Gewerkschaft Verdi berichtete im vergangenen Jahr von 13- und 15-Stundenschichten für Busfahrer. Flixbus ist ­inzwischen Monopolist – nicht weil die Firma am innovativsten war, sondern weil sie über den Druck auf die Sub­unternehmen mehr aus den Beschäftigten herauspressen konnte als ihre Konkurrenten und dazu noch genug Kapital hatte, um den Preiskampf durchzustehen.

Die Legende vom sogenannten ­Entrepreneur, Gründer oder Start-up-Unternehmer als Fackelträger des Fortschritts hat also wenig mit der schäbigen Realität zu tun. Ein oft genannter Stichwortgeber ist der Ökonom Joseph Schumpeter (1880–1950), der den »innovativen Entrepreneur« ins Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung stellte. Den dem Kapitalismus immer schon innewohnenden Zwang, Lohnkosten zu senken und die Produktion zu rationalisieren, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten, projizierte Schumpeter auf einzelne heroische ­Individuen. Diese seien mit ihren Visionen für die »kreative Zerstörung« verantwortlich, die dem Kapitalismus seine Dynamik gebe. Ganz ähnlich wird in der derzeitigen Entrepreneursideologie, die in Wirtschaftsmagazinen und Gründerzirkeln vorherrscht, die Rolle des visionären Einzelnen gedacht. »Disruption« bezeichnet dabei den Vorgang, wenn ein junger, wilder Ausbeuter bisher existierende Ausbeutungsverhältnisse zerstört, um sie durch profitablere zu ersetzen. Feind der innovativen »Disruption« ist dabei häufig staatliche Regulierung und das Arbeitsrecht. So besteht Ubers Beitrag zur Innovation des Taxigeschäfts darin, sich nicht an die für die Branche geltenden Gesetze zu halten.

In der Gründerideologie bedeutet »Disruption« auch gesellschaftlichen Fortschritt. So sagt beispielsweise Marc Andreessen, kalifornischer Investor und Gründer von Netscape Communications: »Wenn wir die Welt besser und gerechter machen wollen, brauchen wir Disruption.« Schumpeter war ein Ökonom, kein PR-Manager, und sprach deshalb ohne Scham davon, was wirklich unter Innovation im Kapitalismus zu verstehen ist: Der Entrepreneur sei kein Erfinder, er besitze auch kein Kapital. Sein Beitrag bestehe darin, »bereits existierende Produktionsmittel anders, angemessener und vorteilhafter einzusetzen«. In anderen Worten: Der Gründer ist ein Manager, der die bereits stattfindende Produktion rationalisiert, um sie profitabler zu gestalten.

Diese glanzlose Sprache der Effizienz hört man heutzutage selten, vielmehr wird die Figur des Entrepreneurs mythisch überhöht und mit allerlei Bedeutung aufgeladen. Auf der Start-up-Medienseite gründerszene.de ist eine Begriffsdefinition zu finden, derzufolge Entrepreneure »ganz bestimmte Eigenschaften haben, die sie zu schillernden und gefragten Persönlichkeiten in der Wirtschaft machen«. Günter Faltin, Professor für Entrepreneurship an der Freien Universität Berlin, schreibt in seinem Buch »Kopf schlägt Kapital« vom »citoyen als Unternehmer und Künstler,« der »verlorengegangene soziale, emotionale und intellektuelle Qualitäten zurückgewinnt, sich und anderen sinnstiftende Tätigkeiten ermöglicht«. Unternehmer seien »freie Geister, Künstlern ähnlicher als Managern oder Buchhaltern«.

Eine ähnliche Mythenbildung zeigt sich in den Filmen, die in den vergangenen Jahren Unternehmern gewidmet wurden. Nach Steve Jobs und Mark Zuckerberg wird zurzeit mit »The Founder« sogar der Gründer von McDonald’s im Kino gewürdigt. Diese Filme inszenieren den Entrepreneur als heroische Figur, die Rebellion, Authentizität und Individualismus verkörpert, zugleich aber so getrieben und widersprüchlich ist wie ein romantischer Held. Der ­Entrepreneur transzendiert das schnöde Business, er wird zum Star.

»Entrepreneurship ist Passion, Selbstfindung, Berufung. Die Aufforderung, sich den eigenen Träumen zu stellen, sich in seiner Arbeit selbst zu verwirklichen und wirklich Großes zu leisten«, schreibt Faltin. »Roboten« ist dagegen in der »Gründerszene« eine abfällige Bezeichnung für das fremdbestimmte, langweilige Angestellten­dasein. Der Ansicht, dass Lohnarbeit entwürdigend und schrecklich ist, kann man nicht widersprechen. Doch Start-up-Unternehmer ziehen daraus nicht den Schluss, das »Roboten« an sich sei abzuschaffen, sondern vielmehr, dass selbst schuld sei, wer sich zum Roboter degradieren lässt. Wer also Talent und Initiative zeigt, kann sich zum »freien, selbstbestimmten« Unternehmer machen – dessen Freiheit darin besteht, andere Leute für den eigenen Profit »roboten« zu lassen.

So steht hinter dem Traum, »der eigene Boss zu sein«, einfach der Wunsch, der Boss anderer Leute zu sein und ­dafür Geld zu erhalten. Entrepreneure gehen auf die Jagd nach einem Auftraggeber, der bereit ist, in sie zu investieren. Nur ein Investor kann aus dem Entrepreneur einen echten Chef machen, ohne Kapital bleibt er eine Witzfigur, die nur sich selbst ausbeuten darf. Daher rührt die biographische Selbstbeweihräucherung der Gründer, die noch aus der langweiligsten Erwerbslaufbahn eine Saga des Individualismus basteln, die erklären soll, warum gerade ihr Profitmodell den eigenen »Leidenschaften« entspricht.
Entrepreneure können dabei nichts anrichten, was im Kapitalismus nicht sowieso geschehen würde. Zudem gibt es Menschen, die tatsächlich ein Unternehmen gründen müssen, um ihrem gewünschten Beruf nachzugehen, was nicht verwerflich ist.

Erschreckend ist ­jedoch, wie bereitwillig die Unternehmensgründung als Selbstzweck ge­feiert wird, wie das betriebswirtschaftliche Profitstreben und all die banalen Tätigkeiten, die dazugehören, den Schein kreativer Individualität erhalten. Die charakterliche Besonderheit des Entrepreneurs ist seine unermüdliche Bereitschaft, sich selbst dem Kapital anzugleichen. Nicht nur als sich selbstverwaltendes Humankapital, das man im gehobenen Dienst der Wirtschaftsmaschine sowieso zu sein hat, sondern als jemand, dem die profitorientierte Verwaltung anderer Menschen als das Höchste erscheint – als Inbegriff der Freiheit.