Die Bewertung der Flugzeugentführung nach Entebbe 1976

Die Erbschaften des Dieter K.

Martin Janders Kritik des Buchs »Legenden um Entebbe« ist geschichtslos. Die »Jungle World« leidet hingegen unter Amnesie.

Im Themenschwerpunkt »40 Jahre Deutscher Herbst« nimmt Martin ­Jander mich und meine Mitautorinnen für die Publikation des Buches »Legenden um Entebbe« – umgangssprachlich ausgedrückt – aufs Korn. Die komplexen Geschehnisse um die Entführung eines von Tel Aviv kommenden Flugzeugs der Air France nach Entebbe, Uganda, liegen von heute aus betrachtet eigentlich schon 41 Jahre zurück, lassen sich also in die 1977 zwischen der RAF und der BRD irgendwo zwischen Karlsruhe, Köln, Mogadishu und Mühlhausen ausgetragenen shoot-outs so umstandslos nicht einordnen. Dessen ungeachtet sollen wir in der Jander’schen Philippika »den Hass auf Israel, der der deutsch-palästinensischen Terrorbruderschaft zugrunde« gelegen haben soll, »relativiert« haben. Okey dokey.

Im besagten 400seitigen Buch mit insgesamt rund 1 200 Fußnoten wird der »Hass auf Israel« weder relativiert noch befürwortet. Er ist genauso wenig Gegenstand der Überlegungen, wie Mutmaßungen über eine »deutsch-palästinensische Terrorbruderschaft«, in der ja – folgt man diesem Begriff – die roten Schwestern vom Schlage einer Leila Khaled oder Brigitte Kuhlmann unterschlagen sind, abgesehen davon, dass diese mediale Mainstream-Sprache im Fokus einer sicherlich beständig geleisteten internen Blattkritik stehen dürfte.

Ganz abgesehen davon, dass ich den Begriff »Israel-Hass« in Hinblick auf die radikale Linke Westdeutschlands für eine Erfindung halte, die erst in den neunziger Jahren auftaucht: Was es selbstverständlich in dem Buch gibt und zur Darstellung der Vorgeschichten und Hintergründe dieses Ereignisses geben muss, ist die Darstellung einer durch alle Fraktionen der außerinstitutionellen Linken Westdeutschland geübten Kritik an der Politik der israelischen Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten und am Zionismus. Dabei ließ die Kritik am Zionismus durch Teile der radikalen Linken mit wohl zeittypischen, gleichwohl falschen Faschismusanalogien in Bezug auf Israel die notwendigen historischen Proportionen missen. Zu Israel hat es wiederholt beschämend geschichtslose Interpretationsbemühungen gegeben, für die heute allemal ein »Nie wieder!« gilt. Eine Binse, wie aber eben auch, dass nicht ­alles, was beschämend geschichtslos ist, zugleich auch anti­semitisch ist.

Wie avanciert allerdings die Kritik am Zionismus in der BRD auch einmal war, kann auch in dem im Buch enthaltenen Aufsatz von Gerhard Hanloser über den »Linken Antizionismus in Westdeutschland« nachgelesen werden. Das zeigt er unter anderem am Beispiel der intellektuellen Vita linksradikaler Antizionisten Mario Offenberg, Eike Geisel, Daniel Cohn-Bendit und Erich Fried. Er widerlegt darin einige der in der Gegenwart herausgebrüllten Vorstellungen, dass ein solcher Anti­zionismus nur eine Spielart des Antisemitismus dargestellt haben soll.

Das Buch gruppiert sich um drei Themengebiete, zu denen Jander hat gar nicht Stellung nehmen wollen:
1. Das Selektionsnarrativ: Es geht um eine Überprüfung der von einer Vielzahl von demokratisch legitimierten Politikern, klugen Wissenschaftlern, gerissenen Geheimdienstlern, mitteilungsinteressierten Journalisten, einigen Aktivistinnen der Revolutionären Zellen und von hier verständlicherweise besonders aufmerksamen Antideutschen usw. zur Tatsache erhobenen Behauptung, dass es in Entebbe eine Selektion der Juden von Nichtjuden gegeben habe.
2. Die zeitgenössische Rezeption des räumlich von der BRD weit entfernten Ereignisses durch alle Fraktionen der westdeutschen Linken bis in die jüngste Gegenwart durch einige prominente Protagonisten.
3. Die globale Dimension des Ereignisses, das Gegenstand von harten Kontroversen in der Staatengemeinschaft gewesen ist, was sich in vier langen Sitzungen des Weltsicherheitsrates der Uno niedergeschlagen hat.

Es ist nicht von vornherein illegitim, an die Wahrheit von tradierten Behauptungen zu glauben. Keine Frage. Jander macht sein Glaubensbedürfnis schließlich auch in seinem Beitrag explizit deutlich: Loben und preisen will er jene, die am »Selektionsnarrativ« festhalten. Das Buchprojekt hat sich hingegen einfach das Recht herausgenommen, gängigen Interpretationen und Glaubenssätzen quellengestützt zu widersprechen.

Unser wesentliches Ergebnis ist nach Recherche aller möglichen Quellen, die bis zur Abgabe des Manuskripts an den Verlag im Frühjahr 2016 erreichbar waren, dass die bislang allerorten zur Tatsache erhobene Behauptung, in Entebbe habe es durch die Luftpiraten eine Selektion der Juden von Nichtjuden gegeben, Unfug ist. Dieses Urteil kann sich auch auf die in der BRD aus unbekannten Gründen bislang ignorierten Stellungnahmen und Zeugnisse einiger israelischer Geiseln aus Entebbe stützen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, und natürlich schließt dieser Stand unserer mit bescheidenen Mitteln durchgeführten Forschung, die leider auch nicht im entferntesten über die Ressourcen verfügte, auch einmal Archive in Israel aufzusuchen, den nächsten niemals aus.

Ich will auch zu Janders Anwurf Stellung nehmen, dass »Mohr und weitere Autoren des Buchs (…) in Nachfolge der Ansichten eines der Gründungsväter des deutschen Linksterrorismus, Dieter Kunzelmann« stehen. Die Überschrift verdichtet diese Behauptung zur hübschen Formulierung »Kunzelmanns Erben«.

Das Erbe des Dieter K. ist vielfältig und lässt sich bei weitem nicht auf das reduzieren, was Jander als »Linksterrorismus« missversteht. Sein Erbe reicht weit, sogar bis in die Spalten der Jungle World wenigstens in den Jahren 1998/1999. Die in jener Zeit publizierte Lebensbeichte Kunzelmanns »Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben« wurde mehrfach in redaktionellen Beiträgen beworben. Die Redaktion rief sogar zur Teilnahme an der Book-Release-Party am 2. November 1998 im Berliner Mehringhof-Theater auf. Einen Tag vor Weihnachten 1998 erklärte sie im Editorial sogar, »ein Requiem für Dieter Kunzelmann abzuhalten«.

Mit Jander ließe sich heute fragen, ob damals nicht womöglich Israel-Hasser und offene Sympathisanten von Terrorgruppen das Sagen in der Redaktion hatten. Ein schrecklicher Verdacht – den ich aber von meiner Seite deshalb nicht bestätigen möchte, weil die Zeitung den Avantgardisten Kunzelmann aus der Gruppe Spur ganz zu Recht als einen bedeutenden Exponenten der Subversion gegen die herrschenden Verhältnisse gewürdigt hat. Insoweit der Genosse Dieter K. in seiner Vita ebenso für Absage an Karrierismus und Akademismus wie für die Rote Hilfe, gegen den Knast und für Hausbesetzungen und den Austritt aus der Alternativen Liste steht, gibt es doch nicht den geringsten Grund, dieses Erbe auszuschlagen, sofern man auch heute noch die herrschenden Verhältnisse grundsätzlich in Frage stellt. Dieses Erbe scheint damals auch für die Jungle World von Interesse gewesen zu sein. In der von der Redaktion beworbenen ­Lebensbeichte findet sich auch eine markante Passage zu dem Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus im November 1969. Rund 30 Jahre später galt dieser ihm als in der Szene umstritten, möglicherweise habe ja der Verfassungsschutz seine Hände im Spiel ­gehabt und, so Kunzelmann in einem überraschend staatstragenden Sound, habe sich ein solcher Anschlag »angesichts der deutschen Geschichte« von selbst verboten. 1969 hatte aber Dieter K. in seinem legendären Brief in der Szenezeitschrift Agit 883 noch ganz anders argumentiert. Die Redaktion der Jungle World verzichtete aber darauf unbequeme Fragen an die Adresse von Dieter K. zu stellen. Das tat ein Genosse unter dem Pseudonym »Fiedler« schon Jahre vor Kraushaars hingepfuschtem Bombenbuch in der Hamburger Autonomen-Gazette Zeck und kam zu dem begründeten Urteil, dass »Kunzelmann lügt«.

Das Erbe des Dieter K. steht zweifellos auch für eine Reihe verhängnisvoller politischer Fehler und Irrtümer. Linke Geschichtsschreibung wird sich dem immer selbstkritisch und ohne überbordende Distanzierungsbemühungen stellen. Ein Erbe in dieser Angelegenheit muss immer ein reflektiertes Verhältnis zum Trauma suchen, niemand kann dem durch billige Polemik entkommen. Der Gestus allerdings, mit dem die Jungle World sich dem 40. Jahrestag des Deutschen Herbstes und der Geschichte der Militanz im postfaschistischen Deutschland widmet, ist in dieser Hinsicht geschichtslos, in Sprache, Inhalt wie Absicht jedoch Teil der deutschen Staatsreligion. Für Martin Jander mag das ein erquickender Quell weiterer Hoffnung sein, mir treibt das den Humor aus.