Der Neuaufbau des brasilianischen Fußballclubs Chapecoense

Wiedergeburt nach Tragödie

Der brasilianische Fußballclub Chapecoense setzt beim Neuaufbau nicht auf Stars, sondern auf junge Spieler. Der Verein möchte keinen Mitleidsbonus – und ist erfolgreich.

Die Rückkehr zum Unglücksort endete für den brasilianischen Fußballclub Chapecoense mit einer bitteren Niederlage – aber das Sport­liche stand an diesem Spieltag nicht im Vordergrund. Fünfeinhalb Monate nach der Flugzeugtragödie verlor das neuformierte Team aus Chapecó in der Recopa, dem südamerikanischen Supercup. Gegen Kolumbiens Spitzenteam Atlético Nacional Medellin gab es nach dem 2:1-Hinspielerfolg eine 1:4 (0:2)-Niederlage.

Beide Clubs hatten bereits Ende November im Finale der Copa Sud­americana, vergleichbar mit der Uefa Europa League, aufeinander treffen sollen. Doch auf dem Weg nach Kolumbien zum Finalhinspiel in Medellin zerschellte am 28. November 2016 die Chartermaschine mit der Mannschaft von Chapecoense an Bord beim Landeanflug an einem Berg. 71 von 77 Passagieren kamen beim Absturz ums Leben, darunter 19 Spieler, der Präsident des Clubs, Sandro Pallaoro, Trainer Caio Junior und weitere Mitglieder der Clubführung und des Betreuerstabs.

Auf Initiative des Finalgegners Atlético Nacional war Chapecoense von Südamerikas Fußballverband Conmebol später zum Titelträger der Copa Sudamericana erklärt worden. Die Kolumbianer hatten ihrerseits im Juli die Copa Libertadores, die südamerikanische Champions League, gewonnen.

Durch die Niederlage im Recopa-Rückspiel verpasste Chapecoense ­einen zweiten Titel. Erst wenige Tage zuvor hatte Chapecoense die Regionalmeisterschaft des Bundesstaats Santa Caterina gewonnen.

»Wir wussten, dass Chape viele Schwierigkeiten haben würde, da ein neues Team aufgebaut werden musste«, sagte der neue Trainer Vagner Mancini nach dem regionalen Meistertitel. »Aber aufgrund unserer Anstrengungen haben wir den Titel gewonnen und Gegner geschlagen, die schwierig zu besiegen sind«, so der 50jährige, der viel Erfahrung im brasilianischen Fußball besitzt. Früher trainierte er namhafte Clubs wie FC Santos, Cruzeiro, Botafogo und Vasco da Gama.
Chapecoense hatte keine zwei Monate nach der Flugzeugkatastrophe den Spielbetrieb wiederaufgenommen. In einem Freundschaftsspiel am 21. Januar kam das Team gegen den brasilianischen Meister Palmeiras zu einem 2:2-Unentschieden. In der Presse wurde die Partie als »Wiedergeburt« von Chapecoense bejubelt.

Entstanden war der Club Associação Chapecoense de Futebol oder kurz Chapecoense 1973 aus der Fusion der beiden lokalen Vereine Independiente und Atlético Chapecoense. Damit sollte der Fußball in der rund 210 000 Einwohner zählenden Stadt Chapecó, im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina, wiederbelebt werden. Bis auf eine kurze Hochphase Ende der Siebziger dümpelte der Verein aber jahrzehntelang in den Niederungen des brasilianischen Fußballs herum. Einzig ein paar Staatsmeisterschaften von Santa Catarina konnten gewonnen werden. Nach einem Beinahekonkurs und der Rettung durch lokale Unternehmer ging es ab ab 2009 steil bergauf. In nur sechs Jahren gelang Chapecoense der Durchmarsch von der vierten in die höchste Spielklasse, in der man in den vergangenen Jahren jeweils im gesicherten unteren Mittelfeld landete.
In der Copa Sudamericana warf der in Brasilien sehr beliebte Verein im vergangenen Jahr bei einem sensationellen Siegeszug Schwergewichte wie Independiente und San Lorenzo aus Argentinien sowie Junior de Barranquilla aus Kolumbien aus dem Wettbewerb.

Nach der Flugzeugtragödie stand plötzlich der Fortbestand des Clubs auf dem Spiel. »Es ist ein schwieriges Szenario, komplett anders als jene, mit denen ich bisher zu tun hatte«, sagte der neue Sportliche Leiter von Chapecoense, Rui Costa, vor der ­Partie gegen Palmeiras. »Ich war bei Clubs, wo fünf Spieler zu verpflichten oder die Kosten zu reduzieren waren. Aber hier mussten wir praktisch ein ganzes Team von Grund auf neu aufbauen. Darüber hinaus haben wir Mitarbeiter verloren, die Träger des fußballerischen Wissens. Diejenigen, die gestorben sind, kannten den Club in- und auswendig. Die Herausforderung ist sehr groß.«

Insgesamt nimmt das Team in diesem Jahr an sechs Wettbewerben teil: der Copa Libertadores, dem braslianischen Pokal, der Staatsmeisterschaft von Santa Catarina, der Recopa, der Copa Suruga, die der Sieger der Copa Sudamericana und der Gewinner des japanischen Pokals bestreiten, sowie der brasilianischen Meisterschaft, die in diesen Tagen beginnt. Für Chapecoense dürfte es vor ­allem darum gehen, die Klasse zu halten.

Brasiliens Fußballverband (CBF) hatte darüber diskutiert, Chapecoense drei Jahre den Ligaverbleib zu garantieren. Damit sollte dem kleinen Verein mit gerade einmal 5 000 Mitgliedern und einem Jahresbudget von umgerechnet gut zehn Millionen Euro die Möglichkeit gegeben werden, sich zu konsolidieren. Der Club aber hatte die Idee abgelehnt. Man wolle sich der sportlichen Herausforderung stellen.

Die bereits zurückgetretenen früheren Stars Eidur Gudjohnsen und Román Riquelme boten sich als Spieler an. Gudjohnsen lud zudem seinen früheren Kollegen beim FC Barcelona, Ronaldinho Gaúcho, ein. Doch Chapecoense entschied sich, beim Neuaufbau lieber auf die Jugend zu setzen – ein keineswegs üblicher Weg in Brasilien, wo die Liga gern auch als »Elefantenfriedhof« bezeichnet wird, wegen der vielen Veteranen und früheren Europa-Legionäre in den Mannschaften.
Da es in der Kürze der Zeit beinahe unmöglich war, genügend Spieler mit Erstliga-Qualität zu verpflichten, besteht Chapecoenses Mannschaft fast zur Gänze aus Leihspielern anderer Clubs sowie Spielern aus der eigenen Jugend.

Insgesamt hat Chapecoense 25 neue Spieler verpflichtet. Das Durchschnittsalter des Kaders liegt bei 24 Jahren.
Wettbewerbsfähig aber ist das Team – das hat das Recopa-Hin­spiel gezeigt. Im Rückspiel dagegen war man chancenlos. Im mit gut 40 000 Zuschauern gefüllten Estádio Atanasio Girardot in Medellín war Atlético Nacional von Beginn an das dominierende Team. Dayro Moreno (2., 67.) und Andrés Ibargüen (31., 80.) sorgten mit ihren Toren für klare Verhältnisse. Der einzige Treffer der Brasilianer durch Tulio de Melo (83.) wurde vom gesamten Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert.

Vier Überlebende der Katastrophe hatten die Reise in die leidvolle Vergangenheit mitangetreten und verfolgten die Partie an Ort und Stelle: die Spieler Jackson Follmann, Alan Ruschel und Helio »Neto« Zampier sowie der Journalist Rafael Henzel. Sie bestiegen den Berg Cerro Gordo, an dem die Unglücksmaschine zerschellt war und der nun Cerro Chapecoense genannt wird.

»Ich musste hierher kommen, um zu sehen, was passiert war (…). Ich wusste, dass es schwierig war, aber nicht derart schwierig, es war ein Wunder Gottes«, sagte der frühere Torwart Follmann, dem nach dem Unfall ein Bein amputiert werden musste.

Der Berg empfing die Überlebenden mit einem ähnlichen Klima wie in der Unglücksnacht: mit Regen, Schlamm und Nebel. Mitglieder des kolumbianischen Roten Kreuzes halfen beim Aufstieg. Oben angekommen gab es ein Treffen mit Rettungskräften, Anwohnern und Anhängern von Atlético Nacional sowie Chapecoense.

Später trafen die vier Überlebenden mit Ärzten und Pflegepersonal im Hospital San Vicente zusammen. »Es gibt ein sehr gutes Gefühl; wir wollen allen danken, die uns geholfen haben; es gibt nicht viel zu sagen, eine Umarmung sagt genug«, so Alan Ruschel bei dem Besuch im Krankenhaus.

»Ich habe zwei Geburtstage: am 25. August in Brasilien, am 28. November hier in Kolumbien, denn wir wurden neu geboren, es gibt keine andere Erklärung«, sagte Rafael Henzel.