Verlassene Dörfer in Georgien

Niemand zu Hause

Die Dörfer im Norden Georgiens sind verwaist. Aus dem Grenzgebiet zu Russland und den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien wandern vor allem junge Menschen massenhaft ab.
Reportage Von

Die Gebäude am Europaplatz in Tiflis waren mit EU-Flaggen angestrahlt. Überall in der Stadt wurde am 28. März die Abschaffung der Visumpflicht für georgische Staatsbürgerinnen und -bürger bei Reisen in den Schengenraum gefeiert. Wer im Besitz eines biometrischen Passes mit Fingerabdruck ist, kann nun ohne Visum für 90 Tage in den Schengenraum einreisen. Die Entscheidung des EU-Parlaments ist nicht unbeschränkt gültig: Sollte die Kriminalitätsrate georgischer Staatsbürger in der EU steigen oder vermehrt festgestellt werden, dass Eingereiste die Aufenthaltsdauer überschreiten, kann die Visumfreiheit werden. Rund 800 Georgierinnen und Georgier verließen am folgenden Tag ihr Land, zumeist Studierende, Wissenschaftler und Regierungsmitarbeiter.

So erfreulich dieser Schritt der Annäherung an die EU für die meisten in Georgien sein dürfte, Verhandlungen über einen EU-Beitritt liegen noch immer in weiter Ferne. Die innenpolitische Situation ist zwar einigermaßen stabil, Probleme birgt jedoch der Konflikt um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien, die in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen von Russland unterstützt werden, jedoch nach internationalem Recht zu Georgien gehören.

Die an der georgischen Schwarzmeerküste gelegene Provinz Abchasien vertiefte kürzlich ihre diplomatischen Beziehungen zu Russland anlässlich eines Besuchs des russischen Außenministers Sergej Lawrow. Die georgische Regierung kritisierte dies scharf als Missachtung der georgischen Souveränität. Die Unabhängigkeit Abchasiens wird neben Russland lediglich von drei weiteren UN-Mitgliedsstaaten anerkannt: Venezuela, Nicaragua und der pazifischen Minirepublik Nauru. Alle drei haben bereits diplomatische Vertretungen in der Provinzhauptstadt Suchumi aufgebaut.
Im April wählte Südossetien den Parlamentssprecher Anatoli Bibilow mit knapp 58 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten. Gleichzeitig wurde ein Referendum über eine Umbenennung der Region in Alanien und eine mögliche Eingliederung in die russische Teilrepublik Nordossetien-Alanien abgehalten, bei dem fast 80 Prozent der Wahlbeteiligten mit »Ja« stimmten. Die Präsidentschaftswahlen und das Referendum wurden nur von wenigen Staaten anerkannt, darunter Russland und Aserbaidschan. Seit März stehen südossetische Truppen an der Grenze zu Georgien, etwa 40 Kilometer entfernt von Tiflis, unter dem Befehl russischer Kommandeure.

Verlassene Dörfer
Auf georgischer Seite des sich immer wieder um ein paar Meter ändernden Grenzverlaufs leiden die Bewohnerinnen und Bewohner des Kaukasus-Staats unter den ohnehin schon schwierigen Lebensbedingungen. Wenige Kilometer von Russland und Südossetien entfernt liegt Stepanzminda, die Hauptstadt des Distrikts Qasbegi. Das Zentrum der Stadt ist geprägt vom Tourismus. Zumeist russische Urlauberinnen und Urlauber kommen hierher, um im Großen Kaukasus die Berge zu besteigen und Wintersport zu treiben. Während es für georgische Staatsangehörige oft Monate dauert, um eine Einreisegenehmigung nach Russland zu bekommen, ist es russischen Bürgerinnen und Bürgern seit 2011 wieder möglich, die Grenze ohne Visum zu passieren. Besonders für die fast 30 000 Vertriebenen aus Südossetien, von denen viele seit Jahren in eigens erbauten Flüchtlingsunterkünften ausharren, ist der Grenzübertritt fast unmöglich. Viele glauben hier nicht mehr an eine Rückkehr in ihre alten Häuser und haben sich in kleinen Hütten in den Siedlungen eingerichtet.

Die georgischen Dörfer abseits von Stepanzminda, oft schwer zu erreichen und für Touristen meist uninteressant, haben ein enormes Problem mit der Abwanderung. Besonders für die Jugendlichen gibt es hier keine Perspektive. Fast die Hälfte aller Bewohnerinnen und Bewohner der landwirtschaftlich geprägten Gebiete Georgiens gelten als nicht oder nur zeitweise erwerbstätig. Die jungen Menschen gehen nach Tiflis oder versuchen ihr Glück im Ausland. Im Rest des Landes beträgt die Arbeitslosenquote über zwölf Prozent – das sind zumindest die offiziellen Zahlen.
Etwa ein Drittel der georgischen Bevölkerung hat seit dem Zerfall der Sowjetunion das Land verlassen. Besonders in den Dörfern an der russischen Grenze sind die Folgen sichtbar: Über 200 Ortschaften stehen leer, in etwa 150 leben nur noch weniger als fünf Menschen. So auch in Ketrisi. Nur im Sommer kommen die Schaf- und Kuhhirten in die Gegend, deren Boden als besonders nährstoffreich gilt, um ihre Herden grasen zu lassen. Jeweils mehrere Personen leben dann in den ansonsten verlassenen Häusern und teilen sich die Arbeit. Viele von ihnen kommen aus Aserbaidschan. Läuft ihr Vieh allerdings auf die andere Seite der Grenze, brauchen sie eine Ausnahmegenehmigung aus Tiflis, um es wieder einfangen zu dürfen, sonst drohen ihnen Geldstrafen.

»Vergangene Woche haben wir eines unserer Pferde verloren, weil es über die Grenze gelaufen ist«, erzählt Hamid, ein Kuhhirte, der sich mit seiner Familie in einem der verfallenen Häuser einquartiert hat. »Aber es wäre für uns zu viel Aufwand, deshalb Papiere zu besorgen. Wir haben uns damit abgefunden«, sagt er, während er mit seiner Frau große Käseblöcke in einem Leinentuch auspresst.

Als die Nato 2016 ihr jährliches Militärmanöver nur wenige Kilometer entfernt auf dem seit 2015 genutzten ehemaligen sowjetischen Militärstützpunkt Wasiani abhielt, wurden die Grenzübergänge nach Südossetien komplett gesperrt. In Wasiani werden neben georgischen und US-amerikanischen auch britische Truppen ausgebildet, die zur Unterstützung der Krisenreaktionskräfte (NRF) in östlichen Nato-Ländern nahe der russischen Grenze weiter aufgestockt werden sollen.

Kunst für Perspektiven
Der kleine Ort Sno wirkt im Vergleich zu den anderen Dörfern recht belebt. Auf dem Basketballfeld vor der alten Schule spielen viele Jugendliche. »Nur im Sommer ist hier was los«, meint Bidzina Snoweli, der 78jährige Kunstlehrer der Schule. Er hat selbst seinen Schulabschluss hier gemacht. Mittlerweile unterrichtet er die wenigen übriggebliebenen Schülerinnen und Schüler in traditioneller Holzbildhauerei und Malerei. »Viele Familien haben noch Häuser hier und verbringen die Sommerferien auf dem Land. An der Schule gibt es nur noch 36 Schüler, dafür aber 16 Lehrer. Früher waren wir 25 Schüler in einer Klasse«, sagt er. Seine Werkstatt ist zugleich der Unterrichtsraum. Überall stehen seine Arbeiten zwischen denen der Schüler. Er hat nach seinem Architekturstudium für viele internationale Auftraggeber gearbeitet. Besonders oft fertigt er kunstvoll verzierte Holzstühle für die orthodoxe Kirche an. In den Räumen bietet Snoweli aber auch ein Forum für Interessierte. Es ist ein Treffpunkt für junge Menschen, für Künstler und Handwerker aus der Umgebung. Vor der Werkstatt arbeiten gerade drei junge Männer an einem Grabstein. In einem Nebenraum bemalen Kinder die Wände. »Ich möchte den Kindern Perspektiven eröffnen, ihnen helfen, sich frei zu entfalten und zeigen, dass es mehr gibt als Mathematik und Fernsehen«, bemerkt der Lehrer stolz. »Ich glaube, so kann ich meinen Teil dazu beitragen, die Kinder zu autonomen und eigenständigen Wesen zu erziehen. Hier bekommt man von dem Rest der Welt nur mit, was in den Medien gezeigt wird. Deshalb wollen alle nach Tiflis und Europa.«

Einsame Winter
Einige Stunden Fahrt entfernt liegt die Bergbaustadt Tqibuli. Erst zur Zeit der Sowjetunion wurde sie aufgrund des florierenden Kohlebergbaus in den Rang einer Stadt erhoben. Während der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre konnte man dann ein ausgewachsenes Schwein gegen eine Wohnung tauschen, denn ein Drittel der Einwohner wanderte damals ab. Der Anblick der heruntergekommen Plattenbauten lässt nichts mehr von der einstigen Blüte der Stadt erahnen. Bergbau betreiben hier nur noch wenige Kleinunternehmer. Die strukturelle Umstellung von industrieller Produktion auf Landwirtschaft geht nur sehr schleppend voran.

In Mestia, dem Hauptort der historischen Region Swanetien, locken uralte und oft schön renovierte Steinhäuser, Hotels und Restaurants. Die Stadt profitiert vom Tourismus. Besonders die im Umland liegenden Skigebiete sind beliebte Ausflugsziele, auch für viele Georgier. Zahlreiche Pisten sind noch im Bau. Rücksicht auf die Natur wird dabei selten genommen.

Gulbati lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mestia. Seine Familie besitzt zwei große Steinhäuser, die sein Großvater erbaut hat. Eines davon möchte die Familie bald als Herberge für Wanderer ausbauen. »Meine Familie lebt hier schon immer. Auch wenn ich die Touristen gerne willkommen heiße, ärgert es mich, dass die Regierung die Wälder und Weiden zerstört, um Skipisten zu bauen. Die Natur ist das Wichtigste, was wir hier oben haben«, sagt Gulbati. »Wir sind auf sie angewiesen und müssen sie respektieren.« Sein jüngster Sohn Giorgi hat einen Job als Bauarbeiter auf der Baustelle einer der geplanten Pisten gefunden. Sauer ist Gulbati jedoch nicht auf ihn, schließlich muss Giorgi irgendwie seine junge Familie ernähren.

»Leider haben die jungen Menschen hier wenig Interesse daran, in der Landwirtschaft zu arbeiten«, sagt er und schüttelt traurig seinen Kopf. »Doch selbst wenn, wird ihnen immer mehr die Grundlage entzogen. Geld kann man nur noch mit dem Tourismus verdienen. Mit den wenigen Tieren, die wir besitzen, kommt man gerade so über die Runden.« Gulbati hofft, dass die Regierung in Zukunft mehr Rücksicht auf die Belange der Bewohner in den Bergdörfern nimmt, doch oft wurde er schon enttäuscht.

Verlässt man von Mestia aus kommend die ausgebauten Straßen, erreicht man nach 40 Kilometern, für die man fast fünf Stunden braucht, Uschguli. Es ist die am höchsten gelegene Siedlung Europas, auf über 2 200 Metern. Seit 1996 ist sie Weltkultur­erbe der Unesco. Im Winter sind die Bewohner fast ein halbes Jahr dort eingeschneit, kommen wegen der Schneemassen oft Wochen nicht aus dem Haus. Hier sieht man mittelalterliche Türme, die vor Hunderten Jahren zu Zwecken der Verteidigung und als Kornspeicher für den Winter gebaut wurden. In Uschguli gehört zu fast jedem Haus einer dieser Türme. Von einst über 100, für die das Dorf den Rang des Weltkulturerbes erlangte, sind jedoch nur etwa 30 übrig. Das Geld, um sie fachgerecht zu sanieren, hat hier niemand. Nur noch wenige Türme sind wirklich begehbar. Doch auf Unterstützung von der georgischen Regierung zu hoffen, ist zwecklos.

Am frühen Mittag kommen die Touristen in den Marschrutkas, den geländetauglichen Minibussen, die im ganzen Land verkehren. Bereits am Nachmittag sind sie wieder weg. Die meisten Besucher schauen nur kurz in Uschguli vorbei. Verbringt man dort mehr Zeit, fällt auf, dass nur eine der vier kleinen Dorfsiedlungen, die nur wenige Meter voneinander entfernt liegen, wirklich erhalten und belebt ist. Nur hier drehen die Touristen ihre Runden. In die unten liegenden Viertel verirrt sich selten jemand. Viele Häuser stehen leer und verfallen. Vor zwei Jahren hat eine Lawine einen Großteil der

Infrastruktur und Gebäude zerstört.
Nur wenige Menschen sieht man auf den matschigen Wegen. Bedqil lenkt sein Pferd geschickt zur Tränke auf dem überschwemmten Dorfplatz. Der junge Mann lebt nur im Sommer hier oben bei seiner Familie. Eigentlich soll er an diesem sonnigen Tag seinem Großvater bei der Heuernte mit dem Ochsenkarren helfen, doch er verbringt die Zeit lieber auf dem Pferd. Ab und an treibt er eine verlorene Kuh von den Hängen zurück. Reiten lernen vor allem die Jungen schon in frühem Alter. Kommt der erste Schnee, fährt der 28jährige wieder nach Tiflis. »Ich habe mir schon oft überlegt, auch über den Winter hierzubleiben«, sagt Bedqil, »aber wer ist schon so verrückt und verbringt Wochen in einem Haus ohne Strom?« Wer keinen Job in der Tourismusbranche findet, zieht meist weg. Das Interesse an der Landwirtschaft ist unter den jungen Menschen nur schwach ausgeprägt.

Die Alten bleiben
Nur die alten Menschen bleiben zurück. Der Künstler Fridon Nijaradze lebt in einem Haus am höchsten Punkt des Dorfes. Er sei in den vergangenen Monaten depressiv und nicht sehr mitteilsam gewesen, warnen die Nachbarn, und er male nur noch selten. Die Wände seines einfachen Steinhauses sind verhängt mit seinen impressionistischen Gemälden voller georgischer Motive, Symbole und Allegorien, die er gerne und mit großer Mühe erklärt. Stundenlang unterhält er mit Anekdoten und Details seiner Bilder, erzählt, wie gerne er im Winter Ski fährt, und verschenkt zum Abschied stolz zwei kleine, signierte Kunstdrucke. Seinen Lebensunterhalt verdient er hauptsächlich mit dem Tourismus. Nijaradze und sein Bruder betreiben vier Gästezimmer. Früher wurden seine Kunstwerke oft billig an Reisende verkauft, die übriggebliebenen Arbeiten sind unverkäuflich. Wenn es ihm gutgeht, arbeitet er auch als Führer im Volkskundemuseum, einem kleinen unscheinbaren Bau, in dem man erfährt, wie die Menschen in Uschguli früher die Winter mit ihren Tieren in einem Raum verbrachten und manchmal sogar das Bett mit ihnen teilten, um zu nicht zu erfrieren.

Bekannt wurde der Künstler wegen seiner religionskritischen Werke. Auch den Kommunisten war Nijaradze unbequem. Hammer und Sichel verwendet er in seinen Bildern häufig als Symbol für das Böse. Er bezeichnet die Zeit des Kommunismus, in der er mehrere Monate in einer Anstalt in Tiflis verbrachte, als dunkle Jahre seines Landes. Die Familie versuchte damals, ihn davon abzubringen, weiter so »sinnlos« und »verrückt« zu malen. Doch er blieb seiner Überzeugung treu, genauso wie seinem Dorf. Er könne sich nicht vorstellen, jemals von hier wegzugehen, auch nicht nach Europa. Das Problem ist seiner Ansicht nach die Regierung. »Um die ländlichen Gebiete im Kaukasus kümmert sich von denen niemand«, so Nijaradze, »dabei hat die Region viel Potential. Doch solange hier alles verfällt und die Straßen immer schlechter werden, werden die jungen Menschen fortgehen. Vor allem in die EU.«