Der Luther-Kult und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat

Religion berauscht nicht mehr

Weder Katholizismus noch Protestantismus besitzen heutzutage eine fortschrittliche Funktion. Die Liberalisierungsversuche der Kirchen hinken der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher.

In Marburg, der »Reformationsstadt 2017«, wurde 1527 die erste protestantische Universität gegründet. Vermutlich liegt es daran, dass es der Stadt immer noch schwerfällt, sich mit Martin Luthers Antisemitismus auseinanderzusetzen. Immerhin soll es im Rahmen der »Luther- und Reformations-Aktivitäten 2017« einen »Zettelkasten« auf dem Gelände der 1938 zerstörten Synagoge geben, in dem öffentlich Zitate aus Luthers Hetzschrift »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) thematisiert werden. Die von der SPD geführte Stadtverwaltung sucht derweil ostentativ das Bündnis mit den Religionen: Sie fördert die protestantische Elisabeth­kirche ebenso wie konservative Moscheen und den Christustreff. Ein »Runder Tisch der Religionen« soll helfen, Marburg als »weltoffen« zu verkaufen, Atheisten sind nicht vorgesehen. Säkular wird die Stadt in diesem Jahrhundert vermutlich nicht mehr werden, und das gilt leider auch für Deutschland.

Die Kirchen stellen sich heute einträchtig an die Seite des Islam zusammen, um den gemeinsamen Feind, die Säkularisierung,auf Abstand zu halten.

An etwa 50 theologischen Fakultäten können die Kirchen auf Staatskosten Lehrpersonal ausbilden. Eine Alternative zum Religionsunterricht ist in vielen Bundesländern nicht vorgesehen: Immer noch bedeutet die Befreiung vom Religionsunterricht oft, dass Grundschulkinder die Unterrichtszeit auf dem kalten Flur oder in höheren Klassen mit Stillarbeit verbringen müssen. Wo Ersatzunterricht stattfindet, suggerieren Titel wie »Werte und Normen« oder »Ethik«, es gehe auch im Religionsunterricht um die Vermittlung von Moral, die Atheisten und Andersgläubigen dann anders beigebracht werden müsse. Man könnte als Ersatz aber ebensogut Kunst- oder Biologieunterricht geben. Der Besuch des Religionsunterrichts steigert nicht unbedingt das soziale Engagement. Wie auch: Kinder lernen schon im konfessionellen Kindergarten, dass Gott seinen lieben Sohn für gute Taten ans Kreuz nageln lässt und alle anderen für schlechte in die Hölle schickt, und wenn man beides glaubt, bekommt man zur Konfirmation einen Motorroller.

Dass die Kirchen auch soziale Projekte organisieren, verschleiert, wie sehr sie davon profitieren. Kaum eine Stelle in der staatlich geförderten Entwicklungszusammenarbeit wird ohne Konfessionszwang ausgeschrieben – ein Zustand, dem Gerd Müller (CSU), Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, unbedingt beibehalten will. Seine Strategie lautet, religiösen Terrorismus mit mehr Religion einzudämmen.

Wie das funktioniert, zeigte der diesjährige evangelische Kirchentag in Berlin. Dort diskutierte Ahmad Moham­mad al-Tayyeb, Großimam der al-Azhar-Moschee in Kairo, der 2002 zur Unterstützung von Selbstmordattentaten gegen die »Feinde Allahs« in ­Israel aufgerufen hatte, mit Thomas de Maizière, der einst das Kirchenasyl mit der Sharia gleichgesetzt hatte. Die Kirchen stellen sich heute einträchtig an die Seite des Islam, um den gemeinsamen Feind, die Säkularisierung, auf Abstand zu halten. Irgendeine fortschrittliche Funktion ist heutzutage weder vom Katholizismus noch vom Protestantismus zu erwarten. Die marginalen Liberalisierungsversuche in Sachen Frauenrechte, Homosexualität, Kinderschutz, Ökologie hinken dem gesellschaftlichen Fortschritt hinterher, für den säkulare Organisationen ­gegen die kirchlichen und mit einem Bruchteil von deren Ressourcen ein­getreten sind.

Und doch war der Protestantismus einst revolutionär. Sowohl die Gegner als auch die Anhänger der Reformation reduzierten diese auf die Figur Martin Luther und übersahen die geschichtliche Dialektik, durch die die Reformation unvermeidbar wurde. Auch wenn der Katholizismus über 1 000 Jahre lang sein Monopol in Westeuropa verteidigen konnte, haben seine inneren Widersprüche stets Konkurrenten hervorgebracht. Zunächst den Arianismus, später ­Waldenser, Katharer, Hussiten, Lollarden und auch die Deutsche Mystik. Alle versuchten bis zu einem gewissen Grad, das Christentum zu demokrati­sieren und an die Stelle des päpstlichen Dogmas ­individuelle Gotterkenntnis zu setzen. Der Sturz des Klerus nahm schließlich trotz aller Rettungsversuche den Sturz des Feudalismus vorweg.

Strukturell war der Protestantismus Aufklärung: Der einzelne Gläubige wurde zum Herrn seines Glaubens, er sollte es wagen, Inhalte und Quellen zu prüfen. Rituell rückte der Protestantismus Gott den Gläubigen näher, aber inhaltlich in eine monotheistische Absolutheit. In dem entstehenden ­intellektuellen Raum konnten die aufstrebenden Naturwissenschaften florieren. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler an den Universitäten waren Protestanten, die in den Naturgesetzen Gottes Geheimnisse entdecken wollten.
Allerdings wäre die Frühaufklärung ebenso undenkbar gewesen ohne die Wiederentdeckung antiker Schriften während der Eroberung der islamischen Bibliotheken in der Reconquista, ohne die vom katholischen Italien ausgehende Renaissance, ohne die Katholiken Erasmus von Rotterdam und René Descartes. Das Bild des Katholizismus als Hort der Reaktion, konservativ, mystisch und stets auf Hexenjagd, ist historisch nicht haltbar. Was die großen Hexenjagden der Renaissance angeht, so ließen sie gerade die erzkatholischen Länder Italien, Spanien und Portugal nahezu unberührt. Die heftigsten Hexenjagden fanden im umkämpften Mitteleuropa statt und dort standen die Protestanten den katholischen und weltlichen Hexenjägern in nichts nach. Ihre Dämonologien waren nicht fortschrittlicher und Kritik an Hexereivorstellungen kam ebenso aus dem katho­lischen wie aus dem protestantischen Lager. Die protestantische Ritualmagie des Buches und des Wortes war etwas vergeistigter, aber nicht weniger bindend als die Riten der Katholiken.

Wo die Reformation von sozialen ­Bewegungen überlagert wurde, sabotierte ihr Bündnis mit reformierten Feudalherren rasch ihr klassenkämpferisches Moment. Luther wandte sich von der revoltierenden Landbevölkerung ab und empfahl zuletzt, die aufständischen Bauern »wie einen tollen Hund« zu erschlagen, »zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich«. Ganz ähnlich schlug seine anfängliche Sympathie für Juden in sadistische Verfolgungslust um. Obrigkeitshörigkeit sollte sein Ideal bleiben. Bot die katholische Kirche ein liberales Konzept von Sünde, so gab es für den Protestantismus eine straffere Verpflichtung auf das begriffene Wort, das Gesetz hatte in die Individuen einzuwandern. Wie der Salafismus heute wollte der ­Protestantismus den Menschen den ­direkten Zugang zu Texten ermög­lichen – verpflichtete sie aber dadurch nur umso stärker auf den Text.

Im 19. Jahrhundert zerbrach das Bündnis von Protestantismus und Wissenschaft unter dem Schock von Charles Darwins Evolutionstheorie endgültig. Die Entdeckung der fleisch­fressenden Pflanzen, der Dinosaurier und des Chaos der Evolution mit dem bloßen Zufall der Menschwerdung des Affen zerstörte die letzten Hoffnungen auf einen göttlichen Plan. Heute versuchen Protestantismus und Katholizismus den rettenden Schritt zum Pantheismus: Die Evolutionslehre soll Gott bestätigen, nicht ­widerlegen. Der versteinerte Ammonit und der Urknall werben für Gottes Geheimnis, als könnte man mit dem zeitlosen Blubbern von untergehenden und auf­gehenden Galaxienhaufen irgendeinen Satz der Bibel begründen. Deshalb wird die christliche Moral fortan negativ begründet: Es gebe Schlimmeres als das Christentum, nämlich den Nationalsozialismus – als ob dessen Bösartigkeit das Christentum als Alternative empfähle.

Max Horkheimer machte unmissverständlich auf die Übernahme zerfallener, ihrer historischen Sinnhaftigkeit verlustig gegangener religiöser Riten in den Faschismus aufmerksam. Dieser entstand weniger als Resultat der fort­lebenden denn als Resultat der zwangsläufig verwesenden Religion. Der am Darwin-Schock verstorbene Gott lebt fort, weil die Menschen die geistige ­Obdachlosigkeit scheuen. Längst berauscht an Religion nichts mehr – wie beim Opium werden die Gläubigen lediglich zittrig, wenn sie keine mehr ­haben. Die anlaufenden Kirchentage greifen daher auf Bespaßung und Stars zurück – um Ökumene geht es, ums gemeinsame Durchhalten, nicht um Reformation oder Bekehrung.