Iván Simonis Pertiñez, Dokumentarfilmer, über die Situation politischer Gefangener in Venezuela

»In Venezuela sind alle auf eine Art Gefangene«

Iván Simonovis Pertiñez ist Filmemacher aus Venezuela und lebt derzeit in Berlin. In seinen Dokumentarfilmen behandelt er Themen wie Migration, Integration und politische Verfolgung.
Interview Von

Sie haben zuletzt einen kurzen Dokumentarfilm über den bekannten ­venezolanischen Oppositionellen Gabriel San Miguel gedreht, der im September 2016 nach drei Monaten Untersuchungshaft aus dem Gefängnis entlassen wurde. Was ist das Besondere an seinem Fall?
Gabriel San Miguel wurde inhaftiert, weil er die Unterschriftenaktion für die Absetzung des venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro unterstützt hatte. Als die Polizei ihn festnahm, trug er Bargeld im Wert von etwa 400 Euro und oppositionelle Flugblätter bei sich. Das Geld alleine wäre wahrscheinlich nicht so problematisch gewesen, aber in Verbindung mit den Flugblättern wurde es automatisch zu einer Bedrohung für die Regierung – und damit zu einem Vorwand, um San Miguel festzunehmen. Er war drei Monate unter unmensch­lichen Bedingungen in Haft, bevor der Prozess überhaupt losging. Vor Gericht wurde dann relativ schnell klar, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei Beweise gegen ihn hatte. Wenn es jedoch keinen internationalen Druck gegeben hätte (San Miguel verfügt neben der venezolanischen über die spanische Staats­bürgerschaft, Anm. d. Red.), säße er vermutlich bis heute im Gefängnis.

Worum geht es in dem Film?
Nach seiner Freilassung hatte ich die Gelegenheit, San Miguel in Spanien zu treffen und einen kurzen Dokumentarfilm mit ihm zu drehen. Ich wollte in erster Linie zeigen, was die emotionalen Konsequenzen dieser willkürlichen Haft sind. Außerdem beschreibt San Miguel in dem Film Episoden aus dem Gefängnisalltag, etwa wie er einen Gefängnisaufstand überlebt hat.

Wie gehen Sie bei Ihrer filmischen Arbeit vor?
Ich versuche, mich weniger auf die harten Fakten zu konzentrieren und eher die menschliche Seite der Geschichten wiederzugeben. Das heißt, meine Filme sind keine Aneinanderreihung von Ereignissen in chronologischer Reihenfolge. Vielmehr geht es mir darum, zu dokumentieren, wie sich Menschen in bestimmten Situationen fühlen und was diese Erlebnisse für ihr weiteres Leben bedeuten. Im Fall von San Miguel habe ich versucht, die Emotionen hinter einer Geschichte zu zeigen, die die meisten schon aus den Nachrichten kennen. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten waren etwa 100 Personen aus poli­tischen Gründen in Haft. Mittlerweile müssen es mindestens 200 Personen sein. Gerade ist es besonders schwierig, den Überblick über die genauen Zahlen zu behalten, da die Polizei bei den Protesten fast täglich neue Menschen festnimmt.

Derzeit arbeiten Sie an Ihrem ersten Dokumentarfilm in Spielfilmlänge, der die Situation der politischen Gefangenen in Venezuela analysiert. Welche Geschichten erzählen Sie in diesem Film?
Ich arbeite bereits seit drei Jahren an dem Film. Bis jetzt habe ich hauptsächlich Interviews gedreht, die verschiedene Aspekte des Alltags in einem venezolanischen Gefängnis widerspiegeln. Ich habe beispielsweise eine Frau begleitet, die die Tante und gleichzeitig quasi die Ersatzmutter eines der Gefangenen ist. Sie lebt etwa eine Stunde außerhalb von Caracas in der Hafenstadt La Guaira unter sehr prekären Bedingungen. In dem Film erzählt sie, wie sie jeden Sonntag um vier Uhr früh aufsteht, um ihren Neffen im Gefängnis zu besuchen. Sie ist dabei auf die öffentlichen Transportmittel angewiesen, die extrem chaotisch und unzuverlässig sind. Wenn sie dann um elf Uhr im Gefängnis ankommt, wird sie regelmäßig von den Wächtern erniedrigt.

Was interessiert Sie besonders an der Situation der politischen Gefangenen?
Das Thema liegt mir sehr am Herzen. Ich will mit diesem Film jedoch nicht in erster Linie auf das Elend der Gefangenen und ihrer Angehörigen aufmerksam machen. Ich verstehe Geschichten wie jene dieser Frau eher als eine Metapher für die Situation, in der sich alle Venezolaner gerade befinden. Denn genau wie die politischen Häftlinge leben auch alle anderen Venezolaner gerade unter unerträglichen Bedingungen. Auch sie müssen um vier aufstehen, etwa um entsprechend ihrer Ausweisnummer für Lebensmittel ­anzustehen. Im Grunde sind also alle Menschen auf irgendeine Art gefangen in diesem Land – vielleicht mit Ausnahme der boliburgueses, der chavistischen Elite. Nur sie können es sich trotz der miserablen Situation im Land offenbar nach wie vor leisten, ihre Kinder an die teuersten Universitäten Europas zu schicken.

Mit welchen Begründungen werden die politischen Gefangenen üblicherweise festgenommen?
Die Fälle, die ich für den Film recherchiert und dokumentiert habe, sind sehr unterschiedlich und oft schlicht absurd. In Venezuela gibt es keine gerechten Verfahren, teilweise werden die Inhaftierten überhaupt nicht vor Gericht gestellt. Die Fälle der Menschen, die während der politischen Proteste festgenommen werden, werden jetzt sogar vor Militärgerichten verhandelt. Viele wurden auch aufgrund verdächtiger Telefonate festgenommen. Ein gutes Beispiel ist der Fall des wohl bekanntesten politischen Gefangenen Venezuelas, Leopoldo López (der Vorsitzende der oppositionellen Partei Voluntad Popular befindet sich seit 2014 in Haft, Anm. der Red.). Bis heute konnte kein Gericht ihm irgendein Verbrechen nachweisen. Er ist unschuldig, und selbst wenn er das nicht wäre, müsste das Urteil allein wegen des vollkommen asymmetrischen, ungerechten und ­politisierten Gerichtsverfahrens zurückgenommen werden. (López wurde im September 2015 wegen »Anstiftung zu Gewalt und Verschwörung« zu 13 Jahren, neun Monaten und sieben Tagen Haft verurteilt, Anm. d. Red.)

Das heißt, die Regierung lässt willkürlich politische Gegner festnehmen?
Genau. Diese Fälle zeigen sehr gut, dass es in Venezuela im Grunde keine Gewaltenteilung gibt. Am auffälligsten ist das beispielsweise beim Abgeord­neten Diosdado Cabello, der offiziell Mitglied des Parlaments ist. Inoffiziell agiert er jedoch eher wie eine Art Vizepräsident. Er wird verdächtigt, der Chef des mächtigen Drogenkartells Cartel de los Soles zu sein. Wenn er oder auch Nicolas Maduro sich öffentlich negativ über eine Person äußern, wird diese Person binnen kurzer Zeit festgenommen. Das Verrückte ist, dass sämtliche Mitglieder der chavistischen Regierung nach dem Militärputsch 1992 selbst in Haft saßen. Dennoch haben sie heute nicht den Anstand, die Inhaftierten respektvoll zu behandeln. Leopoldo López verweigerten sie beispielsweise über zwei Monate hinweg jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Unabhängig davon, was man von der venezolanischen Opposition hält, sollten ­ihren Vertretern doch zumindest faire Verfahren und erträgliche Haftbedingungen garantiert werden.

Wie ist es für Sie, gerade angesichts der aktuellen Proteste im Land, ­Filme über die politische Verfolgung zu drehen?
Ich bearbeite diese Themen nicht aus einem ökonomischen Interesse oder weil ich mich persönlich profilieren möchte – vielmehr fühle ich eine gewisse soziale Verantwortung, die ich ge­rade als im Exil lebender Venezolaner meinem Land gegenüber habe. Was ­gerade in Venezuela passiert, tut mir in der Seele weh. Wie können die staatlichen Fernsehsender Tanzprogramme zeigen, während auf der Straße gerade auf Studenten geschossen wird? Die aktuellen Proteste richten sich gegen Missstände, die seit langer Zeit im Land existieren. Aber durch den Verfall des Ölpreises und die darauf fehlende politische Antwort der Regierung wurden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme extrem. Die Menschen sind ­verzweifelt. Sie sind es leid, Hunger zu haben. Sie sind es leid, keine Medikamente zu haben. Die Kindersterblichkeit ist aktuell höher als in vielen Ländern Afrikas, Soldaten schießen auf den Straßen auf die intellektuelle Zukunft des Landes. Das Land, in dem ich auf­gewachsen bin, existiert im Grunde nicht mehr.

Bereuen Sie Ihre Entscheidung, das Land zu verlassen?
Ich habe Venezuela damals sehr verbittert verlassen. Erst der Abstand hat mir ermöglicht, bestimmte Zusammenhänge zu verstehen. Das ist ein bisschen wie bei einem impressionistischen Bild – solange man zu nah davor steht, sieht man nur verschwommene Flecken. Erst mit etwas mehr Abstand kann man das Gesamtbild erkennen. Leider kann ich meine Filme über politische Gefangene angesichts der aktuellen Situation zurzeit nicht in Venezuela ­zeigen. Das Risiko ist zu hoch, dass mir und meinen Protagonisten Konsequenzen erwachsen. Ich hoffe, dass sich diese Situation in der Zukunft ­ändert. Gerade heute finde ich das Medium Film jedoch besonders wichtig – denn es erlaubt uns, eine Art Erinnerungsalbum zu erstellen. Dadurch ­können wir dafür sorgen, dass dieser Albtraum, der sich gerade in Vene­zuela abspielt, auch in Zukunft nicht vergessen oder verdrängt wird.