Die Bundesregierung tut alles, damit die Abschiebungen nach Afghanistan bald weitergehen können

Mit Islamisten reden

Als Reaktion auf die jüngsten Anschläge in Afghanistan will Außenminister Sigmar Gabriel mit den Taliban verhandeln, damit die Abschiebeflieger bald wieder starten können.

Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt – so rechtfertigte 2002 der mittlerweile verstorbene damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) den Afghanistan-Einsatz deutscher Truppen. Wenn man sich die Bilder der zerstörten deutschen Botschaft in Kabul ansieht, scheint es um die Wehrhaftigkeit nicht sonderlich gut bestellt zu sein. Am 31. Mai sprengte sich dort ein Selbstmordattentäter mit einer in seinem Tanklastwagen deponierten, etwa eine Tonne schweren Bombe in die Luft und riss über 150 Menschen in den Tod. Die afghanische Regierung ist sich sicher, dass das mit den Taliban verbündete Haqqani-Netzwerk dafür verantwortlich ist, auch wenn die Islamistengruppe jegliche Beteiligung abstreitet.

Das Eingeständnis, dass Afghanistan alles andere als ein sicherer Ort ist, wäre zugleich ein Eingeständnis des eigenen Versagens.

Der Anschlag inmitten des Botschaftsviertels, das zu den sichersten Gegenden des Landes gehört, verdeutlicht ein weiteres Mal, dass Afghanistan sich fast 16 Jahre nach Beginn des Nato-Einsatzes weiterhin mitten im Krieg befindet. Bereits seit Jahren fordern Menschenrechtsorganisationen, wegen des anhaltenden Terrors der Taliban und weiterer bewaffneter Gruppen niemanden in das Land abzuschieben. Die Bundesregierung verwies bislang stets darauf, dass es in dem asiatischen Land auch »sichere Regionen« gebe, während sich Botschaftsmitarbeiter und deutsche Soldaten schon lange nur noch mit Militärhubschraubern fortbewegen. Doch das jüngste Attentat ließ sich nicht einmal im fernen Deutschland ignorieren. Einen Tag nach dem Anschlag kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an, Abschiebungen nach Afghanistan vorerst auszusetzen – aber nicht ausnahmslos: Straftäter, sogenannte Gefährder sowie abgelehnte Asylsuchende, die sich weigern, an der Feststellung ihrer Identität mitzuwirken, würden »weiterhin nach Afghanistan zurückgeführt«, so die Formulierung auf der Website des Bundeskanzleramts.

Bis Juli sollen nun Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) gemeinsam die Sicherheitslage neu bewerten. Letzterer präsentierte nur vier Tage nach dem Anschlag in einem Interview mit Bild am Sonntag seinen Plan, wie man das Land wieder vermeintlich sicherer machen könne: durch Verhandlungen mit den Taliban. Also mit genau der Organisation, die mutmaßlich hinter dem Anschlag auf die deutsche Botschaft und damit einem direkten Angriff auf deutsches Staatsgebiet steckt. »Frieden schließt man nicht mit Freunden, sondern mit Feinden«, so die Poesiealbumsweisheit, die Gabriel der Bild-Leserschaft an die Hand gab. Vor zehn Jahren, im Mai 2007, klang der SPD-Politiker, damals Umweltminister, noch ganz anders. In einer Debatte über den deutschen Einsatz in Afghanistan hatte Oskar Lafontaine als Bundestagsfraktionsvorsitzender der Linkspartei einen Abzug der Bundeswehr gefordert. Gabriel warf ihm daraufhin vor, er sei ein »Helfershelfer der Taliban, dem es egal ist, ob die Leute in Afghanistan gefoltert und unterdrückt werden«.

Nun will sich der deutsche Außenminister selbst mit afghanischen Folterern und Unterdrückern an einen Tisch setzen. Bekanntermaßen sind die Taliban in den vergangenen zehn Jahren keineswegs moderater geworden, nur haben sich auf deutscher Seite die Interessen verändert. Abgesehen vom Schutz deutscher Unternehmen und deren milliardenschweren Investitionen in den Wiederaufbau des Landes ist die Idee hinter dem Gesprächsangebot so einfach wie inhuman: Indem man die Taliban dazu bringt, weniger spektakuläre Anschläge zu verüben, die das Gerede deutscher Behörden von »sicheren Regionen« in Afghanistan Lügen strafen, hofft man, bald wieder Afghanen ohne öffentlichen Aufschrei in den fundamentalistischen Tugendterror der Taliban oder die Gewaltherrschaft der Warlords und Milizen deportieren zu können. Ein genereller Abschiebestopp würde nach Meinung des Außenministers schließlich bedeuten, »dass nur noch bei uns Asyl beantragt wird«. Bereits die Aussetzung der Abschiebungen hatte Innenminister de Maizière auf eine Weise begründet, die zynischer kaum sein könnte: Die Botschaftsmitarbeiter hätten wegen des Anschlags Wichtigeres zu tun, als sich um die Ankunft des Abschiebefliegers am Kabuler Flughafen zu kümmern.

Gabriel ist nicht der Einzige, der mit den Taliban reden will. Angesichts des Vormarschs der islamistischen Konkurrenz vom »Islamischen Staat« (IS) in Afghanistan gelten die Taliban in der internationalen Politik inzwischen vielen als das kleinere Übel. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte bereits im April gefordert, mit ihnen in einen »konstruktiven Dialog« zu treten, um sich ihre Unterstützung im Kampf gegen den IS zu sichern. Während für Russland die geopolitischen Interessen im Vordergrund stehen, treibt Deutschland und die EU vor allem die Rückführung der ausreisepflichtigen 80 000 afghanischen Staatsangehörigen um. Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar hatte die EU dazu erstmals mit Afghanistan einen Kooperationsvertrag geschlossen. Das Land verpflichtete sich, bei der Bekämpfung unerwünschter Migration zu helfen und abgelehnte Flüchtlinge zurückzunehmen. Dafür soll es bis Ende 2020 jährlich 1,2 Milliarden Euro Unterstützung bekommen.

Keine vier Monate später bat die stellvertretende Flüchtlingsministerin Alema Alema in einem Interview mit der Deutschen Welle die deutsche Regierung, keine Afghanen mehr in ihr Land zurückzuschicken, da für deren Sicherheit nicht gesorgt werden könne: »Es wird immer wieder gesagt, dass es in Afghanistan sichere Regionen gebe und die Rückkehrer in diesen Regionen leben könnten. Aber Sie wissen, dass dies zurzeit nicht mehr zutrifft.« Während also selbst Mitglieder der afghanischen Regierung ihr Land als failed state beschreiben, hält die Bundesregierung an ihrer Sicht der Dinge fest, dass man zwischen zwei Selbstmordanschlägen ja wohl, zumindest verschleiert und in männlicher Begleitung, in Ruhe irgendwo einen Tee trinken könne.

Das Eingeständnis, dass Afghanistan alles andere als ein sicherer Ort ist, wäre eben zugleich ein Eingeständnis des eigenen Versagens. Seit 2001 befindet sich ausländisches Militär vor Ort, über 500 Milliarden Euro an Finanzhilfen sind seitdem in das Land geflossen. Das Ergebnis: Ein Drittel der Bevölkerung lebt weiterhin unter der Armutsgrenze, zwei Drittel können weder lesen noch schreiben. Die Zahl der Binnenvertriebenen erreichte 2016 einen neuen Höchststand, ebenso die Zahl ziviler Opfer von Kampfhandlungen. Über 40 Prozent des Landes sind fest in der Hand der Taliban. Deren Entmachtung war das ursprüngliche Ziel des Militäreinsatzes, nun wird überlegt, wie man die Taliban an den Verhandlungstisch holen könnte.

Dies war auch eines der Themen der internationalen Friedens- und Sicherheitskonferenz, die nur zwei Tage nach dem verheerenden Anschlag ebenfalls in Kabul stattfand. Noch während die – fast ausschließlich männlichen – Vertreter aus 25 Ländern diskutierten, schlug keine zwei Kilometer vom Tagungsort entfernt eine Rakete im Garten der indischen Botschaft ein. Damit wollten die Taliban ihrem bereits zuvor veröffentlichten Statement Nachdruck verleihen, dass sie jegliche Gespräche ablehnen, solange sich ausländische Truppen im Land befinden. Trotzdem sprach sich auch der afghanische Präsident Ashraf Ghani für Gespräche mit ihnen aus. Er warnte angesichts der komplexen Lage mit 20 bewaffneten Gruppen, die im Land um die Vorherrschaft kämpfen, aber vor nationalen Alleingängen bei der Aufnahme von Friedensverhandlungen. Ob sich Gabriel daran halten wird, ist unklar. Der deutsche Außenminister hat offenbar ein Faible für Gespräche mit islamistischen Gruppen. Bereits 2012 hatte er sich bei einem Besuch in Israel dafür stark gemacht, auch mit der Hamas zu reden.