Die meisten DDR-Oppositionellen strebten einen demokratischen Sozialismus an. So auch die Ostberliner »Kirche von Unten«

Wunder gibt es immer wieder

Vor 30 Jahren gründeten libertäre junge Menschen in Ostberlin die oppositionelle Gruppe »Kirche von Unten«. Im historischen Verständnis der Bundesrepublik bleibt meist ausgespart, dass die meisten DDR-Oppositionellen einen demokratischen Sozialismus anstrebten.

Kirchentag in Berlin. Während dieses Jahr alles im Zeichen des Reformationsjubiläums stand, fand 1987 in der Hauptstadt der DDR ein evangelischer Kirchentag unter ganz anderen Vorzeichen statt. Damals feierte Berlin 750 Jahre seines Bestehens. Im Zuge der Systemkonkurrenz überboten sich Ost- und Westberlin mit städtebaulichen Maßnahmen und Feierlichkeiten. Auch die evangelische Kirchenleitung in der DDR wollte nicht zurück­stehen und zum Stadtjubiläum einen Kirchentag abhalten. Doch sie hatte ein Problem: Seit Beginn der achtziger Jahre agierten unter dem Dach der Kirche oppositionelle Gruppen. Sie forderten die Einhaltung der Menschenrechte, wiesen auf die großen Umweltzerstörungen in der DDR hin und waren friedenspolitisch aktiv.

Die DDR stellte sich selbst als »Friedensstaat« dar und geißelte den »­imperialistischen Westen« als kriegstreiberisch. Tatsächlich stationierte die Nato Anfang des Jahrzehnts auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan in der Bundesrepublik neue Atomraketen vom Typ Pershing II. Doch auch der Warschauer Pakt setzte auf Hochrüstung und die DDR war ein militaristischer Staat, in dem schon Kinder und Jugendliche an das Kriegshandwerk herangeführt wurden. Die ostdeutschen Friedensgruppen forderten dagegen eine Abschaffung des Wehrkundeunterrichts und gemeinsam mit der Friedensbewegung jenseits der innerdeutschen Grenze: »Frieden schaffen ohne Waffen!«

Seit den siebziger Jahren hatten ­zudem Pfarrer in verschiedenen ostdeutschen Städten ihre Kirchen für »Schlüsselkinder« und jugendliche »Eckensteher« geöffnet. Diese Offene Arbeit mit unangepassten Jugendlichen – anfangs vorwiegend alternative Langhaarige, später auch viele Punks – war von Beginn an antiautoritär und basisdemokratisch ausgerichtet. Ihr Motto war: Nicht der Jugendliche, sondern die Gesellschaft muss sich ändern.

In der Samaritergemeinde im Berliner Stadtteil Friedrichshain riefen junge Blueser, wie sich die ostdeutschen Hippies nannten, gemeinsam mit Pfarrer Rainer Eppelmann sogenannte Bluesmessen ins Leben. Die Bluesmessen waren eine Mischung aus politischer Veranstaltung, Gottesdienst und Konzert. Sie füllten die Kirchen mit einem jungen, gesellschaftskritischen Publikum.

Das war der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Sie signalisierte der evangelischen Kirchenleitung, dass der Kirchentag nur stattfinden könne, wenn die Kirchenleitung gegen die Basisgruppen vorginge. Diese untersagte daraufhin die jährlich stattfindenden Friedenswerkstätten und die Bluesmessen. Doch statt klein beizugeben, gingen Berliner Gruppen wie die Of­fene Arbeit, die »Initiative Frieden und Menschenrechte« und die Umwelt­bibliothek in die Offensive. Sie wollten als Gegenstück zum offiziellen Kirchentag einen Kirchentag von unten abhalten. Als sie mit einer Kirchen­besetzung drohten, gab die Kirchenleitung schließlich nach und stellte die Friedrichshainer Peterskirche zur Verfügung.

Im Juni 1987 kamen schließlich 6 000 Besucher zum Kirchentag von unten. So viele, dass sogar noch eine zweite Kirche für die Veranstaltungen geöffnet werden musste. Aus der Offenen Arbeit kommend gründete sich dabei die anarchistische »Kirche von Unten« (Eigenschreibweise, KvU), die fortan eine wichtige Rolle in der Opposition in Ostberlin und in der ganzen DDR spielte. Bei der Abschlussveranstaltung des offiziellen Kirchentags im Köpenicker Stadion Alte Försterei demonstrierten etwa 300 Anhängerinnen und Anhänger der KvU und forderten auf Transparenten »Glasnost in Staat und Kirche«. Glasnost (Transparenz) war einer der politischen Leitbegriffe, mit denen ab 1985 der sowjetische Parteiführer Michail Gorbatschow die Menschen in den staatssozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas ermutigte.

Auf einem anderen Transparent war bei der Protestaktion zu lesen: »Wunder gibt es immer wieder«. »Wunder« verweist dabei sowohl auf den christ­lichen Kontext als auch auf den utopischen Überschuss der KvU. Ihre Mitglieder wie auch die Gruppen der Offenen Arbeit in Jena, Halle und anderswo bewegten sich in einem kirchlichen Umfeld. Manche waren gläubige Christen, andere tummelten sich unter dem Dach der Kirche, weil dies gewisse Freiheiten bot. Volkspolizei und Staatssicherheit hatten keinen direkten Zugriff auf die kirchlichen Räume.

Marianne Birthler, die in den achtziger Jahren in der »Initiative Frieden und Menschenrechte« aktiv war, berichtete einmal: »Wir ­sahen in der Bibel ein politisches Buch, mit einer ­Version von einer gerechteren Welt, die den Namen Sozialismus wirklich verdient.« Nicht alle teilten die Herleitung aus der Bibel, aber das Gros der DDR-Opposition verfolgte das Ziel, den sozialistischen Staat zu demokratisieren. Die Abschaffung aller Militärpakte und die Auflösung sämtlicher Geheimdienste waren übliche Forderungen. In der KvU kursierten zudem rätedemokratische Ideen.

Im Mai 1989 standen in der DDR Kommunalwahlen an. Die Bürger konnten für eine Einheitsliste stimmen oder gegen diese. Bei üblichen ­offiziellen Zustimmungsraten von 98 Prozent galt eine Manipulation als wahrscheinlich. Um diese nachzu­weisen, organisierten DDR-Oppositionelle eigenständig Auszählungen in Ostberliner Wahllokalen. Die KvU-Mitglieder beteiligten sich federführend an den Auszählungen. In der Dokumentation »Wahlfall 89« wiesen die Oppositionellen tatsächlich Wahl­betrug nach. Sie riefen zu monatlichen Protesten auf und schoben damit die Ereignisse des Herbstes 1989 mit an. Allerdings war die Stimmenabweichung gar nicht so groß, immerhin hatten zwischen 85 und 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Einheitsliste gestimmt.

In der Aufarbeitung wie der medialen Vermittlung der DDR-Geschichte entsteht häufig der Eindruck, einer durchweg »bösen« Staatsmacht aus SED und Staatssicherheit habe eine »unbefleckte« Bevölkerung gegenüber gestanden. Die Wirklichkeit der Diktatur sah anders aus. Viele DDR-Bürgerin­nen und -Bürger erfüllten die Vorgaben der SED-Führung. Nur wenige lehnten sich auf. Dirk Moldt, ehemals Kassenwart der KvU, wehrte sich daher vor Jahren in der Taz gegen den Begriff »Bürgerrechtler«: »Wir kritisierten ja das Stillhalten der DDR-Bürger heftig. Das Wort ›Bürger‹ galt uns als Schimpfwort.«

Im Herbst 1989 geschah tatsächlich eine Art Wunder: Mit der Massenbe­wegung, dem Fall der Mauer und dem Sturz der SED-Herrschaft hatte noch im Frühjahr 1989 niemand gerechnet. Im Oktober veröffentlichten KvU-­Mitglieder und andere Linke einen Aufruf für eine »demokratische, freiheitliche sozialistische Entwicklung in der DDR«. Sie gründeten die Gruppe »Vereinigte Linke«.
Doch schon bald entstand aus dem demokratischen Begehren des »Wir sind das Volk« die Begeisterung für die westliche Konsumgesellschaft und die deutschnationale Aufwallung unter der abgeänderten Parole »Wir sind ein Volk«. Soziale Menschenrechte und das antimilitaristische Schwerter-zu-Pflugscharen-Motiv als Staatswappen, wie im Verfassungsentwurf des Runden Tisches für eine neue DDR vorgesehen, hatten im wiedervereinigten Deutschland keine Chance.

Nicht alle teilten die Herleitung aus der Bibel, aber das Gros der DDR-Opposition verfolgte das Ziel, den sozialistischen Staat zu demokratisieren.

Viele DDR-Oppositionelle verabschiedeten sich in den neunziger Jahren von ihren ehemals antikapitalistischen, antimilitaristischen und radikaldemokratischen Zielen. In dem Buch »Alles verändert sich, wenn wir es verändern« über die Offene Arbeit in Erfurt schreibt die Autorengruppe hierzu: »All jene, die uns zumeist von den Medien als Vertretung der DDR-Opposition präsentiert werden, sind dafür deshalb geeignet, weil sie den Bruch zu Überzeugungen aus DDR-Zeiten vollzogen haben und zudem diesen Bruch beschweigen.« Rätedemokratie und Sozialismus haben im bundesrepublikanischen historischen Verständnis keinen Platz. Wenn auf dem für die Mitte Berlins geplanten »Freiheits- und Einheitsdenkmal« in großen Lettern »Wir sind das Volk/Wir sind ein Volk« prangen wird, soll sich der Eindruck verfestigen, die DDR-Opposition habe für den Kapitalismus und die Wiedervereinigung gekämpft.

Für Silvio Meier, KvU-Mitglied und später Hausbesetzer, galt das nicht. 1987 organisierten er, Dirk Moldt und andere ein Konzert mit der ostdeutschen Band »Die Firma« und der Westberliner Gruppe »Element of Crime« in der Ostberliner Zionskirche. Nach dem Konzert überfielen Neonazis die Konzertbesucher und prügelten auf sie ein. Durch die Medienberichterstattung in Westdeutschland wurde schlagartig einer größeren Öffentlichkeit ­bewusst, dass in der DDR ein erhebliches rechtsextremes Gewaltpotential existierte. 1992 erstach ein Neonazi Silvio Meier bei einer Auseinandersetzung am U-Bahnhof Samariterstraße. 2013 wurde eine angrenzende Straße in Silvio-Meier-Straße umbenannt. Die KvU gibt es noch heute. Sie organisiert Punkkonzerte, beteiligt sich an antirassistischen Aktionen und ruft zur Verteidigung alternativer und subkultureller Räume in Berlin auf.