Auf den Spuren Didier Eribons in Reims

Eine Stadt in schlechter Umgebung

Reims gilt nicht erst seit Didier Eribons Buch »Rückkehr nach Reims« als Beispiel für den wirtschaftlichen Niedergang im Nordosten Frankreichs und den Aufstieg des Front National. Tatsächlich sind die politischen Verhältnisse in der Stadt nicht ganz so eindeutig.

Die erste Begegnung mit Reims ereignet sich bereits in 12 000 Metern Höhe über in hessischem Luftraum, im Air-France-Flug 1 535 von Berlin-Tegel nach Paris. Einer der Passagiere ist Didier Eribon. Sein Buch »Rückkehr nach Reims« versetzte 2016 beim Erscheinen in deutscher Übersetzung die Feuilletons hierzulande in Aufregung. Im französischen Wahlkampf wurde es als Standardwerk zur Erklärung des Aufstiegs des Front National (FN) herangezogen. Auf die Frage nach einem spontanen Interview nach der Landung blickt Eribon überrascht von seinem Bücherstapel auf. Meine Fragen könne er nicht beantworten, entschuldigt er sich. Er sei nicht vorbereitet und habe den Vorsatz, derzeit nicht mit der Presse zu sprechen. Dass die Lektüre seines Buchs der ­Anlass für die Reportagereise in seine Herkunftsstadt ist, kommentiert Eribon freundlich: »Genießen Sie meine Stadt!«

Auch wenn »Rückkehr nach Reims« das Bild eines düsteren, postindustriellen Ortes zeichnet, ist Reims auf den ersten Blick durchaus eine Stadt des Genusses. Die Fahrt von Paris dauert mit dem TGV nur eine halbe Stunde. Vom Bahnhof aus spaziert man direkt auf die aufwendig restaurierte Place Drouet d’Erlon. Um einen goldenen Springbrunnen reiht sich Restaurant an Restaurant – alle Lokale sind voll besetzt, auch an diesem Donnerstagnachmittag. Die Tabletts der Kellnerinnen biegen sich unter den Spezialitäten der Champagne: Rinder­tatar, Foie Gras und selbstverständlich Champagner. Die Stimmung ist ausgelassen, es gibt ­keine trüben Mienen, die erloschenen Fabrikschlote und grauen Arbeiterquartiere liegen fernab. Die Stadt hat offenkundig mehrere Seiten. »Wenn man von außen auf Reims schaut, dann denkt man, das ist eine reiche und ­bürgerliche Stadt, auch durch ihre Geschichte und ihren Champagner«, ­sagte unlängst der konservative Bürgermeister Arnaud Robinet in einem ­Interview mit dem Weltspiegel.

Geht es Reims also gut? Kaum. Die Arbeitslosenquote in der Stadt lag 2013 offiziell bei 18 Prozent, mehr als sieben Prozent über dem Landesdurchschnitt. Ende 2016 war sie jedoch wieder auf 10,5 Prozent gesunken, bei landesweit 9,7 Prozent. Geschlossene Fabriken findet man in der Stadt weiterhin ohne Schwierigkeiten. Fast die Hälfte der 168 000 Einwohner lebt in Sozialwohnungen und zahlt wegen zu geringer Einkommen keine Steuern. Auch wegen dieser Entwicklungen stand die Stadt lange exemplarisch für die wirtschaftliche Misere des französischen Nordostens.

Hinzu kommt, dass der rechtsextreme Front National (FN) in dieser Region viele Wähler hat. Als Didier Eribon 2009 »Rückkehr nach Reims« in Frankreich veröffentlichte, begrüßte man das Buch als Beitrag, der die beiden Phänomene, also den wirtschaftlichen Niedergang und den Rechtsextremismus, zusammen erklärte. Eine Schlüsselrolle kommt Eribon zufolge den Kommunisten zu.

Weil sich Frankreichs Linke, im Nordosten traditionell stark, atomisiert und die Belange einer krisengeplagten Arbeiterschaft vernachlässigt habe, hätten sich die Proletarier den einfachen Lösungen des FN zugewandt. Die linken Parteien »sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden«, schreibt Eribon. »Sie wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich.« Deshalb »wandten sich große Teile der ­Unterprivilegierten jener Partei zu, die sich nunmehr als einzige um sie zu kümmern schien«.

Diese Zitate geben Eribons Argumentation nur verkürzt wieder, doch so ­ungefähr wurde sie in den vergangenen Monaten in deutschen Zeitungen häufig dargestellt. Der Tenor: Die Linke ist selbst schuld am Aufstieg des FN. Reims wurde zum typischen Fall dieser Entwicklung erklärt (und vorwiegend mit wirtschaftlichem Niedergang und Rechtspopulismus in Verbindung gebracht).

Doch ausgerechnet in Reims scheint dieses Erklärungsmuster kaum zu greifen. Im April wurden die Wahlkämpfer des FN in der Stadt verbal attackiert. Die meisten Wahlplakate von Marine Le Pen wurden mit Hitlerbärtchen und -scheitel verziert. In der ersten Wahlrunde erreichte Le Pen in Reims mit 21,9 Prozent der Stimmen nur knapp mehr als in ganz Frankreich, wo sie 21,3 Prozent erhielt. In der Stichwahl blieb sie mit 33,1 Prozent hinter dem Ergebnis im Rest des Landes von 33,9 Prozent zurück. Im ersten Wahlgang zur jüngsten Parlamentswahl ­erhielt Sandrine Vignot, die Kandidatin des FN im Wahlkreis Reims, lediglich knapp 15 Prozent der Stimmen und gelangte somit nicht in die zweite Runde.

Dass Marine Le Pen in Reims nicht mehr Wähler für den FN begeistern konnte, ist für Aina Kuric keine Überraschung. Die 29jährige ist die Repräsentantin der Bürgerbewegung »En Marche!« des neuen Präsidenten Emmanuel Macron im Département Marne, in dem Reims liegt. »Im Wahlkampf haben wir viel mehr Zeit in den umliegenden Dörfern verbracht als in Reims selbst. Die Stimmen für den FN kommen in erster Linie vom Land«, sagt sie im Gespräch mit der Jungle World. Die Region Champagne ist stark landwirtschaftlich geprägt. 60 Prozent der dortigen Flächen werden für den Anbau von Wein und Weizen genutzt. Der Landstrich hat mit einer verstärkten Abwanderung in die Städte zu kämpfen, die Menschen sind konservativer als in Reims. Hinzu kommt, dass im Umland nur wenige vom kulturellen und wirtschaftlichen Angebot in der Stadt profitieren. »Ich will die Lage in Reims gar nicht schönreden, aber mit der Wirtschaft geht es bergauf, die Menschen haben, was sie brauchen«, sagt Kuric. »Das Problem ist, dass das Zentrum nur sehr schlecht mit der umliegenden Region verbunden ist. Das schafft ein Gefühl der Marginalisierung.« Ein bisschen verhält es sich mit Reims und der Champagne so wie mit Paris und dem übrigen Frankreich: Das demographische und kulturelle Zentrum hat sich von der Provinz abgekoppelt.

Reims kam in den vergangenen Jahren in den Genuss zahlreicher Transferleistungen: 500 Millionen Euro wurden in die Stadtentwicklung investiert. Bis zum Jahr 2020 erwartet Bürgermeister Robinet eine Milliarde Euro an privaten und öffentlichen Inves­titionen. Das Geld macht sich im Stadtleben bemerkbar: Eine neue Straßenbahn verbindet die peripheren Wohngegenden mit dem Stadtzentrum; 2007 wurde ein neuer TGV-Bahnhof eröffnet, dank dem sich die Reisezeit in die Hauptstadt auf 29 Minuten verkürzte. Ein Jahr später wurde die Spielstätte des Fußballzweitligisten Stade Reims in ein modernes Fußballstadion umgebaut. Selbst die renommierte Pariser Universität Sciences Po hat mittlerweile einen Campus in der Stadt.

Doch die vergleichsweise durchschnittlichen Wahlergebnisse für den FN in Reims lassen sich nicht nur mit der wirtschaftlichen Erholung erklären. Die Zurückhaltung der Wählerschaft hat auch historische Gründe. Als Marine Le Pen kurz vor der Stichwahl einen unangemeldeten Kurzbesuch in die Kathedrale Notre-Dame de Reims unternahm, erlebte sie eine unangenehme Überraschung. Hunderte aufgebrachte Bürger hatten sich spontan versammelt und buhten die Kandidatin aus. Geschützt von Leibwächtern und auf­gespannten Regenschirmen verließ sie die Kirche über einen Seitenausgang und brauste in ihrem Re­nault davon. »Der Grund für Le Pens Besuch ist klar. Sie wollte sich ein nationales Symbol aneignen, sich in eine Reihe mit den hier beerdigten französischen Königen stellen. Doch damit ist sie bei vielen hier in ein Fettnäpfchen getreten«, erklärt Kuric den Aufruhr.

Kaum ein Gebäude in Frankreich ist derart geschichtsträchtig wie die ­Kathedrale von Reims. Seit dem Mittelalter wurden in dem imposanten Bauwerk die französischen Könige gekrönt. Im Ersten Weltkrieg wurde sie durch deutschen Artilleriebeschuss fast zerstört, 1962 reichten sich dort Charles de Gaulle und Konrad Adenauer die Hände als Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung. Der deutsche ­Terror in zwei Weltkriegen hat in der Stadt deutliche Spuren hinterlassen. Das Rathaus wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und ­später wieder aufgebaut, an zahlreichen Wohnhäusern erinnern Plaketten an die Kämpfer der Résistance, die in deutsche Konzentrationslager deportiert wurden. »Die Zeit des Nationalsozialismus und der deutschen Besatzung ist fest in den Familiengeschichten der Rémois verankert«, sagt Kuric. »Auch deshalb hat die Bevölkerung hier ein stärkeres Vertrauen in Europa als in anderen Städten Frankreichs.« Die europäische Verbundenheit wollen viele nicht für ein nationalistisches Experiment aufs Spiel setzen. Mit besonderem Stolz erfüllt die Menschen ein unscheinbares Backsteingebäude hinter dem Bahnhof. Im damaligen Hauptquartier der alliierten Streitkräfte unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl in den Morgenstunden des 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands.

Eine Frage bleibt dennoch offen: Was ist aus den Arbeitern geworden, die früher die Kommunisten wählten? Die Ortsgruppe des FN hält es mit der These von Didier Eribon. »Unsere Wähler sind vor allem die Arbeiter, die bis vor kurzem die Linke gewählt haben und sich von ihr verraten fühlen wegen der Globalisierung und der Ultraliberalisierung«, sagte der örtliche FN-Vor­sitzende Jean-Claude Philipot kürzlich in einem Interview dem deutschen ­Radiosender B5 Aktuell. Doch gibt es diese Arbeiterklasse in Reims überhaupt noch? »Die Welt hat sich verändert, die großen Industriebetriebe mit mehr als 2 000 Arbeitern sind verschwunden. Die Arbeiterschaft, die einmal die Kommunisten wählte, die gibt es so fast nicht mehr. Und auch die Arbeiterviertel sind verschwunden«, so fasste es Cédric Lattuada, der Bezirkssekretär der Kommunistischen Partei in Reims, zusammen.

Eine halbe Stunde Fußweg nördlich vom Stadtzentrum bestätigt sich dieser Eindruck. Im Arbeiterviertel Orgeval ist Didier Eribon aufgewachsen. Die 6 000 Einwohner sind Angehörige der classes populaires. Die hier wohnenden Abgehängten kommen allerdings mehrheitlich aus dem Maghreb und West­afrika. Der FN erzielt in dem Viertel keine Rekordergebnisse. Seine Wähler ­leben auf dem Land, wie Eribons Mutter. Sie wohnt in dem Dorf Muizon, knapp zwölf Kilometer außerhalb von Reims.