Nadia Khiari, Karikaturistin, über ihre Arbeit und das heutige Tunesien:

»Selbstzensur ist der letzte Schritt zur Diktatur«

Nadia Khiari, geboren 1973 in Tunis, ist Karikaturistin, Künstlerin und unterrichtet als Kunstlehrerin an einer Schule. Sie studierte Plastische Künste an der Universität von Aix-en-Provence. Berühmtheit erlangten Khiari und ihre Figur, die Katze Willis from Tunis, in den Revolutionswirren von 2011. Von Salafisten wurde Khiari wegen ihrer harschen Kritik an radikalen religiösen Strömungen und ihren feministischen Positionen mehrfach bedroht. 2014 erhielt die Tunesierin den renommierten italienischen Preis für politische Satire, Premio Satira Politica Forte Dei Marmi. Beim Attentat auf die französische Satirezeitung »Charlie Hebdo« 2015 verlor sie einen engen Freund, Bernard Verlhac, alias Tignous. Sie twittert unter @willisfromtunis.
Interview Von

Warum haben Sie als Karikaturistin und Graffiti-Künstlerin Katzen als Figuren gewählt, die »Stars des Internet«?
Weil ich einen Kater habe. Der heißt Willis. »Willis aus Tunis« ist meine Signatur. Die reimt sich (lacht). Ich habe schon immer Katzen gezeichnet, auch vor der Revolution. Aber niemals öffentlich, das war der Reflex der Diktatur. Man arbeitete in der Anonymität. Ins­piriert haben mich all die streunenden Katzen, die sich hier um die Abfalleimer versammeln. Sie sind wild. Sie gehorchen niemandem, schon gar keiner Autorität. Mir gefällt dieser Charakterzug sehr. Sich niemals und niemandem zu unterwerfen. Jeder kann eine Katze sein. Ich verwende sie für alle Botschaften, die ich vermitteln will, für jegliche Personifizierung, sei es ein Politiker, ein IWF-Delegierter, ein Banker, ein Salafist, ein Karikaturist, ein Journalist. Willis ist natürlich auch mein Avatar.

Ihre erste Katzenkarikatur, die viral weltweit Bekanntheit erlangte, stellte am Tag der sogenannten Jasminrevolution, dem 13. Januar 2011, Tunesiens ehemaligen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali dar.
Ich wollte testen, ob die Internetzensur aufgehoben ist, just in der Nacht der letzten Demonstrationen zur Unterstützung Ben Alis, die während einer strikten Ausgangssperre stattfanden. Das war nach einer der letzten Ansprachen Ben Alis, die er erstmals im tunesischen Dialekt hielt, er wollte volksnäher erscheinen. Zuvor hatte er immer in klassischem Hocharabisch gesprochen. Immer wieder betonte er: »Ich habe euch verstanden.« In meiner Zeichnung freuen sich die Mäuse, seine Anhänger, dass Ben Ali, dargestellt als Katze, daher den Käsepreis gesenkt hat. In Wahrheit waren die vermeintlichen Zugeständnisse nur Taktik, um sich im Amt zu halten. Doch vergebens, er floh nach Saudi-Arabien.

Ist die Karikatur stärker als das geschriebene Wort?
Ich denke schon. Sie ist ein Konzentrat einer Situation, die man in Sekundenbruchteilen vermittelt. Man kann deren Skurrilität aufzeigen und sie entschärfen. Soziale Netzwerke sind die ideale Plattform, weit besser als Zeitungspapier. Wir leben in einer Echtzeitge­sellschaft. Karikaturen verbreiten sich enorm schnell.

Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?
Die Revolution war ein Prozess und Humor war mitverantwortlich für die sich vollziehende Katharsis. Wir haben alle dieselben Momente erlebt und haben dieselbe Vergangenheit. Ich denke, ich als »Willis« bin jemand, mit dem sich viele identifizieren können. Und ich reagiere stets spontan und ­aktuell auf Ereignisse. Es motivierte mich zu sehen, dass die Tunesierinnen und Tunesier über meine Zeichnungen lachen konnten. Denn es war damals noch nicht der Augenblick, der uns das Lachen erlaubte.

Wie gehen Sie mit der Bedrohung seitens der Salafisten um?
Wir sind doch alle bedroht. Zum Glück waren alle Drohungen, die sich gegen mich richteten, im virtuellen Raum, online, und nicht in der realen Welt. Die Salafisten fühlen sich mutiger in der Anonymität, die die sozialen Medien bieten. Ihr Ziel ist es, Angst zu schüren. Wenn man Angst hat, haben sie gewonnen. Dann ist man wie gelähmt, man kann nicht reflektieren und nicht reagieren. Ich zeichne weiter, wie ich immer gezeichnet habe. Es sind persönliche Meinungen von mir. Ich wusste, dass ich provoziere und viele anders denken als ich. Ein jeder Mensch denkt anders. Wir lebten aber auch schon über Dekaden in einer Diktatur, wo das Andersdenken nicht möglich war. Ich bemühe mich, so frei wie möglich zu sein beim Zeichnen. Ich denke nicht über die Auswirkungen meiner Karikaturen nach. Sie können nicht jedermann gefallen. Es gibt immer welche, die sie kritisieren und die sich angegriffen fühlen.

Wie steht es mittlerweile um die ­Jugend Tunesiens?
In Tunesien ist fast die Hälfte der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Das Einzige, woran sie denken, ist auszuwandern, mit dem Boot nach Lampedusa oder eben nach Frankreich zu gelangen. Man muss sie aufhalten, mit Arbeitsplätzen, die man für sie schafft; mit Perspektiven und mit Räumen, damit sie sich auch künstlerisch ausdrücken und verwirklichen können. Im ersten Jahr nach der Revolution hatte man Hoffnung, dass man aus eigener Kraft etwas erreichen kann. Dass man eine Chance hat. Über die Jahre und angesichts der wirtschaftlichen Lage, die eine Katastrophe ist, zeigte sich, dass man gerade als junger Mensch in ­Tunesien viele Probleme hat. Die jungen Menschen haben nichts zu tun, sie verbringen die Tage auf der Straße. Nur die Polizei patrouilliert regelmäßig in ihren Wohnbezirken. Sehr viele junge Tunesier sind in Haft wegen lächerlichen Dingen, etwa nach Artikel 230 für Homosexualität, wofür drei Jahre Gefängnis drohen. Auch das Rauchen von Cannabis bringt sehr ­viele junge Menschen ins Gefängnis.

Ist das ein fruchtbares Terrain für Salafisten?
Sie sind überall und sie sind auch sehr effizient. Es wäre schön, wenn die tunesischen Behörden und die Politik ähnlich effizient arbeiten würden. Aber das ist nicht so. Es ist enorm peinlich, wie viele Parlamentsabgeordnete der Opposition dem Plenum und Abstimmungen fernbleiben. Die Einzigen, die immer Präsenz zeigen, sind die Islamisten von al-Nahda. Die Opposition bildet kein Gegengewicht zur Regierung. Dasselbe gilt für die Medien: Große Fernsehsender und Tageszeitungen hängen wieder am Tropf der Macht, wie einst unter Ben Ali. Es gibt kaum mediale Gegenöffentlichkeit, abgesehen von einigen Online-Zeitungen, etwa Nawaat. Doch deren Chefredakteur wurde mehrmals zur Polizei zitiert. Das sind Methoden, die an das Regime Ben Alis erinnern.

In einer Ihrer Karikaturen haben Sie eine Uhr gezeichnet, die zyklisch die Schritte zur Revolution zeigt. Wo befindet sich Tunesien derzeit?
(lacht) Wir sind wieder nahe an dégage (»Hau ab«, populärer Slogan gegen Ben Ali, Anm. d. Red.), der Befreiung. Und das ist gut so. Der Zyklus, den ich dort aufzeigte, wiederholt sich. Nach drei Jahren mit den Islamisten an der Macht hat man sie zu einer techno­kratischen Regierungsumbildung gezwungen. Sechs Jahre sind aber auch sehr wenig Zeit, um Dekaden der Diktatur zu überwinden.

Wie geht es mit der Aufarbeitung der Diktatur voran?
Derzeit will die Regierung ein »Versöhnungsgesetz« beschließen, das all die Verbrechen und die flächendeckende Korruption des Regimes Ben Alis amnestiert. Mit dem Argument, man solle nicht über die Vergangenheit sprechen, sondern in die Zukunft blicken. Dass all jene Verbrecher straffrei ausgehen sollen, ist eine enorme Ungerechtigkeit. Man kann all das, was Tunesien ruiniert hat, nicht einfach verdrängen. Die Diktatur ist noch in den Köpfen präsent, es herrscht eine gewisse Nos­talgie. Damals »lief ja alles rund«, meinen manche. »Es gab ja zumindest Sicherheit«, heißt es. Was in Vergessenheit zu geraten scheint, ist: Für die Freiheit sind Menschen gestorben, zahllose waren jahrelang inhaftiert. Aber die Menschen lechzen leider nach Sicherheit. Darum macht man ihnen permanent Angst. Das ist das perfekte Mittel zur Unterwerfung der Bürger. Das funktioniert überall.

Wie steht es um die Meinungs­freiheit?
Diese schöne Energie der Revolution, die existiert nach wie vor. Aber man muss jeden Tag darum kämpfen. Das Erlangen der Meinungsfreiheit war entscheidend für Tunesien. Das zeigt sich auf der Straße, in den Kaffeehäusern, beim Taxifahren, überall. Das war der erste Schritt zur Demokratie. Die Mächtigen fürchten das. Die Attacken auf die Meinungsfreiheit waren zahlreich. Was die Pressefreiheit betrifft, sehe ich dieselben Tendenzen, die sich auch in Europa vielerorts bei Tageszeitungen und Medien generell abzeichnen: ein Hang zur Selbstzensur aufgrund der Abhängigkeiten vom Establishment und von großen, multinationalen Konzernen. In Tunesien gibt es keine Zensur von oben. Aber eben Selbstzensur, weil man jenen Kreisen oder der Politik von al-Nahda nicht mit Kritik zu nahe treten will. Und den Salafisten nicht auf die Füße treten will, aus Angst vor ­Repressalien. Aber Selbstzensur ist der letzte Schritt zur Diktatur.

Wie stark hat sich die tunesische Gesellschaft seit der Revolution gewandelt?
Die tunesische Gesellschaft ist immer noch sehr konservativ und stark religiös. Mehr als religiös ist sie traditionell. Es gibt viele Tabus. Man muss das Verbotene in Frage stellen, sonst kommt man als Gesellschaft nicht weiter. Man verbleibt im faulen Konsens bei Themen wie Homophobie und Machismo, aber auch was Drogengesetze und Cannabis betrifft, oder die Rechte der Frauen. Seitens der Politik hört man stets, es sei nicht der Zeitpunkt, diese Themen anzupacken. Aber wann kommt dieser Tag? Gebt mir ein Datum! Es ist jetzt und Punkt.

Was bewegte Sie dazu, Graffiti zu machen?
Alle schrieben hier auf die Wände, weil wir über 20 Jahre den Mund halten mussten. Nun haben wir unsere Mauern, die wir für Botschaften nutzen, die auf Facebook und die in der realen Welt. Dafür sind Graffiti ideal. Wir sind auch in Ben Alis ehemalige Residenz gegangen. Es war eine unglaubliche Genugtuung, dort die Wände zu bemalen. Welch besseren Ort gibt es als dieses Haus, das auch von der Bevölkerung besucht wird? Ich sehe auf den Straßen lieber Graffiti als stumpfe Werbeplakate. Die sind ohnehin hässlich. Leider sind Graffiti in Tunesien verboten. Aber wenn man nichts macht, was verboten ist, dann gelingt auch keine Revolution.

Wie war die offizielle Reaktion auf Ihre jüngste Gruppenausstellung?
Diese Ausstellung in den nördlichen Banlieues von Tunis, in Kooperation mit Graffiti-Künstlern, Video-Künstlern und Backpack-Rap-Musikern, die im Underground der Revolutionswirren bereits aktiv waren, hieß »Tawzira«. Im tunesischen Dialekt des Arabischen bezeichnet das etwas Verbotenes, für das man ins Gefängnis kommt. Für die Ausstellung hat sich der Kulturminister keinen Deut interessiert. Es ist in Tunesien nur möglich, Dinge in Selbstorganisation auf die Beine zu stellen. Ein Ziel war es, das Selbstbild Tunesiens nach außen in Frage zu stellen. Denn dieses idealisierte, orientalistische Tunesien existiert nicht. Wir haben schicke Postkarten gekauft, die etwa die Altstadt von Tunis zeigen, und mit den Künstlern haben wir diese übermalt, um die Realität zu zeigen.