Die türkische Oppositionspartei CHP demonstriert gegen die autoritäre

Von Maltepe weiterlaufen bis nach Silivri

Mit einem »Marsch für Gerechtigkeit« protestiert die türkische Oppositionspartei CHP gegen das Regime Recep Tayyip Erdoğans. Doch ihr autoritäres Erbe hat die ehemalige Partei der Erziehungs­diktatur Atatürks noch nicht überwunden.

Der kleine Weinladen im Istanbuler Stadtteil Cihangir ist menschenleer. Viele Städter sind zum Ende des Fastenmonats Ramadan und über die Feier­tage des Zuckerfestes ans Meer gefahren. Der Eigentümer sitzt an der Kasse hinter einem großen Bildschirm. Er verfolgt die Nachrichten über den »Marsch für Gerechtigkeit« der Republikanischen Volkspartei (CHP). Nach der Festnahme des Abgeordneten aus dem Wahlkreis Istanbul, Enis Berber­oğlu, begannen die Parteifreunde am 15. Juni in Ankara diese Protestaktion. »Wir marschieren gegen die Diktatur an, die unser Land lähmt und die Gefängnisse mit Unschuldigen füllt«, sagte der Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu einem oppositionellen ­Internetportal.

Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu befürwortet bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen nationalistischen Kurs.

Tolga Durmuş folgt den Nachrichten sorgenvoll. Der 60jährige hat drei Militärputsche und ihre Folgen miterlebt. Er wählt schon immer die CHP, auch wenn er immer wieder unzufrieden mit der Partei und ihrer Führung ist. »Dieser Marsch ist wichtig«, unterstreicht er. »Ich hoffe nur, dass sie nicht nur bis Maltepe, sondern bis zu Selahattin Demirtaş in Silivri laufen.« Maltepe ist ein Stadtteil auf der asiatischen Seite ­Istanbuls, in dem sich der CHP-Politiker Enis Berberoğlu in Haft befindet. Der Vorsitzende der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP), Selahattin Demirtaş, sitzt in einem Hochsicherheitstrakt in Silivri auf der europäischen Seite.

Der Ladenbesitzer vertritt eine Fraktion der CHP, die davon überzeugt ist, dass nur eine alle ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen einschließende Demokratisierung die tiefe politische Krise der Türkei beenden kann. Während viele Hardliner unter den CHP-Anhängern die Kurden für den Dauerstörfaktor eines gesamtgesellschaftlichen Friedens halten, glauben Progressive wie Tolga Durmuş, die Regierung schüre die »Kurdenkrise« im Land bewusst. »Wenn wir nicht die Kurden, die Ultrareligiösen und die Aktivisten aus dem Gezi-Park dazu bringen, einander zuzuhören, wird es in der Türkei keine politische Stabilität geben«, meint er.

Doch eine solche breite Plattform der Toleranz ist derzeit nicht in Sicht. Ministerpräsident Binali Yıldırım rügte den Marsch der CHP vergangene Woche als »Missbrauch des öffentlichen Raumes«. Das Land müsse jetzt Geschlossenheit demonstrieren und die Regierung unterstützen. Regierungs­nahe Zeitungen berichteten über subversive Teilnehmer der Protestaktion – Mitglieder der alten Militärführung etwa, die erst unlängst im Zuge der Diabolisierung der Gülen-Bewegung rehabilitiert wurden, aber immer noch als Regierungsgegner gelten.

Derzeit ist die offizielle Darstellung, die früher im Polizei- und Militärapparat stark vertretene Bewegung Fethullah Gülens habe alle Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit an­gezettelt und auch Teile der alten Militärführung entweder infiltriert oder denunziert. Viele der Angeklagten aus den Prozessen gegen einen angeblichen Geheimbund »Ergenekon«, der vorgehabt haben soll, die türkische ­Regierung zu stürzen, wurden im Zuge der Repression gegen die Gülen-Bewegung entlastet. Gefälschte Beweise und Verfahrensfehler von Richtern und Staatsanwälten, die der Gülen-Bewegung nahestehen sollen, wurden ans Licht gebracht.

Für eine Weile waren sich Kemalisten aus den Reihen der CHP und Anhänger Recep Tayyip Erdoğans hinsichtlich der Verteufelung der mit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) konkurrierenden Gülen-Bewegung einig. Da aber für die Aufrecht­erhaltung des seit dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli vergangenen Jahres geltenden Ausnahmezustands Feindbilder nötig sind, führen Politik und Justiz ihre strafrechtlichen Feld­züge gegen Oppositionelle derzeit ad absurdum. Die Tageszeitung Cumhuriyet (Republik) etwa war immer mehr oder weniger die Hauspostille der CHP. So soll es auch der CHP-Abgeordnete Enis Berberoğlu gewesen sein, der den Journalisten Can Dündar und Erdem Gül 2015 Bilder zuspielte, auf denen Lastwagen zu sehen sind, die mit einer Eskorte von Mitgliedern des türkischen Geheimdienstes MİT Waffen für Jihadisten in Syrien transportierten. Dafür wurde Berberoğlu nun wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Beim letzten Fastenbrechen vor dem Beginn des Zuckerfestes am Freitagabend breitete Präsident Erdoğan seine These dazu aus. Die Journalisten der Cumhuriyet und der Abgeordnete sind demnach ein Teil der »Gülen-Terrororganisation«, die kurz vor den Parlamentswahlen im Juni 2015 diese Nachricht haben verbreiten lassen, um der Regierung zu schaden. Letzteres stimmt sogar, der Zusammenhang aber nicht. Die in der Polizei und dem Justizapparat damals gut vernetzte Gülen-Bewegung hatte bereits im Dezember 2014 Videos, Fotos und Telefonmitschnitte an Journalisten verteilt, die zum Ziel hatten, Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb der AKP und im engen Umfeld Erdoğans zu enthüllen. Die Polizei nahm Ministersöhne fest und schleppte mit Devisen vollgestopfte Schuhkartons aus ihren Wohnungen. Journalisten wie Mehmet Baransu von der damals oppositionellen Tageszeitung Taraf sitzen ebenfalls als Gülen-Unterstützer in Haft, weil sie dieses Material publizierten. Sie waren keine Mitglieder der Organisation, sondern das journalistische Material war brisant und schadete der Regierung.

In diesem Zusammenhang offen­baren sich Strukturen, an denen das türkische politische System chronisch krankt. Anstatt journalistisch auch solche Quellen und ihre Absichten zu ­hinterfragen, veröffentlichen Journalisten immer wieder im Auftrag von Politikern, Geheimdiensten und anderen manipulativen Quellen Nachrichten unhinterfragt und intransparent. Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatte die Zeitung Aydınlık die Nachricht von den Waffentransporten nach Syrien veröffentlicht. Diese war also keineswegs neu, als die Cumhuriyet sie eine Woche vor den Parlamentswahlen im Auftrag der CHP veröffentlichte.

Journalistisch wäre es besser gewesen, den ganzen Zusammenhang zu thematisieren. AKP und Gülen-Bewegung fingen damals an, sich zu bekämpfen. Die Waffen wurden in Lastwagen der AKP-nahen Stiftung İHH transportiert und die Gülen-Bewegung, die jahrzehntelang schmutzige Geschäfte wie dieses nicht verhindert, aber akribisch dokumentiert hatte, benutzte sie gegen den politischen Gegner. Doch weder Aydınlık noch Cumhuriyet oder die CHP haben deswegen etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun, sie agierten vielmehr nach der Devise, dass der Feind ihres Feindes ein Freund sei.

Die CHP, die unter Mustafa Kemal Atatürk (1923–1938) zunächst Regierungs- und Einheitspartei war, und die ihr angeschlossenen Medien gehören damit allerdings auch zu den morschen Trägern im Gebälk des türkischen Staatsgebäudes. Ihre Abgeordneten stimmten für die Aufhebung der Immunität der kurdischen Parlamentarier, der Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu befürwortet bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen nationalistischen Kurs und steht politischen Katastrophen wie dem kürzlich erfolgten Referendum, das Erdoğan mit umfassender Macht ausstattete, hilflos gegenüber. Die Politikwissenschaftlerin Mine Eder von der Bosporus-Universität sieht darin ein Grundproblem der kemalistisch fundierten Republik. Staatsgründer Atatürk setzte seine Reformen erziehungsdiktatorisch durch, ein Staats­feminismus protegierte einige türkische Frauen. Die Nichtprivilegierten organisieren sich im rechten Lager bereits seit den fünfziger Jahren in islamistischen oder ultranationalistischen Bewegungen. »Wir haben keine wirk­liche Opposition«, beklagt auch der Ladenbesitzer Durmuş. »Ich hoffe, sie laufen bis Silivri«, wiederholt er.