Werner Schneidewind im Gespräch über die Straßenzeitung »Querkopf«

»Die Ursachen von Armut bekämpfen «

Werner Schneidewind ist verantwortlicher Redakteur für die Berliner Ausgabe der Kölner Obdachlosenzeitung »Querkopf«. Schneidewind ist selbst erwerbslos und verkauft die Zeitung vor der Postfiliale in der Kreuzberger Bergmannstraße.

In Deutschland gibt es zahlreiche Straßenzeitungen. Was unterscheidet »Querkopf« von anderen Magazinen?
Wir wollen kein Jammerblatt machen, das nur aus Mitleid gekauft wird und sofort im Mülleimer landet. Wir sind außerdem eine Mitmachzeitung, das heißt, jeder Autor des Querkopf muss auch Verkäufer sein. Wir wollen über Dinge berichten, die den meisten Menschen bisher unbekannt sind. Beim Thema Arbeit zum Beispiel. Da berichten wir über das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, über Ämterwillkür und so weiter. Außerdem ist unser Ziel als Zeitung, Obdach- und Langzeitarbeitslosen wieder eine Perspektive für ein selbständiges Leben zu geben und Leuten, die vom Fall ins Bodenlose bedroht sind, durch Arbeit und eine Beschäftigung Halt zu bieten.

Die Zeitung gibt es ja nun schon 20 Jahre. Wie ist sie entstanden?
Gegründet wurde der Querkopf im November 1997 von Klaus Bergmayr in Köln. Die Vorgängerzeitung Von Unge war gerade eingegangen und die Verkäufer, alles Langzeitarbeits- und Obdachlose, verloren dadurch ihre Existenzgrundlage. Klaus hatte früher selbst bei Von Unge gearbeitet, und als ihn dann der Hilferuf seiner Ex-Kollegen ereilte, hat er sich zuhause einfach an den Computer gesetzt und innerhalb weniger Tage den Querkopf aus dem Boden gestampft. Ich kam ein wenig später über einen linken Kölner Zeitungsvertrieb dazu und hab dann 1999 den Ableger in Berlin gegründet.

Vielen Herausgebern von Straßenzeitungen ist es wichtig, durch den Zeitungsverkauf etwas Struktur in den Alltag der Menschen zu bringen. Wie sieht das Konzept von »Querkopf« aus?
Wie gesagt, Erwerbs- und Obdachlose sollen die Möglichkeit bekommen, durch den Verkauf der Zeitung etwas Sinnvolles zu tun und ein wenig Geld zu verdienen. Unser Ansatz dabei ist, Obdachlosigkeit möglichst im Vor­hinein schon zu verhindern. Deshalb: Arbeits-Obdachlosen-Selbsthilfe. Das Ganze basiert auf Freiwilligkeit: Wer will, kann die Zeitung an der Ausgabestelle erwerben und dann für 1,50 Euro verkaufen. Der Verkauf erfolgt vollkommen selbständig und eigenverantwortlich, damit haben wir dann im Grunde nichts mehr zu tun. Ich kenne in Berlin mittlerweile alle Verkäufer, das ist mir sehr wichtig. Vor ein paar Jahren hatten wir Probleme, als ­neben den altbekannten Querkopf-Verkäufern aus dem Obdach- und ­Arbeitslosenumfeld zunehmend auch Männer und Frauen aus Rumänien und Bulgarien die Zeitung kauften. Allerdings in sehr großen Mengen, ­womit zwar die Auflagenzahl und damit die Einnahmen gestiegen sind, aber es hat auch Beschwerden gegeben, die Verkäufer würden aufdringlich und aggressiv auftreten. Es gab Streit um die Stammplätze. Das ist nicht im Sinne unseres Vereins. Daher haben wir die Auflage wieder reduziert. Aber im Grunde kann jeder verkaufen. ­Außer wenn einer betrunken kommt, den schicke ich weg.

Wie viele Verkäufer hat der »Querkopf« in Berlin?
Wir sind fünf feste Verkäufer. Gegen Ende des Monats, wenn das Hartz IV zu Ende geht, oder jedes Mal, wenn das Sozialamt Gelder kürzt, steigt die Nachfrage an der Ausgabestelle. Das ist auch ein Indikator für die Zunahme materieller Not. Die Leute müssen ja von irgendwas leben.

Wie sieht die Hilfe zur Selbsthilfe konkret aus?
Bis 2014 hatten wir noch unser Lokal in der Blücherstr. 37, das war gleichzeitig Vereins- und Redaktionsraum, wo wir die Verkäufer beraten und betreuen konnten. Damals ist es uns immer wieder gelungen, Verkäufern in Berlin Wohnraum zu verschaffen. Zum Teil wohnen die Leute da immer noch! Zu unserer Arbeit gehört nämlich nicht nur die Zeitungsausgabe, sondern eben auch zu gucken, wie der Lebensalltag der Verkäufer aussieht. Zu gucken, ob sie ein Dach über dem Kopf haben, ob sie Freunde haben, die sie unterstützen. Uns wurde dann nach langer Auseinandersetzung mit der Hausverwaltung schließlich gekündigt. Der Verlust der Räume erschwert unsere Arbeit unglaublich.

Was wäre politisch wichtig für Obdachlose in Deutschland?
Zuallererst braucht es dringend mehr Suchteinrichtungen. 70 bis 80 Prozent der Obdachlosen sind nämlich suchtkrank, hauptsächlich ist hierbei Alkohol das Problem. Ich bin gegen Alibieinrichtungen wie Notübernachtungen oder Obdachlosenheime.

Gerade im Winter ist für obdachlosen Menschen eine warme Mahlzeit, ein warmer Schlafplatz und Zuflucht vor der schneidenden Kälte doch oft lebensrettend.
Ja, aber man begegnet den Leuten dort nicht auf Augenhöhe, man sieht in den Menschen nur den armen Obdachlosen. Man versucht überhaupt nicht, ihnen zu helfen, aus ihrem Chaos herauszukommen. Sie dürfen glücklicherweise nicht erfrieren, dann werden sie wieder in ihr Elend zurückgeschickt. Das ist doch nur ein Rumdoktern an den Symptomen. Dabei müsste es darum gehen, ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. Wir bräuchten Einrichtungen, wo der Obdachlose nicht der Obdachlose ist, sondern ein Mensch, der Probleme hat. Einrichtungen, in denen man sich mit den Betroffenen zusammensetzt und darüber redet, was ihre Vorstellungen sind und wie man die Probleme lösen kann. Wichtig wäre, dass neben Sozialarbeitern dort auch Leute arbeiten, die selbst Erfahrung mit Obdachlosigkeit haben. Es gäbe noch viele andere Möglichkeiten. Man könnte zum Beispiel auch mit Unis zusammenarbeiten. Studierende der Sozialpädagogik bekämen einen Schein, wenn sie zwei Jahre lang einen Obdachlosen begleiten und ihm dabei helfen, aus der Parallelwelt, in der er ja lebt, herauszufinden und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das ist jetzt nur so eine Idee, aber es wäre so vieles denkbar. Nur fehlt der politische Wille dazu, da unterscheidet sich die Linke nicht von der SPD. Grundsätzlich müssen natürlich die Ursachen von Armut bekämpft werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die Armut bedingen, müssen geändert werden. Aber dafür, denke ich, braucht es den Druck von der Straße, und der lässt sich nun mal mit Obdachlosen nicht realisieren, weil die Leute schon rund um die Uhr mit ihrer Daseinserhaltung beschäftigt sind.