Nach dem G20-Gipfel wird über autonome Zentren und Polizeigewalt gestritten

Schwarze Blöcke, weiße Westen

Nach dem temporären Ausnahmezustand im Hamburg während des G20-Gipfels mit militanten Protesten, Polizeigewalt und Ausschreitungen rufen die einen nach harten Strafen, andere fragen sich, was eigentlich genau passiert ist.

»Notfalls Fußfesseln anlegen« will ihnen Bundesinnenminister Thomas de Mai­zière (CDU) künftig: »Krawallmacher sollen die Demonstrationsorte erst gar nicht erreichen dürfen.« Bei Autonomen sehe er »einen vergleichbaren gedanklichen Ansatz wie bei Reichsbürgern«, sagte er dem Hamburger Abendblatt. Ob bei Autonomen ähnliche Arsenale an Schusswaffen gefunden wurden, mit denen sie, wie Reichsbürger, auf Polizisten geschossen haben – diese Nachfrage unterblieb. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sprach mit Blick auf radikale G20-Gegner von »Mordbrennern«, für SPD-Außenminister Sigmar Gabriel sind es »Schwer­verbrecher, von mir aus auch Terroristen« gewesen. Seit jenem Wochenende in Hamburg wird das Gespenst eines Linksterrorismus beschworen.

Politiker der Union warfen der SPD einen zu laschen Umgang mit der radikalen Linken vor. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sieht im autonomen Zentrum Rote Flora »die Keimzelle für viele linksanarchistische Leute«. Deshalb, sagte Herrmann vergangene Woche der DPA, »muss sich natürlich auch der Hamburger Senat ­fragen lassen, ob das klug ist, das weiter so laufen zu lassen«. Linksextremismus würde »verharmlost«. De Maizière forderte, »eine logistische Struktur« ins Visier zu nehmen, »die sich nicht eindeutig vom Linksextremismus ­distanziert«. Verdächtig ist also bereits, wer sich nicht distanziert. »Das gilt für Hamburg so wie für einige Stellen in Berlin und Leipzig«, so de Maizière. »Linke Zentren wie die ›Rote Flora‹ in Hamburg oder die Rigaer Straße in ­Berlin müssen konsequent dichtgemacht werden«, brachte der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster in der Rheinischen Post die Haltung auf den Punkt.

Die mühselige Arbeit, all die Fälle von teils brutaler Polizeigewalt zu dokumentieren, hat begonnen.

Einige Kommunalpolitiker in Hamburg sind schon weiter: Arik Willner, SPD-Fraktionsvorsitzender im Bezirk Hamburg-Mitte, hat bislang das ehemals besetzte Künstlerareal Gängeviertel zusammen mit den Grünen unterstützt. »Das Gängeviertel solidarisiert sich mit der ›Schwester‹ Rote Flora«, empörte sich Willner auf Facebook: »Mit einer solchen Aussage wird meine Fraktion keine Aktivitäten des Gängeviertels mehr aus bezirklichen Sondermitteln finanzieren.« Michael Osterburg, Fraktionsvorsitzender der Grünen, sekundierte, das Gängeviertel schade sich selbst, eine Distanzierung von der Roten Flora sei angebracht.

Die Ausgrenzung des vermeintlichen Linksterrorismus entwickelt sich zu ­­einer Kettenreaktion: Erst Demonstrierende, die unter dem Label »schwarzer Block« als politische Einheit imaginiert werden, obwohl sie lediglich eine bestimmte Demonstrationstaktik verfolgen. Dann autonome Zentren wie die Rote Flora, nun eine Künstlerinitiative, weil sie sich nicht distanziert. Eine »massive revanchistische Welle, sowohl gegen linke Strukturen als auch, mit Aufrufen zur Selbstjustiz, gegen einzelne Personen« sieht Tina Fritsche an­laufen. Die bei Verdi aktive Gewerkschafterin, die sich während der Tage des G20-Gipfels im unabhängigen Mediencenter FCMC engagierte, zeigt sich im Gespräch mit der Jungle World schockiert: »In welcher Geschwindigkeit und Radikalität hier in den Medien und auf Facebook demokratische ­Werte über Bord geworfen wurden, hat mich erschüttert.«

Dabei scheint es um rhetorische Meisterleistungen gegen Linksaußen einen Wettlauf zwischen Politikern, Journalisten und Bürgern zu geben. »In Hamburg ist kein Platz für die ›Rote Flora‹«, schrieb Jasper von Altenbockum, verantwortlicher Redakteur für Innenpolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). »Alles andere hieße, sich nach dem Linksterrorismus zu richten.« ­Peter-Matthias Gaede, ehemaliger Chefredakteur des Reportagemagazins Geo, veröffentlichte in der FAZ einen »Offenen Brief« an Andreas Blechschmidt, den bekanntesten Aktivisten aus der Roten Flora. Unter der Überschrift »Sie haben meine Verachtung« und mit einem Porträtfoto wird Blechschmidt an den virtuellen Pranger gestellt: »Verstanden haben wir, und das war ja nicht zu schwer, da fast in Kleinkindgestammel gehalten, dass Sie ­›A-Anti-Antikapitalista-A‹ sind. AA, Scheiße – wogegen Sie sind, ist also, nun ja, irgendwie klar«.

»Es soll ein Klima geschaffen werden, in dem die Kriminalisierung von politischen Strukturen, sowie die Zerschlagung des besetzten Projekts Rote Flora, aber auch Orten wie der Rigaer Straße in Berlin vorbereitet werden soll«, heißt es in einer Erklärung des Plenums der Roten Flora vom Dienstag vergangener Woche. In dem Zentrum hatten eine spektrenübergreifende Aktionskonferenz zur Vorbereitung der Gipfelproteste und zahlreiche Veranstaltungen stattgefunden. Oben an dem Gebäude stand in großen Leuchtbuchstaben: »No G20!« Das Plenum der Roten Flora hat mit Räumungsdrohungen Erfahrung: »Es ist nur ein Haus, ein Symbol, mit dessen Räumung der Wutbürger besänftigt werden soll.« Trotzig wird behauptet: »Auch im Falle einer Räumung der Roten Flora werden autonome Politik und linksradikale Bewegungen nicht aus dem Stadtbild verschwinden – ganz im Gegenteil!« Klar ist aber, dass mit dem Zentrum ein wichtiger Ort für Debatten der radikalen Linken Hamburgs verschwinden würde. Ein Ort, an dem linke Selbstgewissheiten hinterfragt werden können – etwa als Ende Mai Patsy l’Amour laLove das Buch »Beißreflexe« vorstellte, das autoritäre Tendenzen in der queeren Szene hinterfragt. Ein Ort, in dem ein Plenum ein langes Statement gegen Antisemitismus in der Linken verfasste und an dessen Fassade während der G20-Protestwoche nicht zufällig ein großes Transparent mit der Aufschrift »Gegen ­jeden Antisemitismus« aufgehängt wurde. Denn den Gruppen in der ­Roten Flora war wichtig, gegen antisemitische Tendenzen, mit denen sie beim Gipfelprotest zu Recht rechneten, Stellung zu beziehen.

Alvaro Piña Otey, Mitinhaber des Restaurants »Cantina Popular« im Schanzenviertel, sieht im Interview mit der Taz zwar eine Mitverantwortung der Repräsentanten der Roten Flora: »Sie hätten an diesem Abend stärker raus­gehen müssen, sich stärker verhalten müssen, als klar war, dass die Polizei sich zurückzieht und das Ding sich verselbstständigt.« Nachdem schwarzgekleidete Vermummte die Polizei vom Schulterblatt vertrieben hätten, hätten ganz andere Personengruppen das Heft des Handelns in die Hand genommen: »Dann kamen die ganzen Gaffer, die eh schon zu Tausenden im Viertel waren. Und dann, in diesem Windschatten, kamen die Kids. Dann ging es los mit den Plünderungen, der Randale.« Es seien viele »migrantische Kids« dabei gewesen, die Bilder hätten ihn an »die von den Aufständen in den Banlieues von Paris oder den Riots von London 2011« erinnert.

In einer Bankfiliale und in zwei Läden wurde Feuer gelegt. Personen aus der Roten Flora versuchten dies zu verhindern und löschten zusammen mit ­Anwohnern – über den beiden Läden befinden sich Wohnungen, in denen Menschen hätten zu Schaden kommen können. Am Morgen darauf sagte Flora-Sprecher Blechschmidt, er verurteile diese menschengefährdenden Aktionen: »Hier ist eine rote Linie überschritten, so was geht gar nicht!« Es habe sich um eine »Form von Militanz« gehandelt, die sich »an sich selbst ­berauscht« habe, sie sei »politisch und inhaltlich falsch«.

Ein anderer Sprecher, Andreas Beuth, drückte sich ziemlich unggeschickt aus: »Wir als Auto­nome, und ich als Sprecher der Autonomen, haben gewisse Sympathien für solche Aktionen. Aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also, warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?« Später relativierte er diese Sätze – er lehne Plünderungen und Brandstiftung in ganz Hamburg strikt ab, habe nicht dazu aufgerufen und nur sein Unverständnis für die Motive der Täter ausgedrückt. Er wisse nicht, ob sie zur autonomen Szene gehörten. Im gemeinsamen Statement der Roten Flora hieß es unmissverständlich: »Emanzipatorische Politik be­deutet für uns nicht, Unbeteiligte in Angst und Schrecken zu versetzen.«

Laut Hamburgs Erstem Bürgermeister behielten die eingesetzten Polizisten eine weiße Weste. Am Freitag voriger Woche, fast eine Woche nach dem Ende des Gipfels, sagte Olaf Scholz: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.« Da hatte die mühselige Arbeit, all die Fälle von teils brutaler ­Polizeigewalt zu dokumentieren, längst begonnen. Auf den Portalen g20-doku.org und policebrutalityg20.wordpress.com werden Fälle von Polizeigewalt ­dokumentiert. Dutzende Strafanzeigen gegen Polizisten gingen bei der Hamburger Innenbehörde ein. Diese gab an, man habe in 35 Fällen Ermittlungen eingeleitet; in 27 Fällen gehe es um mutmaßliche Körperverletzung im Amt.

Auch Journalisten, Anwälte und Sanitäter waren attackiert worden. So berichtete der Anwaltliche Notdienst (AND) von einem körperlichen Angriff mehrerer Beamter auf einen Anwalt in der Gefangenensammelstelle (GESA) am 8. Juli. Die Polizei habe in der GESA »systematisch die Rechte von in Gewahrsam Genommenen und Rechtsanwälten verletzt«, hieß es in einer Stellungnahme des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV).

Die von den Behörden angegebene Zahl verletzter Polizisten stellte sich als übertrieben heraus. Wie Buzzfeed News recherchierte, waren von den zunächst genannten 476 verletzten ­Beamten lediglich 231 im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen den Gipfel verletzt worden. Viele dieser Verletzungen wiederum waren keine Folge von Gewalt, sondern von Dehydrierung, Kreislaufproblemen und Ähnlichem; andere erlitten Verletzungen in Folge des exzessiven Tränen­gaseinsatzes ihrer Kollegen. Bis auf 21 konnten alle Polizisten spätestens am Folgetag ihren Dienst wieder antreten.