Hartz-IV-Berechtigten wurden durch Sanktionen fast zwei Miliarden Euro vorenthalten

Strafe soll sein

Fast zwei Milliarden Euro wurden Leistungsberechtigten in den vergangenen zehn Jahren durch Hartz-IV-Sanktionen vorenthalten. Dass sich dies künftig ändert, ist unwahrscheinlich.

Von 409 Euro soll ein monatliches Auskommen möglich sein. So jedenfalls definiert die deutsche Sozialgesetzgebung derzeit das Existenzminimum und damit die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes. Mehr als 4,4 Millionen Menschen sind es, die derzeit davon leben müssen. Etwa eine Million von ihnen tut das bereits seit der Einführung des Arbeitslosengeldes II im Jahr 2005. Dass jedoch selbst dieses karge Einkommen den Betroffenen nicht garantiert ist, liegt an den von den Jobcentern verhängten Sanktionen. Wie eine Anfrage der Linkspartei an die Bundesregierung im vergangenen Juni zeigt, wurden zwischen 2007 und 2016 insgesamt 1,9 Milliarden Euro aufgrund von Sanktionen nicht ausgezahlt. Alleine im vergangenen Jahr wurden mittels Sanktionen 175 Millionen Euro einbehalten und fast eine Million Sanktionen ausgesprochen.

Für die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, sind die Sanktionen ein Angriff auf die Grundrechte und auf die Teilhabe an der Gesellschaft: »Sie treffen Menschen, die in der Regel kein finanzielles Polster haben, und verursachen Existenzängste und Existenznöte – die Sanktionen gehören abgeschafft.« Auch Sabine Zimmermann, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, kritisiert: »Anstatt die Menschen mit Sanktionsinstrumenten permanent unter Druck zu setzen und Leistungen zu kürzen, sollte die Bundesregierung daran arbeiten, wie mehr und fair entlohnte Arbeitsplätze entstehen können.« Im Bundestagswahlkampf fordert die Linkspartei daher die Abschaffung des bisherigen Hartz-IV-Systems und die Einführung einer sanktionsfreien Mindestsicherung von 1 050 Euro.

Besonders betroffen sind Menschen unter 25 Jahren. Sie werden nicht nur wesentlich häufiger sanktioniert als andere, sondern auch deutlich härter. So werden ihnen bereits nach dem ersten Regelverstoß sämtliche Leistungen außer den Kosten für die Unterkunft gestrichen, beim zweiten sogar diese. Im Schnitt kürzten ihnen die Jobcenter 2016 fast ein Drittel ihres monatlichen Regelbedarfs – im Vergleich rund zehn Prozent mehr als bei den anderen Altersklassen.

Auch bei der kompletten Kürzung aller Leistungen für Essen, Miete und Heizung liegen Menschen unter 25 Jahren an der Spitze. Das ist nicht nur vom Gesetzgeber so gewollt, sondern auch vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet. So darf Hartz-IV-Beziehern unter 25 Jahren, die im Haushalt ihrer Eltern leben, das ergänzende Arbeitslosengeld II pauschal auf 80 Prozent gekürzt werden. Selbst wenn die Eltern nicht unterhaltspflichtig sind, dürfen die Behörden davon ausgehen, dass sie ihre Kinder unterstützen, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Gegen die von ihr selbst eingeführte Ungleichbehandlung junger Erwerbsloser möchte die SPD nun etwas unternehmen. In ihrem Programm zur Bundestagswahl plädiert sie wieder einmal für eine Streichung der schärferen Sanktionen für Bezieher unter 25 Jahren. Das stand bereits im vorigen Bundestagswahlkampf im SPD-Wahlprogramm und hatte sogar Eingang in den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD gefunden, wurde jedoch nicht in die Tat umgesetzt.

Dass von einer künftigen Bundesregierung unter SPD-Beteiligung keine Änderung des Sanktionssystems zu erwarten ist, zeigt auch die von der großen Koalition im vergangenen Jahr beschlossene Verschärfung des Sozialgesetzbuchs II zu Lasten von Leistungsempfängern. Das am 1. August vergangenen Jahres in Kraft getretene Gesetz sollte eigentlich der Vereinfachung dienen und die Rechtssicherheit erhöhen, um so die seit Jahren steigenden Widersprüche und Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen einzudämmen.

Die Gesetzesänderung brachte stattdessen zahlreiche Verschlechterungen für die Leistungsberechtigten, während der rigide Sanktionskatalog kaum verändert wurde. Obwohl im Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit Zustimmung des Arbeitsministeriums und 15 der 16 Länder eine Abschwächung der Sanktionen vorgesehen war, ignorierte die Bundesregierung dies in ihrem Gesetzentwurf. Nicht nur die verschärften Sanktionsmöglichkeiten für junge Erwerbslose, auch die sogenannte Zwangsverrentung von Hartz-IV-Beziehern wurde beibehalten. Mit Vollendung des 63. Lebensjahrs werden sie aufgefordert, einen Rentenantrag zu stellen, und auch die Behörde selbst kann ohne Zustimmung der betreffenden Person einen Antrag beim Rentenversicherungsträger stellen. Für viele bedeutet dies erhebliche Renteneinbußen.

Hinzu kommt eine härtere Ahndung von sogenanntem sozialwidrigem Verhalten. Dieses kann seither nicht mehr nur mit einer Leistungskürzung, sondern auch mit der Verpflichtung zur Rückerstattung bereits erhaltener Leistungen an das Jobcenter bestraft werden. Zuvor gab es eine solche Ersatzpflicht nur in Ausnahmefällen, etwa bei Straftaten. Dank der Gesetzesverschärfung tritt sie jetzt bereits dann ein, wenn durch eigenes Verhalten die Hilfsbedürftigkeit erhöht oder aufrechterhalten wird. Zudem wurde das Klagerecht von Hartz-IV-Empfängern deutlich eingeschränkt.

Einige Hartz-IV-Bezieher und ihre Unterstützer haben sich entschlossen, nicht mehr auf Veränderungen durch die Politik zu vertrauen. Mit der im vergangenen Jahr begonnenen Kampagne »Sanktionsfrei« sollen möglichst viele Betroffene dazu bewegt werden, Widerspruch gegen verhängte Sanktionen einzulegen. Prominente Unterstützung erhält die Kampagne, zu deren Organisatoren auch die mit ihrer Kritik an der Hartz-Gesetzgebung bundesweit bekannt gewordene ehemalige Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann gehört, unter anderem von dem Kabarettisten Max Uthoff und dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Über einen Solidarfonds werden zunächst die Sanktionen finanziell ausgeglichen, um dann vor Gericht das Geld vom Staat zurückzuholen. Zudem wird Hilfe bei der Abwendung von Sanktionen angeboten.

Langfristiges Ziel ist es, durch eine Steigerung der Anzahl von Klagen und Widersprüchen Jobcenter und Sozialgerichte lahmzulegen und so das Hartz-IV-System ins Wanken zu bringen.

Ob das tatsächlich gelingen kann, ist fraglich. Trotz der fast zwei Milliarden Euro an einbehaltenen Leistungen sind die mit hohen Verwaltungskosten verbundenen Sanktionen bereits heute ein großes Minusgeschäft für Bund und Länder, ohne dass deshalb der Druck auf Hartz-IV-Bezieher nachlässt. Besser als das Hoffen auf eine Veränderungen des Sanktionssystems durch den Bundestag ist der Ansatz von »Sanktionsfrei« aber allemal.