Eine Reise in den Nordirak, wo Jezidinnen und Jeziden noch um das Überleben kämpfen

Zwischen den Fronten

Nach dem Massaker an Yezidinnen und Yeziden und der Versklavung Tausender durch den »Islamischen Staat« 2014 streben die Über­lebenden der religiösen Minderheit in der nordirakischen Sinjar-Region ihre Selbstverwaltung an. Doch die Bedingungen dafür sind alles andere als einfach und die Region bleibt umkämpft.

Ein langer Konvoi türkischer Militärfahrzeuge kreuzt Ende April eine gewun­dene Straße in der Region Dahuk im kurdischen Nordirak. »Das könnten die Vorbereitungen für die Invasion der Sinjar-Region sein, wo ich mit meiner Familie gelebt habe«, sagt Ibrahim, ein Yezide. Seine Befürchtungen teilen viele Angehörige der yezidischen Bevölkerungsgruppe im Nordirak. In die ­Sinjar-Region ist es nicht weit von hier. Sie ist seit Jahrhunderten von Konflikten geprägt und wurde zuletzt vom »Islamischen Staat« (IS) verwüstet; Tausende Menschen durchquerten sie auf der Flucht vor dem jihadistischen Terror. Zur religiösen Gruppe der Yeziden zählen etwa eine halbe Million Menschen, beheimatet ist sie in der irakischen Provinz Ninive. Mit den Kurden in der Türkei und Syrien teilen die Yeziden die gleiche Sprache, auch kulturell gibt es Ähnlichkeiten. Da sie einer gnostischen und vorislamischen Sekte angehören, waren sie zusammen mit Christen und Schiiten in den vergangenen Jahren Leidtragende der genozidalen Politik des IS.

»Dieser Ort war fast ein Jahr lang das Hauptquartier des ›Islamischen Staats‹ in der Region. Wir wollen gar nicht wissen, was in unserem Haus passiert ist.« Eine Yezidin

Mittlerweile arbeitet Ibrahim als Taxifahrer. Ihm war es gelungen, vor den heranrückenden IS-Milizen im August 2014 zu fliehen, aber das Gebiet sowie vieler seiner Freunde befinden sich noch in den Händen des IS. Ibrahim hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Freunden. Viele Menschen werden ­immer noch vermisst, Tausende Frauen und Kinder wurden versklavt oder zwangsprostituiert, gefangene Männer und Jungen meist getötet, wenn sie sich weigerten, zum Islam zu konvertieren.

Eine Stunde Fahrt von Dohuk, der Hauptstadt der Region, und einige Kilometer von einem riesigen Flüchtlings­camp für Tausende Yezidinnen und Yeziden entfernt muss man einen Checkpoint passieren, um in die Sinjar-Region zu gelangen. Es handelt sich um eine richtige Grenze, die zwischen dem Irak und der Autonomen Region Kurdistan verläuft. Hier befindet sich der Zugang zu einem Gebiet, das offiziell von kur­dischen Peshmerga besetzt ist, die der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) von Massoud Barzani unterstehen, der seit 2005 Präsident der Autonomen Region Kurdistan ist. Um das Gebiet gibt es seit Jahren Streit mit der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Das Warten am Checkpoint dauert ewig, Dutzende Zigaretten nehmen einem dem Atem, Morgennebel liegt über dem Fluss Tigris. Die Kontrollen sind streng, Hunderte Fahr­zeuge aus beiden Richtungen werden zu den Uniformierten geleitet. Nach stunden­langen Durchsuchungen ergeht endlich die Erlaubnis zum Passieren.

Umkämpfte Berge
Die Sinjar-Region breitet sich nach einigen Kilometern als weite Halbwüste aus, die vom Sinjar-Gebirge dominiert wird, einer Bergkette, die von den ­Yeziden als heilig angesehen wird. Die westlichen Ausläufer reichen bis an das Territorium Rojavas heran. Neben den vielerorts präsenten Peshmerga operieren in diesem Gebiet auch die yezidische Bürgerwehr Widerstandseinheiten Shingal (YBŞ) und die Yezidischen Fraueneinheiten (YJÊ), die beide der Dachorganisation Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) unterstehen, die wiederum der kurdischen PKK nahesteht.
Im Städtchen Khana Sor nahe dem Sinjar-Gebirge hat es Anfang März Kämpfe zwischen den Roj Peshmerga aus Rojava, die vom irakisch-kurdischen Innenministerium bezahlt werden, und den YBŞ gegeben. Es gab mehrere Tote und Verletzte. Auch die yezi­dische Reporterin Nujiyan Erhan und ihr Kameramann wurden verwundet, als sie über die Zusammenstöße berichteten. Wenige Wochen später erlag ­Erhan ihren Verletzungen.

Einige Tage nach dem Zusammenstoß organisierte die lokale Bevölkerung ­zusammen mit Yezidinnen und Yeziden aus Flüchtlingslagern in Rojava eine Demonstration gegen den Einfall von Roj Peshmerga in die Stadt. Während des friedlichen Protests griffen irakisch-kurdische Ordnungskräfte die Demonstrierenden an, verletzten einige von ­ihnen, darunter zwei Journalistinnen, und töteten mindestens eine Person, Nazê Naif Qaval von der Freien Yezidischen Frauenbewegung (TAJE). »Es scheint, als wollten sie uns isolieren, ohne uns zu erlauben, für uns selbst zu entscheiden. Wir unterstehen nicht der Regierung Irakisch-Kurdistans, wir wollen einfach selbstbestimmt sein«, kritisiert ihr Vater. Er sieht in dem ­Angriff auf die Demonstrierenden den Versuch der ­Regierung der Autonomen Region Kurdistan, eine Selbstverwaltung der Yeziden zu verhindern. Dies geschieht vor dem Hintergrund der allgemeinen Bedrohung der benachbarten Föderation von Rojava.
Die Überreste der Kämpfe gegen den IS sind in Khana Sor noch zu sehen, dennoch ist ein großer Teil der geflohenen

»Wir erhalten nur Hilfslieferungen aus Rojava, aber wegen der Schließung der Grenze erreichen sie uns nicht regelmäßig.« Ein Sprecher der Demokratischen Yezidischen Bewegung

Bevölkerung nach dem Rückzug der Islamisten zurückgekommen und beteiligt sich am gemeinsamen Aufbau der Gemeinde. Einige Geschäfte im zentralen Basar wurden wiedereröffnet und trotz der Anspannung scheint sich die Stadt langsam wieder zu er­holen. Auf dem Gelände der YBŞ in Khana Sor wird unsere Besuchergruppe mit Tee herzlich empfangen. Der YBŞ-Kommandeur in diesem Gebiet kommt hinzu, obwohl er nach seiner Nacht­wache sehr müde ist. Sichtlich berührt erzählt er davon, wie seine Einheit im August 2014 Tausende Yezidinnen und Yeziden rettete: »Sie haben uns von ­allen Seiten beschossen, wir waren ein leichtes Ziel und hatten kaum Platz, um uns zu bewegen. Mit großen Verlusten und ungeheurer Anstrengung schafften wir es, eine Bresche in die feindlichen Linien zu schlagen. Das ­ermöglichte Tausenden Menschen, sich zu retten.«

Einen Tag später geleitet der Kommandeur die Besucher zur südwestlichen Frontlinie im Sinjar, wo auf der anderen Seite die IS-Milizen stehen. Ein Mohnfeld erstreckt sich mitten im Grün der Ebene, im Hintergrund erhebt sich das Sinjar-Gebirge gegen den Frühlingshimmel. »Lasst uns für ein Foto anhalten«, schlägt der Kommandeur vor, »betrachtet die Schönheit dieses Panoramas.« Läge der IS nicht nur einige Kilometer entfernt in einem der kleinen Dörfer weiter südlich, wirkte es wie ein ruhiger Morgen, an dem man in der unberührten wilden Natur entspannen könnte. Inmitten dieser scheinbaren Idylle erinnern zerstörte Brücken, ausgebrannte Autowracks und improvisierte Betonwälle, um die Einfälle der IS-Milizen aufzuhalten, an die nahe Front.

In nordöstlicher Richtung wurde die Hauptstraße, die den Irak, Syrien und die Türkei verbindet, von YBŞ und YJŞ eingenommen. »Der ›Islamische Staat‹ und die Türkei nutzten diese Straße, um Öl gegen Waffen zu tauschen«, sagt ein YBŞ-Kämpfer. »Um das heutzutage zu tun, muss der IS eine längere Reise ­machen; wir haben das dokumentiert!« »Die Türken schicken Waffen und bekommen Öl«, ergänzt Kalil, ein junger Milizangehöriger auf einem Überwachungsposten, der ein nur wenige Kilometer entferntes Dorf beobachtet, das noch vom IS besetzt ist.

Die Stille an der Front wird von einem Funkspruch unterbrochen: »Im Dorf gibt es Bewegung, der IS könnte demnächst einige Mörser abfeuern.« Es ist Zeit zu gehen, die Lage könnte gefährlich werden. Nach einigen Grußformeln geht es zurück in Richtung Berge. Nach ein paar Kilometern auf Staubpisten sind die Hänge der beeindruckenden Bergkette erreicht, der erste Checkpoint der PKK wird passiert. Zurück bleibt ein riesiges Bild Abdullah Öcalans, das auf halbem Wege auf den Felsen ­gemalt ist. Vorbei geht es dann an einem imposanten Monument mit angrenzendem Friedhof, der mit großen Bildern von Kämpfern geschmückt ist, die im Kampf gegen den IS 2014 gefallen sind.

Leben nach dem Massaker
Kurz danach eröffnet sich ein weites Tal zwischen den Gipfeln der Berge, in dem sich viele Zelte und kleine Häuser aus Mauern und Stroh ausbreiten. Hier leben rund 35 000 Yezidinnen und Yeziden der Umgebung, die nach ihrer Flucht vor dem IS 2014 beschlossen hatten, in den Bergen zu bleiben und »ihre heilige Identität zu verteidigen«.

Die Besuchergruppe macht in ­einem der Zeltbereiche halt, aus einem kleinen Haus, das mit einer wasser­festen Plane des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) bedeckt ist, tritt ein über 50jähriger Mann. Er stellt sich als Şerwan vor. Das bescheidene Häuschen hat er mit seinen eigenen Händen gebaut, mit Hilfe einiger Freunde aus der Gegend. Er lebt hier mit seiner Ehefrau und einigen seiner jüngeren Töchter. Seine Stimme ist fest, er spricht gebrochenes Englisch. Nach dem Ge­nozid habe er viele Wörter vergessen, so Şerwan. Es ist eine der Folgen des Traumas, das er durchleben musste. Er quält sich, weil es  ihm nicht gelang, die ganze Familie in jenen schrecklichen Tagen zu verteidigen, die älteren Töchter sind immer noch in den Händen der Jihadisten. Nach einer Weile wird das Gespräch von einem wütenden Ausbruch Şerwans unterbrochen: »Warum interessiert sich die internationale ­Gemeinschaft nicht für die entführten und als Sexsklavinnen verkauften Frauen? Was ist mit unserem Kindern, die zu menschlichen Bomben ausge­bildet werden? Wo ist das Recht?

Wo ist die Menschlichkeit?«
Der Abend kommt und die Temperatur fällt stark ab, von Osten weht ein kühler Wind. Die Besuchergruppe wird eingeladen, sich in einem der Zelte auszuruhen, die als Treffpunkt und Versammlungsort genutzt werden. Die Bergbevölkerung hat seit Januar 2015 begonnen, die Gegend autonom zu ­verwalten, vermittelt über einen Rat, in den Vertreter der verschiedenen Bereiche gewählt werden. Hassan Ezidi* ist einer der Sprecher der Demokratischen Yezidischen Bewegung und Teil des Bergrats. Bei einem schlichten Mahl findet er deutliche Worte für seine Ge­danken: »Die Bergbevölkerung ist bereit für die Selbstverwaltung, Sinjar selbst ist es.« Er fährt fort: »Die KDP, die die Gegend regiert, scheint auf jegliche Weise gegen unsere Projekte zu sein. Seit sie die Wahlen 2013 gewonnen hat, hat sich unsere Lage merklich verschlechtert. 2014 haben ihre Kämpfer uns nicht verteidigt, sie haben ihre Uniformen ausgezogen, während sie flohen, und als wir sie darum baten, uns ihre Waffen zu überlassen, um uns gegen die Raserei des IS zu verteidigen, lehnten sie ab.« Als wir aus dem Zelt treten, kommen ein paar Kinder angerannt. Sie lernen in der kleinen Schule ihres Bereichs, die von den freiwilligen Lehrkräften komplett selbstverwaltet wird.

2016 verhängte die Regierung der Autonomen Region Kurdistan ein Embargo über die Region, um dem Einfluss PKK-naher Gruppen entgegenzutreten. Anfang Juni erklärte sie in einer Stellungnahme, dass jede neue, der PKK angegliederte Partei nicht als ­legal anerkannt werde. Die vor einem Jahr von der Demokratischen Yezidischen Bewegung neu gegründete Yezidische Partei für Freiheit und Demokratisierung (PADÊ) wird im kurdischen Nordirak nicht anerkannt, mittlerweile aber von der irakischen Zentralregierung in Bagdad. »Die Lage für die Zivilisten, die all die Jahre auf ihrem Land ­Widerstand geleistet haben, ist kompliziert«, sagt Ezidi. Dann deutet er Richtung Süden: »Da ist der IS. Im Norden und Osten hat die Regierung der Autonomen Region Kurdistan die Grenzen zu Rojava geschlossen, das international ebenfalls isoliert ist. Und im Westen ist der Checkpoint, um in die Region Dahuk zu kommen, der für die meisten Menschen nicht passierbar scheint. Wir erhalten nur Hilfslieferungen aus ­Rojava, aber wegen der Schließung der Grenze erreichen sie uns nicht regelmäßig.«

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An der Front im Sinjar. Kämpferinnen der Yezidischen Fraueneinheiten (YJÊ)

Bild:
Giacomo Sini

Von Sinjar nach Lalish
In der Abenddämmerung erreichen wir die Stadt Sinjar, die an den südlichen Ausläufern des Sinjar-Gebirges liegt. Die gewundene Straße zur Stadt gleicht ­einem Friedhof für zurückgelassene und vom IS verbrannte Fahrzeuge, die letzten Spuren der Flucht der Zivilisten vor drei Jahren. Die Nacht wird bei ­einer der 150 Familien verbracht, die nach der vollständigen Befreiung vom IS mutig in die Stadt zurückgekehrt sind. Agid, seine Frau Nadia* und zwei ihrer jüngsten Töchter erzählen davon, wie die Familie durch das Massaker auseinandergerissen wurde. Einige ­Familienangehörige schafften es nach der Flucht erfolgreich nach Deutschland und ein paar später in die USA. »Für Familien wie uns, die zurück in die Stadt gekommen sind, ist das Widerstand. Mit der Präsenz in diesem Ter­ritorium der Ahnen verteidigen wir ein Gemeinschaftsgefühl, das sich wahrscheinlich auflösen wird«, sagt Agid bestimmt. An die Wände des Hauses ­haben IS-Kämpfer Beleidigungen, Slogans und die IS-Flagge gemalt. »Dieser Ort war fast ein Jahr lang das Hauptquartier des ›Islamischen Staats‹ in der Region. Wir wollen gar nicht wissen, was in unserem Haus passiert ist«, sagt Nadia, bevor sie ins Bett geht und den Generator abstellt, der das Haus mit Strom versorgt.

Am nächsten Morgen scheint die Stadt trostlos, eine seltsame Stille liegt über dem Stadtzentrum. Das historische Viertel und der Basar sind nur noch ein Haufen Schutt. Obwohl die Besatzung durch den IS weniger als ein Jahr gedauert hat, liegt deren Schatten über den Straßen des Zentrums, vor allem um das alte zentrale Krankenhaus herum, das halb zerstört ist. Hier musste die Frau eines lokalen Arztes detaillierte Berichte über die vom IS entführten Frauen erstellen, damit diese später auf den Märkten für Sexskla­vinnen in jenen Städten angeboten werden konnten, die besetzt wurden.

Weiter Richtung Nordosten, hinter dem Tigris-Checkpoint, liegt Lalish, nach dem Glauben der Yeziden einer der ältesten Orte der Welt und Sitz ­ihres zentralen Heiligtums. Hier feiern sie Ende April das Ende des alten und den Beginn des neuen Jahres. Der Unterschied zur vom IS heimgesuchten ­Sinjar-Region ist augenscheinlich, freudiges Lachen Hunderter und Tausender Menschen und ein Feuerwerk funkelnder Farben bilden in Lalish einen starken Kontrast zur stillen Trostlosigkeit Sinjars.

Die Freude hielt nicht lange an. Ibrahims Befürchtungen wurden wahr. Am 25. April wurde die Sinjar-Region von türkischen Flugzeugen bombardiert, die Stellungen der PKK zum Ziel hatten. Den Friedhof mit den Fotos ­gefallener Kämpfer gibt es nicht mehr, die Bevölkerung ist in Panik. Mitte Mai begann die vom irakischen Staat unterstützte schiitische Miliz Hashd ­al-Shaabi eine neue Militäroperation namens »Sinjar-Märtyrer«, die bald ­einige Dörfer in der Sinjar-Region zurückerobern konnte, darunter das ­yezidische Dorf Kocho, ein Symbol für die Grausamkeiten des IS. Ziel der ­Operation sei die Kontrolle der umkämpften Stadt Baaj im Westen Ninives und schließlich das Erreichen der ­syrischen Grenze, so Abu Mahdi ­al-Muhandis, der stellvertretende Leiter des Milizrats Ende Mai in einer ­Stellungnahme. Am 4. Juni wurde Baaj schließlich für vom IS befreit erklärt.

Anfang Juni kündigte Massoud Barzani für den 25. September ein Referendum über die Unabhängigkeit der kurdischen Autonomieregion vom irakischen Staat an. Teil des zukünftigen eigenständigen Staats soll auch die ­Sinjar-Region werden. Für die Selbstverwaltung der Yezidinnen und Yeziden sieht es schlecht aus, die umkämpfte Region wird wohl lange Zeit nicht zur Ruhe kommen.

* Name geändert

Aus dem Englischen von Nicole Tomasek