Französische Jüdinnen und Juden sprechen über die Auswanderung nach Israel

Gehen oder bleiben

Israel ist insbesondere nach den islamistischen Anschlägen in Frankreich zu einem wichtigen Einwanderungsland für französische Jüdinnen und Juden geworden. Für eine Aliyah gibt es jedoch viele Gründe. Eine Spurensuche in Tel Aviv, Netanya, Jerusalem und Paris.

»Geht zum Platz der Unabhängigkeit, da findet ihr sie alle, da sind nur Franzosen«, erzählt ein französischer Jude in Netanya, der schon seit Jahrzehnten in Israel lebt. In der Stadt prägt neben Hebräisch auch Französisch das Erscheinungsbild, selbst die Hinweisschilder, wo der nächste Raketenschutzbunker ist, sind auf Französisch beschriftet. Doch längst hat Netanya als Lieblingsziel der französischen Einwanderer Konkurrenz ­bekommen. Auch wer dieser Tage durch Tel Aviv läuft, dem wird die französische Sprache überall auf Plakatwänden, in Schaufenstern und in Gesprächen begegnen.

»Kommt nach Israel, macht die Aliyah. Das ist euer Land. Das ist euer Geburtsrecht«, hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu un­mittelbar nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher in Paris im Januar 2015 gesagt. Er stellte unüberhörbar die Frage, ob Jüdinnen und Juden im Europa des 21. Jahrhunderts frei und ohne Angst leben könnten, und versicherte den jungen jüdischen Franzosen, dass Israel immer für sie offenstehe. Europäische Politiker werteten das als Affront. Heute finden in Frankreichs jüdischen Gemeinden immer mehr Informa­tionsveranstaltungen dazu statt, wie der Umzug nach Israel rechtlich funktioniert und welche Erfahrungen jüdische Franzosen dabei gemacht haben.

In den letzten 30 Jahren sind stetig mehr französische Jüdinnen und  Juden nach Israel eingewandert, doch in den vergangenen Jahren sind die Zahlen nochmals deutlich angestiegen. Allein seit 2005 kamen rund 35 000 Menschen aus Frankreich nach Israel, im Jahr der verheerenden Anschläge in Paris 2015 wanderten 7 500 Menschen aus. Antisemitische Vorfälle in Frankreich häuften sich in den vergangenen Jahren, der jihadistische Terror wütete im Land wie in keinem zweiten in Europa. Zu den Anschlägen kommen weitere Gewaltverbrechen hinzu, die medial deutlich weniger Aufmerksamkeit erregt haben, etwa der Mord an der jüdischen Rentnerin Sarah Halimi am 4. April dieses Jahres in Paris. Ihr 27jähriger Nachbar beschimpfte sie mehrfach antisemitisch, bevor er sie später in ihrer Wohnung quälte und aus dem dritten Stock in den Tod stürzte. Im Sommer 2014 kam es im Umfeld einer Demons­tration anlässlich des Gaza-Kriegs zu antisemitischen Überfällen im Pariser Vorort Sarcelles, in dem zahlreiche Jüdinnen und Juden leben. In der kürzlich veröffentlichten Fernsehdokumentation »Auserwählt und ausgegrenzt« werden diese Vorfälle als Wendepunkt dargestellt, seit 2014 werde der Anti­semitismus deutlich stärker als Bedrohung wahrgenommen. »Alle wollen weg hier. Fast alle aus Sarcelles sind nach Netanya. Wenn man da hingeht, ist es wie in Paris, überall Franzosen«, ­erzählt ein junger Pariser Jude gegen Ende der Dokumentation.

Zweierlei Coming-out
Die Bograshov-Straße in Tel Aviv reicht vom Mittelmeer ins Zentrum der Stadt und ist gesäumt von Restaurants, Konditoreien und Cafés. Zum Espresso werden hier Croissants serviert, es wird geraucht und überall finden Gespräche auf Französisch und Hebräisch statt. In einem der Cafés in Tel Aviv sitzt Pierre. »In Israel konnte ich jüdisch und schwul sein«, sagt der 24jährige. »Das konnte ich in Frankreich beides nicht.« Er lächelt. Seit über einem Jahr wohnt er in Tel Aviv und arbeitet für einen inter­nationalen Fernsehsender als Produzent – auf Französisch. Während er ­seine Homosexualität in Frankreich verdrängte, sie aus Angst nicht erkennen wollte und versuchte, sich möglichst maskulin und heterosexuell zu geben, fühlte er sich in Tel Aviv von Anfang an frei und begann seine Identität neu zu definieren. Aufgewachsen ist Pierre in einer säkularen Familie im Norden Marseilles, der für ausufernde Kriminalität, Gewalt und Jugendarbeitslosigkeit berüchtigt ist. Jugendliche Gangs, Drogenkriminalität und hegemoniale Männlichkeit bestimmen dort das ­öffentliche Leben. In seiner Schulklasse war Pierre der einzige Jude. Es war ein Teil von ihm, den er versteckt hielt, lange Zeit unterdrückte. Mit etwa 16 Jahren begann er, sich für die Religion seiner Familie zu interessieren, und fing an, dem Judentum eine größere Rolle in seinem Leben einzuräumen.

Die antisemitischen Reaktionen folgten prompt. Im Bus Nummer 97, der den berüchtigten Norden mit der Innenstadt verbindet, so erzählt er, habe er sich an einer Stange festgehalten, wodurch der Davidstern-Anhänger an ­seinem Arm sichtbar wurde. Drei arabische Jugendliche hätten ihn beobachtet und sich offensichtlich über ihn unterhalten. Als sie aus dem Bus ausstiegen, hätten sie ihn als »dreckigen Juden« beschimpft und bespuckt. ­Ähnliche Situationen folgten, doch der Judenhass kam auch in anderen, sub­tileren Formen daher. Während eines Praktikums bei einer überregionalen linksliberalen Zeitung in Frankreich habe er für wenige Minuten am Arbeitsplatz eines Kollegen gesessen. Als dieser das bemerkte, habe er ihn lächelnd gefragt, ob er dessen Schreibtisch »jetzt also auch noch kolonisieren« wolle. Er habe sein Praktikum wenig später beendete, ohne die Auseinandersetzung wegen des Kommentars zu suchen. Im Januar 2015 erfuhr Pierre, dass auch ein Bekannter von ihm bei dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt in Paris ermordet worden war. »Da wusste ich, dass ich in Frankreich nicht mehr in Sicherheit bin«, resümiert er.

Angekommen in Israel, änderte sich Pierres Leben drastisch. »Wie ein Kind in Disneyland«, beschreibt er seine Gefühle der ersten Wochen. Auf dem Weg zu seinem ersten Sabbat-Abendessen in Tel Aviv habe er seine Kippa aufgesetzt und Tränen in den Augen gehabt. »In Marseille konnte ich das nicht und musste aufpassen, dass ich nicht beschimpft oder angegriffen werde«, sagt er.

Spirituelle Suche
In einer Bar im Jerusalemer Stadtteil Rehavia sitzt Haim. Der 26jährige trägt eine Nickelbrille und einen gepflegten Vollbart. Wäre da nicht die schwarze samtene Kippa auf seinem Hinterkopf, würde man ihn eher für ­einen New Yorker oder Berliner Hipster halten – jedenfalls nicht auf die Idee kommen, dass er streng gläubig ist und jeden Tag fünf Stunden Tora und Talmud studiert.

Haim ist in Toulouse geboren und aufgewachsen. Anfang 2015 zog er aus beruflichen Gründen nach Paris. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo war er sich sicher, dass er dort nicht alt werden würde. Im Sommer 2016 wagte er schließlich den Schritt und machte ­seine Aliyah. Er weiß es zu schätzen, dass er sich als Jude in Israel nicht zu ver­stecken braucht, und findet außerdem, dass man sich im Alltag in Israel ins­gesamt sicherer fühle. Trotz dieses vordergründigen Sicherheitsgefühls aber meint er: »Am Ende lebt man in Israel mindestens genauso gefährlich wie in Frankreich.« Der Antisemitismus und die Sicherheitslage in Frankreich waren anders als bei Pierre nicht die entscheidenden Faktoren für Haims Auswanderung. Er sei nie auf der Straße beleidigt oder angespuckt worden, die neugierigen Blicke der Leute hätten ihn nicht so sehr gestört.

»Zu sagen, dass ich wegen des Antisemitismus nach Israel gekommen sei, wäre falsch«, betont Haim. Da sei für ihn vieles zusammengekommen. Er sei unzufrieden gewesen mit seinem beruflichen Werdegang in Frankreich, aber auch mit der politischen und gesellschaftlichen Lage dort. Entscheidend seien jedoch die »spirituelle Suche«, auf die er sich vor einigen Jahren be­geben habe, und seine »Liebe zu Israel«. Nicht zum Staat, sondern zum Ort, zur Erde selbst, wie er betont, denn er sei nicht im engeren Sinne Zionist. Haim hat stets in einem jüdischen Umfeld gelebt, auch die Verbundenheit mit Israel habe in seiner Familie dazugehört. Und doch hat sich seine Beziehung zu Israel in den vergangenen Jahren stark verändert, sie sei intensiver geworden. Seit rund drei Jahren beschäftigt er sich stärker mit der Religion, in dieser Zeit ist er noch häufiger in Israel gewesen als zuvor, insbeson­dere in Jerusalem. Hier fühle er sich wohl, ziehe Kraft aus der Spiritualität.

Die ganze Vielfalt
Seit 2012 gehe der Trend insgesamt jedoch weg von solcher religiös und ideologisch motivierter Einwanderung, sagt Daniel Benhaim. Der Direktor der französischen Delegation der »Jewish Agency for Israel« kümmert sich von Paris aus um die Organisation der Einwanderung jüdischer Französinnen und Franzosen nach Israel. Bis vor einigen Jahren seien vor allem Familien aus­gewandert, besonders nach Jerusalem oder in die Küstenstadt Netanya. Doch seit 2013 habe sich das Bild geändert, die französischen Neuisraelis bildeten nun immer mehr die ganze Vielfalt der jüdischen Gemeinde in Frankreich ab.

Tel Aviv sei inzwischen zum favorisierten Zielort geworden. Die Mittelmeermetropole mit ihrer kulturellen Vielfalt ziehe hauptsächlich junge Menschen an. Viele von ihnen würden große Hoffnungen in Tel Aviv als internationale Großstadt und die dort ­ansässige Start-up-Szene setzen.

Dieses Bild zeichnet sich auch in den Statistiken ab, die den sozioökonomischen Status der Einwanderer ­betreffen. Rund 80 Prozent der Neuisraelis kommen aus Paris. »Und dementsprechend kommen die meisten wirtschaftlich ­gesehen aus den mittleren bis höheren Schichten der Gesellschaft, weil Israel ein sehr liberales Land ist«, so Benhaim. Ärmere Menschen mit niedriger formaler Bildung hingegen schreckten vor einem Umzug zurück. Sie seien in Frankreich auf staatliche Unterstützung angewiesen, die in Israel in solchem Ausmaß nicht zu erwarten sei, betont Benhaim.

»Ich denke, dass Israel mein Land ist«, sagt Sarah. »Ich gehöre da hin.« Die 23jährige Studentin sitzt in einem Café im schicken Osten von Paris mit Blick auf den Eiffelturm und erzählt von ihrer Nähe zum jüdischen Staat. In Paris ­engagiert sie sich in der jüdischen Gemeinde und der jüdischen Studierendenunion, das Judentum spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben. »In Israel spüre ich stärkere religiöse Gefühle, ich kann dort ein religiöseres Leben führen«, sagt sie. Letzteres sieht sie in Frankreich eingeschränkt. So hätten beispielsweise die Nachbarn öfter die Polizei gerufen, wenn sie mit Freunden ein Sabbat-Abendessen veranstaltete. »Wir waren nicht laut. Ich denke, dass sie sich daran gestört haben, dass wir Juden sind«, sagt sie ruhig.

Nach ihrem Studium der Mathematik und Informatik möchte Sarah umgehend ihre Aliyah machen und in der Start-up-Szene Fuß fassen. Auch alle ihre Freundinnen und Freunde, vor allem junge Pariser Juden, planten bereits die Ausreise. Israel bietet für Sarah als gebildete junge Frau sowohl wirtschaftliche Chancen als auch ein religiöses Leben. Ihre Motive für die Aliyah klingen nach einer Mischung aus modernen Karriereplänen und religiös ­gefärbtem Patriotismus.

Immer willkommen
Anders verhält es sich bei Alice. Die 27jährige Anwältin erzählt, dass sie als Kind eine gewisse religiöse Erziehung genossen, koscher gegessen und den Sabbat befolgt habe. Heute jedoch ­begreift sie ihr Jüdischsein bloß als eine Frage der Tradition. Sie verbringe die Feiertage mit ihrer Familie, aber Glaube und Religion spielen für sie keine Rolle. Das ist einer der Gründe, warum sie über eine Aliyah nie ernsthaft nach­gedacht habe. Das Thema sei in der Familie in den vergangenen Jahren zwar manchmal angesprochen worden, aber eher am Rande.

Obwohl sie bisher nicht persönlich damit konfrontiert worden sei, hält Alice die allgemeine Diagnose für richtig, dass der Antisemitismus in Frankreich in den vergangenen Jahren zugenommen habe. Diese Tendenz stellt sie in den breiteren Zusammenhang einer Gesellschaft mit wachsenden »kommunitaristischen Tendenzen«, in der die einzelnen Gemeinschaften sich abschotten und auf sich selbst zurückziehen ­würden. Mit diesem Kommunitarismus wie­derum habe Alice schon lange Schwierigkeiten gehabt. So habe sie beispielsweise in ihrer Schulzeit nie den Anschluss an die jüdische Gemeinde innerhalb der Schule gesucht. »Ich ­fühle mich zu hundert Prozent als Französin und gehe davon aus, dass ich zum ­Beispiel mit vielen Muslimen mehr gemeinsam habe als ausgerechnet mit anderen Juden.« Entsprechend offen sind auch ihre Lebenspläne: »Wenn ich darüber nachdenke, ins Ausland zu ­ziehen, dann denke ich nicht speziell an Israel, sondern im Gegenteil viel eher an andere Länder«, so Alice.

Ein hohes Niveau an französisch-jüdischer Zuwanderung nach Israel ist in naher Zukunft sicher. Zwar sind seit dem Rekordjahr 2015 die Zahlen wieder leicht rückläufig. Doch Daniel Benhaim und die Jewish Agency prognostizieren für die kommenden Jahre konstant hohe Einwanderungsquoten.

Französische Israelis berichten dabei oftmals von denselben Problemen: Schwierigkeiten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, erhebliche Sprachbarrieren. Trotzdem bleibt Israel attraktiv, auch als dauerhafte Lebensperspektive. Benhaim führt das nicht zuletzt auf die wichtige Rolle Israels für die Identität französischer Jüdinnen und Juden zurück. »Und es gibt viele Push-Faktoren in den letzten Jahren«, so Benhaim. »Das kann der Terrorismus sein oder die Diskussion über eine europäische Identität und über die Rolle der Juden in ihr.«