Warum wird im deutschen Wahlkampf über die Flüchtlingspolitik kaum gestritten?

Geflüchtete werden verwaltet

Auch sechs Wochen vor der Bundestagswahl spielt die Flüchtlings­politik im Wahlkampf keine Rolle. Offenbar hat die Politik das Thema an die Verwaltung abgetreten.

Noch vor ein paar Monaten schien es unvorstellbar, dass der Bundestagswahlkampf ohne das Thema Flüchtlingspolitik stattfinden würde. In der Union stritten die Parteichefs um die Obergrenze, Martin Schulz kündigte an, das Thema für die SPD ganz groß zu machen, und die AfD profitierte von den Bedenken der Wählerinnen und Wähler. Von all dem ist sechs Wochen vor der Bundestagswahl kaum mehr etwas zu spüren. Im Wahlkampf ist über Flüchtlingspolitik bislang kaum gestritten worden. Jene in der Union, die für eine deutlich restriktivere Abschottungspolitik sind, finden derzeit wenig Gehör. Horst Seehofer (CSU) hat seine Forderung nach einer Obergrenze für neu ankommende Flüchtlinge zwar nicht zurückgenommen, trägt sie aber nur noch kleinlaut vor und macht sie nicht mehr zur Bedingung für eine weitere Zusammenarbeit mit der CDU. Die will vor allem Abschiebungen erleichtern.

Die Unternehmensberatung McKinsey legte im Dezember 2016 eine Studie über deutsche Abschiebepolitik vor, die im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) klären sollte, wie ausreisepflichtige Personen zur Ausreise gezwungen werden können. Das Papier gelangte an die Presse. Es enthält in erster Linie uninteressante Graphiken und nichtssagende Überschriften. Zum Beispiel: »Die Rückkehrprozesse können durch einen integrierten Lösungsansatz optimiert werden.« In der Studie findet sich wenig, was Asylexperten nicht schon längst wissen. Dennoch ist sie interessant, weil Bund und Länder die darin vorgeschlagenen Reformen des Asylsystems tatsächlich bereits in die Tat umsetzen. Mit den meisten Reformen haben sie allerdings schon begonnen, bevor McKinsey im BAMF die Zelte aufgeschlagen hatte.

McKinsey regte an, dass Behörden sich zunächst darauf konzentrieren sollten, Flüchtlinge aus den Westbalkan-Staaten abzuschieben beziehungsweise mit Rückkehrprämien aus dem Land zu komplimentieren. Flüchtlinge, deren Herkunftsland per Gesetz zu einem »sicheren« erklärt worden ist, durchlaufen ein einfacheres Asylverfahren. Sie haben wenige Möglichkeiten, Bescheide gerichtlich anzufechten. Das BAMF arbeitet diese Asylanträge zudem schneller ab als andere.
Westbalkan-Flüchtlinge sind deshalb in deutschen Aufnahmeeinrichtungen immer seltener anzutreffen. Flüchtlinge, die in einer Unterkunft in Ingolstadt leben, berichteten der Jungle World, dass im Verlauf dieses Jahres die Polizei zeitweise wöchentlich früh morgens aufs Gelände kam, um Menschen zum Abschiebeflug zu bringen. Seit einer Gesetzesänderung im vergangenen Jahr erfolgen Abschiebungen stets unangekündigt.

In besonderen Fällen ist es Flüchtlingen vom Westbalkan zwar nach wie vor möglich, Schutz in Deutschland zu finden. Im Frühjahr bekam zum Beispiel ein Mann einen Aufenthaltstitel, der im Jugoslawien-Krieg Zeuge eines Massakers geworden war. Er soll bald vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag aussagen. Die Täter von damals wollen das verhindern und drohten im Kosovo, ihn zu ermorden. Gleichwohl heißt es aus den in der Asylsozialarbeit tätigen Wohlfahrtsverbänden, dass zahlreiche Asylsuchende keinen Schutz bekämen und Deutschland verlassen müssten. Das gilt besonders für Fälle kumulativer Diskriminierung (zum Beispiel Roma-Frauen, Menschen mit Kriegstraumata). Flüchtlingshelfer erhalten Briefe von in den Kosovo abgeschobenen Familien. Diese schreiben, dass sie kaum etwas zu essen hätten und nicht wüssten, wie sie den Winter überstehen sollen. Neu ankommende Asylsuchende vom Westbalkan gibt es derzeit kaum noch.

Einem Vorschlag der McKinsey-Studie folgend trat Anfang August das »Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« in Kraft. Das Gesetz erlaubt es, Asylsuchende aus Ländern mit geringer Bleibeperspektive (dazu zählt auch Afghanistan) während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen unterzubringen. Dies sind meist Massenunterkünfte, in denen Menschen wenig selbstbestimmt leben und kaum Zugang zu Beratungs- und Integrationsangeboten haben. Am radikalsten betreibt Bayern diese Unterbringungspolitik. Gerade errichtet der Freistaat vier sogenannte Transitzentren. Diese sind ausschließlich dazu da, Flüchtlinge aus Ländern mit geringer Bleibeperspektive unterzubringen – für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens.
In Bayern gibt es wie in den meisten Bundesländern für solche Unterkünfte keine Mindeststandards. Es gibt keine Vorschriften, die regeln, wie Bewohner vor Gewalt und Diebstählen zu schützen sind. In dem neuen Transitzentrum in Bamberg plante die Landesregierung zunächst 4 500 Asylsuchende unterzubringen. An Ort und Stelle arbeitende Wohlfahrtsverbände rechneten dem Freistaat vor, dass ein Asylsuchender in einer einzelnen Wohneinheit dann fünf Quadratmeter Platz hätte. In Gefängnissen muss Insassen mindestens sieben Quadratmeter Platz gewährt werden. »Auf unser Drängen lenkte die Landesregierung schließlich ein. Nun sollen hier maximal 3 300 Asylbewerber untergebracht werden können«, sagt Markus Ziebarth, Asylsozialarbeiter des katholischen Wohlfahrtsverbands Caritas in Bamberg. Damit hat jeder Asylsuchende ungefähr sieben Quadratmeter zur Verfügung.

Die humanitären Bedingungen von Asylsuchenden in Deutschland sind trotzdem noch einigermaßen vertretbar im Vergleich mit Ländern wie Italien oder Frankreich. Obwohl nach Frankreich weniger Flüchtlinge kommen, verbringen Asylsuchende am Anfang des Verfahrens Wochen bis Monate in Obdachlosigkeit. In Paris an der Ortsgrenze zu Saint-Denis stehen unter einer Autobahnbrücke Dutzende Zelte. Ähnliche Bilder finden sich in anderen Großstädten wie Metz oder Lyon.
Gleichwohl sind auch in Deutschland die Intransparenz des Asylverfahrens und das isolierte unselbständige Leben in den Massenunterkünften für Asylsuchende psychisch sehr belastend. Viele verstehen nicht, was mit ihnen dort geschieht. Die Langeweile macht einige zu Alkoholikern oder bringt sie dazu, sich mit anderen Drogen zu betäuben.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Afghanen Monate oder vielleicht sogar Jahre in dieser Unterkunft in Bamberg behalten kann«, sagt eine Asylrechtsanwältin. »Meistens sind das traumatisierte Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Das wird knallen.«

Nachdem in Hamburg ein abgelehnter Asylbewerber bei einem islamistisch motivierten Amoklauf eine Person erstach und sechs weitere verletzte, beklagte Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) noch am selben Abend, es fehlten die gesetzlichen Grundlagen, um ausreisepflichtige Menschen schnell abschieben zu können. Doch eine schnelle Abschiebung löst das Problem womöglich nicht. Wenn die Asylverfahren für Migranten transparenter wären und die Lebensbedingungen in Unterkünften psychisch weniger belastend, wäre der Täter vielleicht gar nicht erst durchgedreht.

Im März 2018 läuft die Aussetzung des Familiennachzugs aus. Das betrifft vor allem syrische Flüchtlinge, die nach dem März 2016 in Deutschland Asyl beantragten und subsidiären Schutz erhielten. Die Ehemänner, Ehefrauen, Kinder und Eltern dieser Flüchtlinge sollen dann wieder Einreisevisa in der deutschen Botschaft in Beirut beantragen können. Theoretisch ginge das auch in der Türkei oder in Jordanien, nur sind die Grenzen zu Syrien dort seit über einem Jahr geschlossen. CDU-Innenpolitiker dachten im Frühjahr darüber nach, diese Aussetzung zu verlängern. Die Forderung wurde jedoch nicht ins Wahlprogramm der Partei aufgenommen.

Auch SPD, Grüne und Linkspartei betreiben mit dem Thema Flüchtlingspolitik derzeit kaum Wahlkampf. Dabei enthalten ihre Programme durchaus Forderungen für eine zukünftige Asylpolitik. Die Grünen fordern etwa, dass Deutschland größere Kontingente aus Flüchtlingslagern aufnehmen müsse, die in Krisengebieten vom UN-Hochkommisariat für Flüchtlingsfragen betrieben werden.