Eine Erinnerung an Arbeiter-Radsport

Rote Husaren auf zwei Rädern

Im Arbeiterradsport war solidarisches Miteinander eines der Ziele – und statt Nationalismus und Rekordjagd gab es Wettbewerbe darin, möglichst langsam Fahrrad zu fahren.

Radfahren gilt heute kaum als sonderlich progressive Beschäftigung. Das Image des Radelns oszilliert zwischen der Bräsigkeit Rudolf Scharpings und seines Bunds Deutscher Radfahrer, verkehrspolitischen Bevormundungs­utopien der Grünen und dem in vielfacher Hinsicht exzessiven Wettbewerb Tour de France. Aber das war nicht immer so.

Der Beginn des organisierten Radsports lässt sich in Deutschland auf das Jahr 1869 datieren, als der »Eimsbüttler Velozipeden-Reitclub« (später umbenannt in Altonaer Bicycle-Club von 1869/80) gegründet wurde, der älteste Radfahrverein der Welt. Mitglieder dieses Fahrradclubs waren zunächst überwiegend Akademiker, Kaufleute und Beamte. Zwar traf die neue Erfindung Fahrrad in der ganzen Bevölkerung auf Begeisterung, über die nötigen finanziellen Mittel zur Anschaffung und auch für den seinerzeit kostspieligen Unterhalt des neuen Fortbewegungsmittels verfügten jedoch nur wohlhabende Bürger.

Erste Arbeiterradsportvereine wurden erst gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts gegründet, als die beginnende Sozialgesetzgebung den Arbeitern etwas mehr Geld und Freizeit verschaffte – und als mit der Aufhebung der Sozialistengesetze die Verfolgung sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Vereine und Gesellschaften aufhörte.

Zwölf Jahre nach dem bürgerlichen Bund Deutscher Radfahrer gründete sich im Jahre 1896 in Offenbach der Arbeiter-­Radfahrerbund Solidarität. Nötig geworden war das unter anderem auch, weil die bürgerlichen Radfahrvereine wie die deutsche Turnerbewegung insgesamt konservativ bis nationalistisch geprägt waren und es in den Vereinen immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen bürgerlichen Mitgliedern und den sozialdemokratischer Neigungen verdächtigen Arbeitern kam; zudem nahmen bürgerliche Radfahrvereine mitunter überhaupt keine Arbeiter auf. Mit dem eigenen Dachverband, den man kurz »die Solidarität« nannte, hatten die Arbeiter nun die Möglichkeit, eigene Vorstellungen von Sport, Freizeit und Vereinsleben zu verwirklichen, man begriff sich nicht nur als aktiven Teil der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, gewissermaßen als Gewerkschaft der Radfahrer, sondern auch explizit als »die roten Husaren des Klassenkampfes«.

Die Ansätze der bürgerlichen Radfahrer und die des Arbeiterradsports waren in der Tat sehr verschieden. Im Bund Deutscher Radfahrer dominierten Radrennen und kompetitive Radtouren über lange Distanzen. Möglichst schnell und möglichst weit fahren, hieß die Devise. So ist es nicht verwunderlich, dass auch beim Radfahren der Wehrsportcharakter der bürgerlichen Turnerbewegung zutage trat. Nach dem Vorbild traditioneller Pferdewettrennen zwischen deutschen und österreichisch-un­garischen Offizieren von Berlin nach Wien und retour sollte beispiels­weise 1893 ein ähnliches Rennen – nur eben mit Fahrrädern – von Wien nach Berlin stattfinden, um die deutsche und österreichische Generalität vom militärischen Wert des »Velocipeds« zu überzeugen. Im Stahlrad, der Zeitung des Deutschen Radfahrerbundes, wurde unermüdlich versucht, die deutschen Radfahrer für dieses »nationale Unternehmen ersten Ranges« zu begeistern. Obwohl im Stahlrad erhitzte Debatten über das Reglement des Rennens und darüber entbrannten, ob die Distanzfahrt nun eher Propaganda für den Radsport oder die Fahrradhersteller sein solle, blieb der erhoffte Werbeeffekt aus. Das Fahrrad sollte das Pferd in militärischer Hinsicht erst einmal nicht ausstechen.

Der Ansatz der Arbeiterradsportvereine sah anders aus. Statt auf Wettbewerb und Kilometerfressen setzte man auf Fahrfreude, Vielfalt der Disziplinen und gemeinsame Freizeitgestaltung. Ein Handbuch aus der damaligen Zeit empfahl, dass bei gemeinsamen Radtouren eine Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometern nicht überschritten werden solle, damit auch ältere und schwächere Mitglieder teilnehmen konnten. Oder, um aus einem Zeitungsbeitrag anlässlich eines »Arbeiter-Rad- und -Sportfestes« zu zitieren: »Die Arbeitersportbewegung schöpft ihre stärksten Kräfte aus dem Gemeinschaftsgedanken ihrer Mitglieder, um die sich das gemeinsame feste Band der gleichen Weltanschauung des Sozialismus schlingt, und diese weltanschauliche, geistige Verbundenheit unterscheidet die Arbeitersportbewegung am stärksten von der bürgerlichen Sportwelt.«

Ein Handbuch aus der damaligen Zeit empfahl, bei gemeinsamen Radtouren eine Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometern nicht zu überschreiten, damit auch Ältere und Schwächere teilnehmen konnten.

Den Arbeiterradsportvereinen ging es eher um Breitensport als um die Jagd nach Rekorden und sogenannten Spitzensport. Radrennen boten sie kaum an, dafür Disziplinen wie Radwandern, Kunstradfahren, Radball und Langsamfahren. Letzteres war eine besonders beliebte Dis­ziplin, bei der es darum ging, eine Strecke von 100 Metern Länge und einem Meter Breite möglichst langsam zu befahren, ohne abzusteigen oder mit den Füßen den Boden zu berühren. Es kam also nicht auf Schnelligkeit oder Körperkraft an, sondern allein auf die gute Beherrschung des eigenen Körpers und des Fahrrads – nicht zuletzt hatte das Langsamfahren damit auch eine verkehrserzieherische Komponente.

Auch der Militarismus und die Deutschtümelei der bürgerlichen Radsportvereine waren dem Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität fremd. Verwendete man zu Beginn noch den Radfahrergruß der Bürgerlichen, »All Heil!«, fand man bald zum eigenen Arbeiterradgruß »Frisch auf!«, der dem eigenen Selbstverständnis insbesondere auch in Abgrenzung zu den bürgerlichen Gepflogenheiten gerecht werden sollte, wie sich auch in den zur Gründung des Dachverbandes gedichteten Liedern widerspiegelt:

»Aufs Rad! Aufs Rad – Genossen alle!/Frisch auf! Zum letzten heißen Streit!/Zertrümmern helft, was schon im Falle,/es gilt dem neuen Geist der Zeit!«
In den Zwanzigern hatte sich der Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität durchgesetzt – zumindest in der Breitenwirkung. Er war zu diesem Zeitpunkt nicht nur der größte Arbeiterverein Deutschlands, sondern mit über 300 000 Mitgliedern auch die größte Radsportvereinigung der Welt. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten war damit natürlich Schluss: Während der bürgerliche Bund Deutscher Radfahrer dem Namen nach 1933 aufgelöst, der Sache nach aber als nationalsozialistisch gleichgeschalteter Deutscher Radfahrer-Verband weitergeführt wurde, zerschlug und verbot das Regime den Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität als »Sportorganisation sozialdemokratischer Weltanschauung«. Die vereinseigene Fahrradfabrik Frisch­auf wurde beschlagnahmt und ­später zur Rüstungsproduktion verwendet. 600 Zwangsarbeiter mussten dort Kriegsmaterial produzieren.

Im Gegensatz zum Bund Deutscher Radfahrer – man hatte sich arrangiert – erholte sich der Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität nach dem Krieg nie wirklich. Obwohl die heute immer noch in Offenbach ansässige Vereinigung nach dem Krieg wieder gegründet wurde, sich 1990 mit seinem gleichnamigen ostdeutschen Pendant vereinigte und eine aktive Jugendbewegung hat, die »Solijugend«, fristet er neben dem an Mitgliedern fast viermal so großen Bund Deutscher Radfahrer weitgehend ein Nischendasein für Rand­disziplinen im Radsport. Und während gutbezahlte Radfahrer unter Zuhilfenahme allerlei chemischer Hilfsmittel und unter großer medialer Aufmerksamkeit bei den großen Profirundfahrten möglichst schnell möglichst weit fahren, trifft man auf das einst so beliebte Langsamfahren nur noch als kuriose Disziplin bei »Schlag den Raab«. Man könnte sagen, das Rad hat sich weitergedreht.