Neonazis mobilisieren zum Gedenkmarsch für Rudolf Heß nach Berlin Spandau

Von Wunsiedel zurück nach Spandau

Zum 30. Todestag von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß mobilisieren Neonazis zu einer Kundgebung im Berliner Bezirk Spandau.

»Mord verjährt nicht!« Das ist das Motto einer Neonazi-Demonstration, die diesen Samstag in Berlin-Spandau stattfinden soll. Anlass des Aufmarsches ist der 30. Todestag des NS-Kriegsverbrechers Rudolf Heß. Der hatte sich am 17. August 1987 im Kriegsverbrechergefängnis Spandau, in dem er seit 1947 eingesessen hatte, das Leben genommen, indem er sich mit einem an einem Fenstergriff befestigten Verlängerungskabel erhängte.

Unter Rechtsextremen kursierten bereits kurz nach Heß’ Tod Verschwörungstheorien, die praktisch alle von einer Ermordung des ehemaligen »Stellvertreters des Führers« ausgingen, der unter anderem an der Ausarbeitung der Nürnberger »Rassengesetze« beteiligt war. Als mögliches Motiv wird meist Rache genannt. Passend dazu fordert auch der Aufruf zur Demonstration »Recht statt Rache« – wobei es sicher kein Zufall ist, dass diese Worte an »Recht, nicht Rache« erinnern, den Titel eines Buches des Shoah-Überlebenden Simon Wiesenthal.

Die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus« rechnet mit deutlich mehr als den 500 angemeldeten Teilnehmern.

Bereits vor seinem Tod war Heß als letzter inhaftierter NS-Kriegsverbrecher eine Ikone der extremen Rechten. Im Mai 1941 war er nach Großbritannien geflogen, wohl um dort – ohne Wissen Hitlers oder der anderen Granden des NS-Regimes – über ein Friedensabkommen zu verhandeln. Stattdessen wurde er gefangen genommen und später im Zuge der Nürnberger Prozesse wegen Planung eines Angriffskriegs und Verschwörung gegen den Weltfrieden zu lebenslanger Haft verurteilt. In den Augen deutscher Alt- und Neonazis jedoch war der »Friedensflieger« ein Held. Im Oktober 1986 verübte ein selbsternanntes »Befreiungskommando Rudolf Heß« sogar einen Sprengstoffanschlag auf ein Nebengebäude des Kriegsverbrechergefängnisses. Nach seinem Tod wurde er schnell zu einem Märtyrer verklärt.

Bereits im August 1987 versammelten sich, wie das Antifaschistische Infoblatt damals berichtete, allabendlich rund 200 mit Fackeln und Reichskriegsfahnen bewehrte Alt- und Neonazis vor den Toren des Gefängnisses, wo sie Kränze ablegten, die erste Strophe des »Deutschlandliedes« sangen und den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben. Auch in westdeutschen Städten wie Hamburg oder Bielefeld zogen Neonazis mit Fackeln durch die Straßen. Auf ein Büro der SPD-nahen Jugendorganisation »SJD – Die Falken« in Düsseldorf wurde ein Brandanschlag verübt. In Frankfurt gab es einen Anschlag auf ein Fahrzeug der US-Armee.

Im August 1988 organisierten Neonazis – allen voran Michael Kühnen und Christian Worch – den ersten Rudolf-Heß-Gedenkmarsch im bayerischen Wunsiedel, wo Heß begraben lag, bis sein Grab 2011 aufgelöst wurde. An dieser ersten Demonstration nahmen rund 120 Alt- und Neonazis teil, doch die Kundgebung wurde schnell zu einem der wichtigsten Termine der extremen Rechten. 1990 kamen bereits 1 600 Personen nach Wunsiedel. Doch auch der Protest nahm zu und wohl nicht zuletzt deswegen wurde ab 1991 regelmäßig ein Demonstrationsverbot für den gesamten Landkreis verhängt. Von da an fanden die Gedenkmärsche andernorts statt. 1992 im thüringischen Rudolstadt nahmen 2 000 Menschen an der Demonstration teil – unter ihnen auch die Kerngruppe des späteren »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU).

In den folgenden Jahren musste sich die Szene aufgrund wachsenden staatlichen Drucks, der größere angemeldete Gedenkmärsche verhinderte, auf dezentrale Aktionen verlegen. Teilweise wurde sogar erfolglos versucht, ins benachbarte Ausland, nach Luxemburg und Dänemark, auszuweichen. Das Gedenken an Hess hat jedoch in der Szene nichts von seiner Bedeutung verloren. Ab 2012 etablierte sich mit dem zunächst federführend von der Kameradschaft »Freies Netz Süd« und heute von der neonazistischen Kleinpartei »Der III. Weg« organisierten »Heldengedenken«, das jährlich im November in Wunsiedel stattfindet, eine Art Ersatzveranstaltung, zu der regelmäßig mehrere Hundert Neonazis ins Fichtelgebirge pilgern.

Bemerkenswerterweise hält sich »Der III. Weg« bis dato mit Aufrufen zu der Demonstration in Spandau zurück, während konkurrierende Organisationen von der NPD über die Kleinpartei »Die Rechte«, deren Vorsitzender Christian Worch ist, bis hin zu Kameradschaften und dem sich national-revolutionär gebenden »Antikapitalistischen Kollektiv« die Werbetrommel rühren. So wurden in mehreren Stadtteilen Berlins Plakate aufgehängt, die Fahndungsplakaten der Polizei nachempfunden sind und nach Hinweisen auf die »englischen Mörder« von Rudolf Heß fragen. Auf einer Internetseite, deren erster Eintrag auf den 1. Mai 2017 datiert ist, können verschiedene Plakate und Aufkleber bestellt werden, der Aufruf zur

Demonstration ist dort in nicht weniger als 15 Sprachen zu finden.
Dementsprechend rechnet auch die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin« (MBR) damit, dass weit mehr als die angemeldeten 500 Teilnehmer zu der Demonstration erscheinen werden. Zieht man in Betracht, dass das Gedenken an Heß in der extrem rechten Szene noch immer eine enorme Zugkraft besitzt und dass sich im thüringischen Themar Mitte Juli 6000 Neonazis zu einem Konzert versammelten , scheint diese Erwartung realistisch zu sein. Zudem ist ein Thema, bei dem es zumindest indirekt auch um Verschwörungstheorien und die Besatzung Deutschlands durch die Alliierten geht, bis weit hinein in extrem rechte, aber nicht zwingend neonazistische Zusammenschlüsse wie Pegida, »Wir für Deutschland« oder auch die Szene der »Reichsbürger« in hohem Maße anschlussfähig.

Angemeldet hat die Demonstration Christian Häger. Nach Informationen der MBR war er eine der Führungsfiguren des ehemaligen Aktionsbüros Mittelrhein und musste sich dafür bis vor kurzem zusammen mit anderen in Koblenz vor Gericht verantworten. Inzwischen ist er dem Bericht der MBR zufolge Mitglied der NPD, wo er als Kreisvorsitzender des Kreisverbands Mittelrhein fungiert. Das Aktionsbüro Mittelrhein hat, bis die Polizei 2012 in einer koordinierten Aktion 24 mutmaßliche Mitglieder festnahm, mehrfach Demonstrationen in Remagen organisiert, bei denen an vermeintliche alliierte Kriegsverbrechen an deutschen Kriegsgefangenen erinnert wurde.

Wie auch bei den Heß-Gedenkkundgebungen ging es den Veranstaltern dabei neben der Präsenz auf der Straße vor allem um ein gezieltes Einwirken auf gesellschaftliche Diskurse über die deutsche Geschichte. Durch den Verweis auf vermeintliche alliierte Gräueltaten sollen die realen Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus in den Hintergrund gerückt werden, während gleichzeitig die Deutschen zu Opfern und die Alliierten zu Tätern umgedeutet werden. Wie das gehen kann, zeigt das Beispiel Dresden, wo heutzutage selbst weite Teile der bürgerlichen Mitte die alliierten Bombardements im Februar 1945 als Kriegsverbrechen betrachten.