Ein Besuch bei Flüchtlingen und Seenotrettern in Sizilien

Die Insel als Wartesaal

Im sizilianischen Catania kommen seit Jahren Zehntausende Flüchtlinge an, viele von ihnen warten vergeblich darauf, Asyl zu erhalten. Auch Seenotrettungs­organisationen haben hier eine Basis. Ihre Arbeit wird durch die neusten Einschränkungen für NGOs immer schwieriger.

»Warten. Warten. Was sonst kann ich tun?« Mahmoud*, ein junger Mann aus Mali, sitzt in einem Park in der Nähe des Bahnhofs von Catania im Osten Siziliens. Er ist einer der 600 000 Flüchtlinge, die in den vergangenen vier Jahren nach Italien kamen. Vielen von ihnen ergeht es wie Mahmoud, der seit Monaten in einem Camp am Stadtrand lebt und auf seine Papiere wartet. Ob er eine Chance hat, Asyl zu erhalten, weiß er nicht. Bis dahin, so sagt er, »warte ich und warte ich«.

Ein großer Teil der bisher über 90 000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr in Italien angekommen sind, ging im nahegelegenen hot spot in Pozallo oder hier in Catania an Land, einer hübschen, etwas heruntergekommenen Hafenstadt am Fuße des Vulkans Ätna. Unweit des Bahnhofs hat die Hilfsorganisation Oxfam einen Informationsstand aufgebaut. Dort versuchen ihre Mitglieder der stetig wachsenden Zahl von Flüchtlingen zu helfen, die aus dem System gefallen sind, die keine Aussicht auf Asyl haben und nun auf der Straße sitzen. Oxfam begann diese Arbeit vor zwei Jahren, als die hot spots errichtet wurden, in denen alle ankommenden Flüchtlinge registriert werden sollten – vor allem um zu verhindern, dass sie weiter nach Deutschland reisen und dort einen Asylantrag stellen.

Die Ankunft in Italien sei für Flüchtlinge ein »sehr delikater Moment«, sagt Adriana Zega, die Leiterin des humanitären Programms von Oxfam Catania. Direkt nachdem die Flüchtlinge die lebensgefährliche Überfahrt überstanden haben und italienisches Festland betreten, beginnt die Untersuchung durch die Behörden. Dieser Prozess dauert Stunden, manchmal Tage. Woher kommst du, warum bist du hier? Wie man auf diese Fragen antwortet, kann über ein ganzes Leben entscheiden. Wer zugibt – oder von der Küstenwache dabei gefilmt wurde –, das Boot gesteuert zu haben, wird festgenommen. Fast immer handelt es sich um Flüchtlinge, die in Libyen gezwungen wurden, diese Rolle zu übernehmen. Sie haben ihr Recht auf Asyl schon in diesem Moment verloren und werden wegen Beihilfe zur Schlepperei angeklagt.

Alle übrigen werden befragt und registriert. Dieser Prozess sei in jedem Hafen oder hot spot anders, sagt Lucia Borghia von der Organisation Border­line Sicily, die seit Jahren die Situation der Flüchtlinge in Sizilien beobachtet. Borghia tauscht sich mit zahlreichen Flüchtlingen aus und kennt die Lage in den Ankunftszentren. »Das ­Gesetz ist eine Sache, was tatsächlich jeden Tag passiert, eine andere«, sagt sie.

In einem Bericht von Amnesty International von 2016 werden die Erlebnisse eines 16jährigen und eines 27jährigen Flüchtlings wiedergegeben, die von der Polizei in Catania sexuell gedemütigt und mit Elektroschocks misshandelt wurden, als sie sich weigerten, ihre Fingerabdrücke zu geben. Der 27jährige sei »auf einen Stuhl mit einem Loch gesetzt« worden, dann hätte man mit einer Zange an seinen Hoden gezogen, heißt es darin.

»Die Polizei entscheidet in diesem Moment, wer ein Asylbewerber und wer ein Wirtschaftsflüchtling ist«, sagt Zega. Wer von den Behörden als legi­timer Flüchtling eingestuft wird, wird per Bus in ein Lager gebracht. Alle ­übrigen »landen auf der Straße, direkt vor dem hot spot, ganz einfach«. Immer wieder stoße Oxfam auf Migranten, die einen Ablehnungsbescheid ­erhielten, »aber nicht einmal verstehen, was sie da in der Hand haben«, so Zega. Viele hätten Dokumente unterzeichnet, die sie nicht verstünden. »Die juristische Beratung ist völlig inadäquat.«

Hafen von Catania

Erster Anlaufpunkt. In den weißen Zelten am Hafen von Catania werden die ankommenden Flüchtlinge registriert, das Gelände ist weiträumig abgesperrt

Bild:
Francesca La Franca

Die erste Milliarde liegt fern
Viele Flüchtlinge, deren Asylantrag abgelehnt wurde, sind obdachlos. Es gibt Schlafsäle, doch die stehen »Ille­galen« nicht offen. Ein Mann aus dem Sudan steht an einer belebten Straßenecke, er wirkt, als wolle er im Boden versinken. Fast flüsternd bittet er Passanten um Geld. »Ich war hier in einem Camp, aber dann haben sie mich rausgeschmissen«, erzählt er. »Ich arbeite, wenn ich kann, aber oft finde ich nichts.« Andere sieht man in den Straßen um den Bahnhof herum, sie versuchen, etwas Geld zu verdienen, indem sie Autoscheiben putzen oder Trödel verkaufen.

»Für Flüchtlinge ist es fast unmöglich, eine legale Arbeit zu finden, das ist ja für Einheimische schon nicht leicht«, sagt Borghia. Meist bleibe ihnen nur die saisonale Landwirtschaft. Auf Sizilien und besonders im südlichen Festland gebe es ganze Camps von »­illegalen« Wanderarbeitern. Die Zustände dort seien ausbeuterisch, oft verdiene man nur 15 Euro am Tag, so Borghia. Doch die Zahl der Illegalisierten wächst, woran auch die stetige Verschärfung des Asylrechts nichts ändern dürfte. »Wenn diese Politik so weitergeht, können wir mit noch größeren Zahlen an unsichtbaren Migranten rechnen«, meint Zega.

»Für Flüchtlinge ist es fast unmöglich, eine legale Arbeit zu finden, das ist ja für Einheimische schon nicht leicht.« Lucia Borghia von der Organisation Borderline Sicily

Unsichtbar sind nicht alle Einwanderer in Catania. Um den Bahnhof herum prägen Afrikaner und Bangladeshis einige Straßenzüge. Wie viele Migranten auf der ganzen Welt, die ganz unten anfangen müssen, haben sie kleine Läden, Schnellimbisse und Callshops eröffnet. Eine Frau aus Bangladesh führt ein winziges Internetcafé mit drei alten Computern und einer Telefonzelle für internationale Anrufe. Hinter ihr an der Wand hängt ein großes Poster, das einen riesigen Stapel Dollarscheine zeigt. Darauf steht »My first billion« – meine erste Milliarde. Wie es damit läuft? »Nicht für mich«, meint sie zu dem Poster, »vielleicht für meine Töchter. Die kommen bald in die Schule.«

Bangladeshis sind derzeit nach Nigerianern die größte Einwanderergruppe in Italien. Viele von ihnen waren schon vor Jahren nach Libyen ­ausgewandert, als das Land noch im Ölgeld schwamm und Immigranten aus der ganzen Welt anzog. Nach jahrelangem Bürgerkrieg gaben sie die Hoffnung auf Frieden auf und flohen nach Italien. Andere reisen von Bangladesh nach Libyen, um eine Chance zu erhalten, nach Europa zu kommen. Viele unterwerfen sich einer jahrelangen Schuldknechtschaft, um die Kosten für ihre Reise abzuarbeiten.

So geht es vielen jungen Frauen aus Westafrika. Menschenhandel und Zwangsprostitution seien ein großes Problem, erzählt Borghia, vor allem für nigerianische Mädchen. Viele seien noch minderjährig, würden aber dazu gezwungen, dies den Behörden zu ­verheimlichen. Auch Hilfsorganisationen haben es schwer, diese Frauen zu erreichen.

Im Rotlichtviertel von Catania, zwischen dem Bahnhof und der schicken Innenstadt gelegen, scheinen die wenigsten Prostituierten einen Migrationshintergrund zu haben. In den engen Straßen des halb verfallenen Viertels sitzen sie auf Stühlen und warten auf Kundschaft. Dazwischen hängen junge afrikanische Männer herum. Ein paar verkaufen Drogen – oder »was immer du willst« –, die meisten verbringen dort nur ihre Zeit. Ousman* kommt mit dem Fahrrad angeradelt, er ist bestens gelaunt und spricht gut Deutsch. »Hey, du kommst aus meinem Land,« sagt er. Ursprünglich aus Gambia, lebt er seit fast zwei Jahren in Berlin. In Catania sei er, um seine Papiere »in Ordnung zu bringen«. Er ist nicht der einzige in Deutschland lebende Flüchtling, den man in Catania treffen kann, weil er dort seine Aufenthaltserlaubnis erneuern muss.

Rotlichtviertel

Warten auf Kundschaft. Prostituierte im Rotlichtviertel von Catania

Bild:
FRANCESCA LA FRANCA

Einmal durch die Hölle
Auf Journalisten, besonders auf Fotografen, sind die Jungs im Rotlichtviertel nicht gut zu sprechen. Einer von ihnen gibt schließlich zu verstehen, man solle besser gehen. Andrew* ist 21 Jahre alt, mit seiner schmalen Statur und ­seinen weichen Gesichtszügen sieht er sogar noch jünger aus. Er ist zurück­haltend, will aber seine Geschichte erzählen. Dafür verlässt er das Viertel und geht bis zur Piazza Teatro Massimo, wo es schicke Bars und Cafés gibt und wo sich abends, etwas abseits, auch viele junge Migranten aufhalten. In Catania habe er eine Wohnung, die er sich mit ein paar anderen teile, sagt Andrew. Er arbeite, wenn er etwas finde, »Drecksjobs« seien das, vor allem in Hotels. Sein Vater komme aus Angola, seine Mutter aus Gambia, aber beide seien vor Armut und Bürgerkrieg nach Libyen geflohen. Er sei Sabha in Westlibyen geboren, das mittlerweile berüchtigt ist, weil die Flüchtlinge von dort die schlimmsten Geschichten mit nach Europa bringen. Seine Eltern seien noch dort. Kontakt zu ihnen habe er nur selten. »Soziale Medien und Internet gibt es da nicht so wirklich«, so Andrew.

Weil seine Eltern kein Geld für die Schule gehäbt hätten, hätten sie ihn in den Norden des Landes in die Küstenstadt Sirte geschickt, um eine Ausbildung zum Automechaniker zu machen. »Dort war ich, als der Krieg ausbrach. Am Anfang sagten alle, es wäre bald vorbei, also blieb ich dort. Zweimal haben mich bewaffnete Milizen eingesperrt. Sie wollten Lösegeld und drohten, mich umzubringen.« Beide Male konnte er entkommen, irgendwann habe er es nach Malta geschafft. Zwei Jahre sei er dort geblieben, dann sei seine Aufenthaltserlaubnis abgelaufen und er sei weiter nach Italien gezogen.

Andrew wirkt wie ein ganz normaler 21jähriger, er redet über alles Mögliche: darüber, wie er seine islamische Religion, aber nicht seinen Glauben verloren habe, über seine deutschen Freunde in Malta, welches Bier am besten schmecke und dass er doch lieber Wodka-Erdbeere trinke; über den Rassismus, der ihm jeden Tag begegne, und darüber, dass Menschen am Ende doch alle dasselbe wollten – in Sicherheit und frei sein. »Das Leben ist furchtbar«, sagt er, als er seine Geschichte ­erzählt hat, »es ist nicht fair.« Später am Abend möchte er in einen Reggae-Club gehen, der angeblich der beste der Stadt ist.

»Zweimal haben mich bewaffnete Milizen eingesperrt. Sie wollten Lösegeld und drohten, mich umzubringen.« Andrew, geflüchtet aus Libyen

Nur wenige der Flüchtlinge und Migranten, die Italien erreichen, stammen wie Andrew ursprünglich aus Libyen, doch über 90 Prozent kommen von dort. Um zu beschreiben, was diese Menschen dort erlebt haben, scheint sich ein Begriff eingebürgert zu haben, auf den auch Politiker und Leitartikler gerne zurückgreifen, vielleicht gerade weil man so nichts Konkretes sagen muss: »die Hölle«. Der stellvertretende italienische Außenminister Mario Giro etwa sagte, Flüchtlinge nach Libyen ­zurückzuschicken, bedeute, »sie in die Hölle zurückzubringen«. Was dahinter steckt, kann man einem aktuellen Bericht von Oxfam entnehmen, der auf den Aussagen von 158 in Sizilien angekommenen Flüchtlingen basiert. Nur eine der befragten Frauen gab an, nicht Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein. 74 Prozent gaben an, gesehen zu haben, wie ein Mitreisender gefoltert oder ermordet worden sei.

Diese Zustände, die selbst unter der von der EU unterstützten Einheitsregierung in Tripolis anhalten, sind schon lange bekannt. Doch Adriana Zega von Oxfam zeigt sich hoffnungsvoll. Dies sei ein kritischer Moment, in dem der Bericht vielleicht doch etwas ausrichten könne. Sie spielt auf die Debatte über die »Flüchtlingsfrage« an, die sich in den vergangenen Monaten in Ita­lien abspielte, besonders was die Rolle der NGOs anging.

Piazza Teatro Massimo

Rumhängen im Ausgehviertel. Junge Geflüchtete an der Piazza Teatro Massimo

Bild:
FRANCESCA LA FRANCA

Retten nicht erwünscht
Mit dem »Verhaltenskodex« für zivile Seenotretter und der Entscheidung, italienische Marineschiffe in libysche Gewässer zu entsenden, um dort die ­libysche Küstenwache zu unterstützen, hat die italienische Regierung sich klar positioniert. NGOs, die Flüchtlinge ­retten und nach Italien bringen, sind nicht länger erwünscht, stattdessen sollen Flüchtlinge nach Libyen zurückgebracht und dort eingesperrt werden. Auch die öffentliche Meinung wendete sich immer mehr gegen die NGOs.
»Man spürt diesen Druck«, sagt Claudia Hattinger, die als Ärztin zum me­dizinischen Teams des Rettungsschiffs »Prudence« der NGO »Ärzte ohne Grenzen« gehört. Das Schiff liegt für ein paar Tage im Hafen von Catania, um neue Besatzungsmitglieder und Vorräte aufzunehmen. Nebenan liegt ein imposantes spanisches Militärschiff, das zur EU-Marinemission »Sophia« gehört, die im Mittelmeer »Schlepper und Menschenschmuggel« bekämpfen soll.

»Ich mache diese Arbeit seit vielen Jahren«, sagt Hattinger. »Ich war Notärztin in Italien. Ich war in Afghanistan. Ich war beim Ebola-Ausbruch in Westafrika. Immer sagten mir alle: Super, du rettest Leben. Und jetzt bin ich hier, und wieder arbeite ich als Notärztin, und wieder retten wir Leben. Aber jetzt muss ich diese Verurteilung spüren, sogar von meinen Freunden, und ich muss mich zu diesen Vorwürfen wegen ›Menschenschmuggels‹ erklären. Noch nie zuvor musste ich meine medizinische Arbeit rechtfertigen.«

Sie zeigt auf die gelben Linien auf dem Boden, die auf dem ganzen Schiff zu sehen sind. Sie grenzen ­schmale Korridore ab, »da darf niemand sitzen.« 600 Menschen könne das Schiff maximal aufnehmen, doch es seien auch schon einmal weit über 1000 gewesen. Fast immer seien kleine Kinder oder Neugeborene an Bord. Ein kleiner Raum wurde für sie eingerichtet und kindergerecht dekoriert.

»Es ist eine riesige Herausforderung«, sagt die Psychologin Frieda Andernach über ihre Arbeit. Sie ist an Bord zuständig für »psychologische erste Hilfe«, wie sie sagt. »Wenn wir Hunderte Menschen an Bord haben, ist es unmöglich, ihnen allen zu helfen.« Doch oft verbringe man bis zu zwei Tage mit den »Gästen«, wie sie die geretteten Flüchtlinge nennt, und dann säßen die Menschen dort, verunsichert und ängstlich und mit all ihren Erfahrungen. »Manchmal fühlt es sich dann an, als sei man in einem Vakuum, und man hat viel Zeit zum Reden.«
Bald werde man wieder losfahren, sagt zum Abschied Carolina Monte­negro, die für die Medienarbeit der Rettungsmission von Ärzte ohne Grenzen zuständig ist und oft selbst auf der »Prudence« mitfährt. »Wir warten auf besseres Wetter, deshalb dauert es diesmal etwas länger.«

Am Festland ist von den hohen Wellen vor der libyschen Küste wenig zu spüren. Die Hitzewelle »Luzifer« beschert Südeuropa seit Tagen schon Temperaturen von bis zu 36 Grad im Schatten, selbst spät nachts ist es noch furchtbar heiß. Der Reggae-Club, in den Andrew geht, liegt ziemlich weit draußen, aber direkt am Meer. Es gibt Wodka-Erdbeere, es wird getanzt, die Gäste bleiben lang. Im nahegelegenen Wasser kann man sich etwas abkühlen. Am Strand steht ein Sicherheitsmann, der aufpasst, dass niemand zu weit in die Wellen geht. Das sei nachts zu gefährlich, sagt er, da könne man leicht ertrinken.

Zwei Tage später kommt die Nachricht, dass die »Prudence« keine weiteren Einsätze mehr fahren wird. Die ­Sicherheit sei nicht mehr zu garantieren. Die italienischen Behörden hatten gewarnt, dass die libysche Küsten­wache, die von der EU mit insgesamt 90 Millionen Euro finanziert wird, die NGOs sogar in internationalen Gewässern angreifen könnte, sollten ­diese versuchen, Flüchtlinge zu retten. Etwa zur selben Zeit veröffentlichte Frontex neue Erkenntnisse: Die Zahl der Flüchtlinge, die aus Libyen nach Italien entkommen konnten, sei im Vergleich zum Vormonat um 57 Prozent gesunken. Der italienische Innenminister Marco Minniti sagte, man sehe in der »Flüchtlingsfrage« endlich »Licht am Ende des Tunnels«.
 

* Name von der Redaktion geändert.