Die »Logistifizierung« von Flucht und Migration

Digitale Mobilität, Logistik und Migration

Digitale Kommunikation und soziale Medien sind für Menschen, die auf der Flucht sind, überlebenswichtig. Sie geben ihnen die Möglichkeit, sich individuell und kollektiv zu schützen und Widerstand zu organisieren. Doch auch Staaten nutzen die neue Logistik der Kommunikation, um ihre Grenzregime zu festigen.

Die Geschichte von Mohammad Khalefe, der 2015 aus Syrien nach Deutschland kam, könnte die Geschichte vieler sein, die in den vergangenen zwei Jahren nach Europa flohen. Auf der 5. Social Media Week in Hamburg erzählte der mittlerweile 19jährige von seiner über zweiwöchigen Reise durch zehn europäische Länder – zu Fuß, auf dem Boot, im Bus, im Zug und Auto. »Ohne Facebook und Google Maps wäre ich, glaube ich, nicht in Deutschland angekommen«, berichtete er. In seinem Vortrag betonte er, wie wichtig für ihn und viele andere der regelmäßige Austausch von Informationen in einem Netzwerk von Freunden, Bekannten und Helfern war. Die Nutzung digitaler Technologien durch Flüchtlinge ist mittlerweile ein relativ gut untersuchtes Feld in der Migrationsforschung.

In der Ausgabe Nr. 4 des Magazins Spheres (spheres-journal.org), die einen Schwerpunkt zum Thema »Medien und Migration« hat, geht Maria Ullrich in ihrem Beitrag »Media Use During Escape« auf die Bedeutung der Nutzung digitaler Medien durch Migranten und Flüchtlinge ein, die 2015 über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland und Österreich kamen. ­Damals, während des »Sommers der Migration«, verbreiteten sich die Bilder von Bürgerinnen und Bürgern, die ankommende Flüchtlinge an den Bahnhöfen willkommen hießen, schnell über die sozialen Medien. »Migrationskritiker« prangerten dies an: Es seien unter anderem solche Bilder, die noch mehr Menschen nach Europa »locken« würden.

Ausgehend von dieser Beobachtung und dem Ansatz der »Autonomie der Migration« – der Flüchtlinge als handelnde Subjekte betrachtet, die nicht bloß auf Reize reagieren – beleuchtet Ullrich, wie durch die aktive Nutzung digitaler Technologien und sozialer Medien selbstbestimmtes individuelles wie kollektives Handeln während und nach der Flucht gestärkt oder überhaupt ermöglicht werden kann. Mit Begriffen wie connected migrant (Dana Diminescu, 2015), mobile commons und migrant digitalities (Dimitris Parsanoglou, Nicos Trimikliniotis und Vassilis Tsianos, 2015) beschreibt die Migrationsforschung, wie die Verschränkung digitaler und geographischer Mobilität den Prozess der Flucht und die daran beteiligten Subjekte verändert. Aus dieser Perspektive werden Migrationsbewegungen »als kollektive Prozesse« untersucht, »die durch den Austausch und die Vernetzung unter Gruppen ermöglicht werden«.

Was hat das alles mit der Logistik zu tun? Die Rede ist hier von logistischen Technologien und Infrastrukturen in Bezug auf die Nutzung von Smartphones und sozialen Netzwerken durch Flüchtlingen und Migranten. Diese Technologien spielen eine wichtige Rolle im heutigen sogenannten Plattform-Kapitalismus und sind unmittelbar mit der Logistik verknüpft. Grundsätzlich ist es wichtig zu betonen, dass die neuen Entwicklungen in der Logistik – in der Reorganisierung sowohl der globalen

Wertschöpfungsketten als auch des urbanen Raums – ein neues Mobilitätsparadigma in der Zirkulation von Waren und Informationen hervorgebracht haben, das im Mittelpunkt der gegenwärtigen Prozesse kapitalistischer Globalisierung steht. Es wird gerade erst begonnen zu realisieren, welche Auswirkungen dieses neue Paradigma auf menschliche Mobilität hat und auf die Art, wie sie verwaltet wird.

Als just-in-time- oder to-the-point-Migration könnte man die Verwirklichung einer logistischen Phantasie im Bereich der menschlichen Mobilität bezeichnen; man denke etwa an Programme für die temporäre Beschäftigung von Ausländern.

Logistifizierungsprozesse gestalten auch das Grenzregime neu, wie es in Europa der Fall ist. Man denke etwa an die Relevanz von Begriffen wie »Hotspot«, »Korridor«, »Plattform« oder »Hubs« in jüngsten Versuchen, die europäischen Grenzen nach dem »Sommer der Migration« 2015 neu zu ordnen. Was wie ein reibungsloser Prozess der Selektion und Verwaltung von Flucht- und Migrationsbewegungen präsentiert wird, hat in Wirklichkeit unhaltbare menschliche Kosten. Hinzu kommt, dass dieses System nur durch strenge Kontrolle und Bestrafung von Formen »ungehorsamer« Mobilität aufrechterhalten werden kann. Es ist extrem wichtig, die repressiven Aspekte politisch zu thematisieren und zu kritisieren. Genauso wichtig ist es, die Natur der neuen logistischen Rationalität zu begreifen und zu untersuchen, welche Rolle sie in der Reorganisation des europäischen Grenzregimes hat. Die aktive Nutzung von Technologien und Netzwerken durch Flüchtlinge und Migranten in diesen Rahmen einzubetten, bedeutet, den Fokus auf Praktiken der Selbstermächtigung zu richten, die diese Rationalität in Frage stellen.

In ihrer Analyse unterscheidet Ullrich zwischen »sichtbaren« und »unsichtbaren« Formen migrantischen Handelns, die jeweils eine politische und eine taktische Dimension haben. Praktiken, die darauf abzielen, sich gegenüber der Staatsmacht und anderen Kontrollinstanzen unsichtbar zu machen, sind fester Bestandteil migrantischen Alltags, sowohl während der Flucht als auch danach, bei der Bewältigung des Lebens, nach der Ankunft in einem fremden Land – ganz besonders, wenn die Illegalisierung droht. Soziale Medien und Smartphones werden auf der Flucht nicht nur für die Kommunikation benutzt, sondern sie können im schlimmsten Fall verkauft, ausgetauscht oder als Pfand benutzt werden, um Geld zu bekommen, das zu einem späteren Zeitpunkt zurückbezahlt wird. Oder sie können im Umgang mit Schleppern nützlich sein, zum Beispiel wenn die Schlepper den Flüchtlingen versprechen, sie nach Italien zu bringen und sie stattdessen in die Türkei absetzen. Mit Hilfe von GPS, Smartphones, WLAN-Hotspots und sozialen Netzwerken können Flüchtlinge sich besser gegen solche Betrügereien schützen, orientieren und Kontakte zu unterstützenden Personen oder Gruppen finden. Um es mit Vassilis Tsianos zu formulieren: »Handys sind kleine mobile Banken.«

Medienkompetenz und Mediennutzung können Flüchtlingen und Migranten im Verhältnis zur derzeit boomenden »Industrie der Migration« Verhandlungsspielräume eröffnen. Mit »Industrie« ist hier ein System gemeint, das sowohl Akteurinnen und Akteure miteinbezieht, die Flüchtlinge mit Expertise und Infrastruktur versorgen, um Grenzen zu überqueren, als auch staatliche Instanzen, die genau diese Infrastruktur bekämpfen und deren Aufgabe die Grenzsicherung und Einschränkung von Mobilität ist.

Neben Formen taktischen, unsichtbaren Agierens gibt es verschiedene Formen politischen Handelns, die potentiell ein hohes Maß an Sichtbarkeit haben oder, vor allem durch die schnelle Verbreitung in sozialen Netzwerken, erreichen können. Der »Marsch der Hoffnung« vom Keleti-Bahnhof in Budapest zur ungarisch-österreichischen Grenze Anfang September 2015 ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür: Der Hashtag #marchofhope wurde damals viral. Die flüchtlingspolitischen Entscheidungen in Österreich und Deutschland wurden damals nicht zuletzt durch die Bilder der Tausenden Menschen beeinflusst, die sich zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Wien gemacht hatten. Ein weiteres Beispiel sind die Aktivisten der Organisation »Alarmphone/Watch the Med«, die Rettungsaktionen für in Seenot geratenen Bootsflüchtlinge überwacht und koordiniert. Die Aktivisten nutzen hier die Smartphones als Mittel, migrantische Kämpfe auf dem Meer zu politisieren. Die Verbreitung dieser Geräte unter Migranten und Flüchtlingen bedeutet, ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich zu politisieren, indem sie Technologie, lokalisiertes Wissen und militante Aktionen miteinander verbinden.

Die »Autonomie der Migration« findet ihren Ausdruck an der Verbindungsstelle zwischen sichtbaren und unsichtbaren, politischen und taktischen Formen politischen Handelns. Die Nutzung von Smartphones und ­sozialen Medien durch Migranten und Flüchtlinge findet innerhalb des Grenzregimes und gegen dieses statt. Es wird immer mehr »logistifiziert«, digitalisiert und militärisch gesichert. Die zunehmende Verschränkung zwischen technologischen Geräten und mensch­licher Mobilität spiegelt breitere gesellschaftliche Entwicklungen wider und ist ein Feld, in dem Widerstand organisiert werden kann.

Der Autor lehrt Theorie der Politik an der Universität von Bologna, Italien, und war im vergangenen Jahr Fellow am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität.

Überarbeitete Fassung des Beitrags »Digital Mobility, Logistics, and the Politics of Migration«, Juni 2017

Aus dem Englischen von Federica Matteoni.