Gideon Remez, Journalist, im Gespräch über die Rolle der Sowjetunion in den Kriegen zwischen Ägypten und Israel

»Sowjetische SAM-Raketen wurden zum Abschuss israelischer Flugzeuge benutzt«

Gideon Remez ist ein israelischer Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Truman Institute der Hebrew University of Jerusalem. Zusammen mit seiner Kollegin Isabella Ginor veröffentlichte er am 1. August das Buch »The Soviet-Israeli War 1967–1973: The USSR’s Military Intervention in the Egyptian-Israeli Conflict« (Hurst (UK)/Oxford University Press (USA), 2017), das sich mit der Rolle der Sowjetunion in den Kriegen Ägyptens gegen Israel beschäftigt. Ihr vorher gemeinsam publiziertes Buch »Foxbats over Dimona: The Soviets’ Nuclear Gamble in the Six-Day War« (Yale University Press 2007) gewann die silberne Medaille des Washington Institute for Near East Policy.
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Ihr neustes Buch trägt im Titel die Worte »der sowjetisch-israelische Krieg«. Ist diese Bezeichnung nicht etwas übertrieben? Es ist bekannt, dass die UdSSR Ägypten im Konflikt mit Israel unterstützt hat. Aber gab es direkte Kämpfe zwischen sowjetischen und israelischen Kräften in einer solchen Intensität und Dauer, dass man wirklich von einem Krieg sprechen kann?
Genau diesen Beweis führen wir und deswegen widerlegt unser Buch radikal  die gängige Meinung über diese Periode. Die Präsenz sowjetischer Militärangehöriger in Ägypten wird in der Regel auf ihre Rolle als »Berater« oder »Techniker« beschränkt. Doch der oberste Ratgeber, ein Generalleutnant, war auch »Befehlshaber der Gruppe sowjetischer Kräfte«. Während dieser Periode waren mehr als 50 000 sowjetische Soldaten in Ägypten stationiert, in vollständigen Einheiten bis zu einer ganzen Luftschutzdivision. Sie verwendeten die fortgeschrittensten Waffen der Sowjetunion – von denen einige noch im Versuchsstadium und noch nicht an die Warschauer-Pakt-Verbündeten geliefert worden waren – in einem Zusammenstoß mit israelischen Truppen, was die Suez-Kanal-Front zum heißesten Schauplatzes des Kalten Kriegs machte. Deswegen denken wir, es war nicht weniger als ein sowjetisch-israelischer Krieg. Dies war das einzige Mal, dass Israel direkt gegen eine globale Supermacht aufgestellt war.

Das wird auch in den Memoiren der daran beteiligten sowjetischen Veteranen bestätigt. Wir waren die ersten, die diese Erinnerungen als Quellen historischer Forschung im Westen einführten. Diese Schriften erschienen erst nach dem Niedergang der Sowjetunion, als Teil der Bemühung dieser »internationalistischen« Soldaten, als Veteranen anerkannt zu werden, und auch um ihre in diesem Krieg gefallenen Kameraden zu ehren. Ihnen wurde diese Anerkennung verweigert, weil die UdSSR nie eingestanden hat, ein Expeditionskorps in Ägypten stationiert zu haben.

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Waren jene Soldaten wirklich so bedeutend? Wie kann man sichergehen, dass ihre Aussagen wahr sind?
Natürlich ist das nicht die einzige Quelle, auf die wir uns verlassen. Wir haben in den vergangenen 20 Jahren Berichte dieser Veteranen gesammelt. Ihre Anzahl und die geschilderten Einzelheiten genügen, um eine Gegenprobe zu erstellen. Wir vergleichen diese aber auch mit den in letzter Zeit zugänglich gemachten israelischen, US-amerikanischen und anderen Quellen. Zum Beispiel wurden viele Zeugenaussagen vor einer israelischen Untersuchungskommission über die katastrophal mangelnde Vorbereitung auf den Yom-Kippur-Krieg erst unlängst freigegeben. Wir mussten uns durch Tausende Seiten arbeiten, die wichtige Informationen enthielten. Wir konnten auch ansonsten unzugängliche ägyptische Dokumente einsehen, die von Israel während des Krieges 1973 gefunden wurden.

Gideon Remez

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David Rubinger

Insgesamt waren die Berichte der sowjetischen Veteranen bemerkenswert zuverlässig; zum Beispiel erwiesen sich Tagebücher, die damals – trotz gegenteiliger Befehle – geführt wurden, als genauer als Memoiren, die Jahrzehnte später verfasst wurden. In der Regel berichteten die Veteranen genau darüber, was sie taten oder sahen. Was ihnen aber ihre Vorgesetzten oder politruks (politische Offiziere) sagten über Dinge, die die Soldaten nicht wissen konnten, ist eine andere Sache. Letzteres ist dahingehend interessant, als dass es den Kalten Krieg widerspiegelt. So wurde ihnen erzählt – was sie auch glaubten –, dass die israelischen Flugzeuge, gegen die sie kämpften und die sie manchmal abschossen, von US-Piloten oder Söldnern geflogen würden – eine Propagandalüge. Aber ihre Beschreibungen von Kämpfen stimmten mit den israelischen Versionen überein.

Welchen Einfluss hatten die Sowjets auf das Ergebnis der Kämpfe?
Sie haben diese zu einem hohen Grad bestimmt. Die von uns behandelte Zeitspanne wird üblicherweise in drei unterschiedliche Kriege geteilt: den Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967, den Abnutzungskrieg von März 1969 bis August 1970 und den Yom-Kippur-Krieg im Oktober und November 1973. Wir sehen die drei als einen fortlaufenden Konflikt mit verschiedener Intensität. Das von Ägypten 1967 erlittene Debakel, der Verlust des Sinai an Israel, war sowohl ein größerer Rückschlag für seinen Schirmherrn, die UdSSR, als auch eine Schmach für den Ruf sowjetischer Waffen. So beschlossen beide Staatsführungen binnen weniger Tage – jede aus eigenen Motiven –, die Rechnung lieber mit einer militärischen Revanche als mit einer politischen Vereinbarung mit Israel zu begleichen. Die Planung, die Ausbildung und Wiederaufrüstung wurden systematisch betrieben, bis die Vorbereitungen abgeschlossen und die Bedingungen reif waren.

Israel und insbesondere die Regierung Golda Meir (1969–1974) werden oft beschuldigt, ägyptische Initiativen für eine zumindest provisorische Lösung, die den Krieg 1973 verhindert hätte, ignoriert zu haben.
Israel kann nicht aus der Verantwortung genommen werden, da es keine eigenen Initiativen verfolgt beziehungsweise den Bluff der Ägypter nicht entlarvt hat. Das lag zum Teil an Selbstüberschätzung nach dem Sieg 1967. Doch wie wir herausgefunden haben, verschleierte das vermeintliche Tasten nach Frieden meist Kriegsvorbereitungen. Der Abnutzungskrieg wurde zum Beispiel als Teil dieser Vorbereitungen Ägyptens auf eine endgültige Offensive um den Suez-Kanal geführt. Nachdem die Ägypter erfolglos geblieben waren, begann eine großangelegte sowjetische Intervention (deren Codenamen, »Operation Kawkaz«, wir als erste im Westen dokumentierten), die in wenigen Monaten ihr Ziel erreicht hatte. Sowjetische SAM-Raketen wurden in nicht aufrecht zu erhaltender Häufigkeit zum Abschuss israelischer Flugzeuge – mitsamt deren unersetzbarer Besatzung – benutzt. Israel musste im August 1970 nicht nur einen Waffenstillstand akzeptieren, auch konnten das Land und die USA nichts tun, als die Sowjets und Ägypter die SAM-Batterien zum Suez-Kanal und in den Sinai brachten und so für Israel eine Flugverbotszone schufen. Das war eine wesentliche Vorbedingung für die den Suez-Kanal überquerende ägyptische Offensive, die drei Jahre später in Absprache mit der Sowjetunion und mit deren voller Unterstützung durchgeführt wurde.

Wies der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat im Juli 1972 nicht die sowjetischen Ratgeber aus?
Das ist ein anderer Mythos, der in unserem Buch widerlegt wird: dass dank der Entspannung im Verhältnis zu den USA die UdSSR Ägypten die Waffen für einen Angriff auf Israel verweigert habe. Dies soll angeblich einen Streit mit Sadat ausgelöst haben, der die Sowjets rausgeworfen und sich den USA angenähert habe. Doch wir beweisen, dass das nie geschehen ist. Die sowjetischen Angriffswaffen wurden weiter geliefert. Tausende sowjetische Soldaten verließen Ägypten 1972, doch das waren eingezogene Soldaten der sowjetischen Expeditionstruppen, die ihre Arbeit beendet hatten und freundschaftlich repatriiert wurden. Das war nach monatelangen Verhandlungen nicht nur zwischen Ägypten und der Sowjetunion, sondern auch mit den USA unter Henry Kissinger vereinbart worden. Die sowjetischen Ratgeber bei der ägyptischen Armee blieben, um weiter an den gelieferten Waffen für die Offensive auszubilden. Sowohl die eigenen Berichte der Sowjets als auch ägyptische Dokumente belegen dies schlüssig. Die Ausweisungs-Ente wurde mittels eines raffinierten Täuschungsmanövers gestärkt, das in unserem Buch detailliert beschrieben wird. Zwei der Hauptschuldigen für die Verbreitung dieser fake news und deren folgender Etablierung als fake history waren Kissinger und der ägyptische Propagandist Mohammed Hassanein Heikal.

Sie haben die Rolle der USA erwähnt. Die Geschichte ähnelt der heutigen Entwicklung, dass Russland nach Syrien zurückkehrt und die USA kaum darauf reagieren.
Tatsächlich ähnelt Russlands Vorgehen in Syrien, um sich Marine- sowie Luft und Landstützpunkte zu sichern, sehr dem der Sowjetunion in Ägypten während der sechziger und siebziger Jahre, mit den notwendigen Änderungen. Wenn es um einen Machtstützpunkt im Mittelmeer gegenüber der sechsten Flotte der USA geht, sind die syrischen Häfen Latakia und Tartus heute das, was seinerzeit die sowjetischen Stützpunkte Alexandria und Port Said darstellten. Die politische Propaganda ähnelt sich ebenfalls. Aber der Fokus auf Syrien lenkt die Aufmerksamkeit auch von der Wiedererrichtung russischer Militärpräsenz in Ägypten ab. Sadat wandte sich nach dem Krieg 1973 gegen die Sowjetunion, als er die USA für den Frieden brauchte wie seinerzeit die UdSSR für den Krieg. Doch zumindest zwei der alten sowjetischen Basen wurden von Russland im vergangenen Jahr reaktiviert, bislang in einem bescheidenen, jedoch nicht zu vernachlässigenden Rahmen.