Rezension: »Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariat«

An einer revolutionären Ästhetik arbeiten

Patrick Eiden-Offes historisch-materialistische Literaturtheorie des Vormärz bietet Anknüpfungspunkte für die Gegenwart.

Die deutsche Romantik steht eigentlich nicht im Verdacht, sonderlich subversiv zu sein. Eher schien ihr häufig aufs Altdeutsche, Mittelalterliche und Fabulöse gerichtetes Interesse an den Rändern zum Völkischen zu tendieren, was immer mal wieder konservativ-reaktionäre Kreise dazu veranlasste, die Romantik für sich zu reklamieren. Sicher, speziell die schwarze Romantik eines E. T. A. Hoffmann – auf den Magnus Klaue in ­seinem Essay mit Recht verwies – verlieh dem Dunklen und den Abgründen menschlicher Existenz einen suggestiven ­literarischen Auftritt. Doch so sehr das die wohlanständige Welt philisterhafter Bürgerlichkeit auch konterkarieren mochte, direkt politisch war das nicht.
Patrick Eiden-Offe hat ausgerechnet bei Ludwig Tieck sozialrevolutionäre Spuren entdeckt. Das ist insofern nicht erstaunlich, als der bekannte Dichter von »Der blonde Eckbert«, einer paradigmatischen Märchen­novelle der Frühromantik, in seinem Spätwerk durchaus historisch-kritische Positionen einnahm, etwa in Büchern wie »Der Hexensabbat« oder »Der Aufruhr in den Cevennen«, die auf ausgiebigen Quellenstudien beruhten.

Eiden-Offe zeigt am Beispiel der umfangreichen Novelle »Der junge Tischlermeister«, wie Tieck Pauperisierung und Proletarisierung der kleinen Handwerker im Vormärz prognostisch erfasst. Zwar stellt er dieser sich stetig verschlechternden Gegenwart im für die Romantik typischen Rückblick eine vermeintlich bessere Vergangenheit gegenüber, die vor­kapitalistische Zeit des Zunftsystems. Doch Tieck verharrt nicht in Nostalgie, sondern er schildert die Spätfolgen der preußischen Gewerbefreiheit von 1810 für Arbeitsorganisation und Selbstverständnis der arbeitenden Menschen minutiös und schafft ­damit die Basis für theoretische Fortentwicklungen.

 

Die undeutliche »Poesie der Klasse«

Tieck, der selbst einer Handwerkerfamilie entstammte, dient Eiden-­Offe als ein Zeuge seiner »Poesie der Klasse«, die, wie er an den Hegelianer Eduard Gans anschließend ausführt, in der ökonomischen Prekarität, der »stets gegenwärtigen Möglichkeit des wirtschaftlichen Untergangs« bestehe. Und diese zeichne eben das ­Industrieproletariat aus, das nur durch den Verkauf seiner Arbeitskraft überleben könne, aber nicht nur dieses: Eiden-Offe plädiert dafür – das hat Magnus Klaue in seinem Beitrag vielleicht etwas zu harsch kritisiert –, die Arbeiterklasse im Frühkapitalismus nicht als homogene, klar um­rissene Klientel, die Industriearbeiterschaft, anzusehen, sondern als eine sehr polymorphe Gruppe von Menschen in prekären Verhältnissen, ­darunter eben auch verarmte selbständige Handwerker wie Schneider oder Schuster, Tagelöhner, das so­genannte Lumpenproletariat, ja selbst Lohnschriftsteller, wie sie etwa Ernst Dronke in seiner Erzählung »Die Sklaven der Intelligenz« (1846) beschrieben hat. Die Parallele zur heutigen Situation drängt sich auf, ­obwohl Eiden-Offe Spekulationen, man könne aus dem heutigen Pre­kariat eine effektive Kraft gegen die Hegemonie des Kapitals formen, eine deutliche Absage erteilt. Immerhin räumt er ein, dass in diesem Kontext »Kohärenzlinien einer aktuellen Poesie der Klasse« zu suchen seien.
So sehr dieser Begriff, die »Poesie der Klasse«, im Zentrum der Untersuchung steht, so seltsam undeutlich bleibt er.

Einerseits bezeichnet er dissidente literarische Positionen, also widerständige Texte, und damit ­Poesie im buchstäblichen Sinne, ­andererseits geht es um die eher metaphorische Poesie, die sich in bestimmten Widerstandsfiguren oder auch Lebensäußerungen von Proletariern entfalte. Eiden-Offe erwähnt beispielsweise das Blumenfest der englischen Arbeiter, wie Georg Weerth es beschrieben hat – im eigentlichen Sinne keine Kampfform, aber Ausdruck eines bestimmten ­ästhetischen Klassenselbstbewusstseins.

Wahrscheinlich geht dieses schillernde Begriffsverständnis auf die ebenfalls etwas nebulöse Vorstellung Eiden-Offes einer »Klasse als Figur« zurück, die in einem Spannungsfeld verschiedenster kultureller, politischer oder theoretischer Geltungsansprüche wenigstens erzählt werden könne, selbst wenn sich dazu noch keine feste Definition oder gar politische Formation abzeichne. Vielleicht ist diese terminologische Oszillation indes gar nicht so schlecht, um auch heute von »Klassenverhältnissen« überhaupt sprechen zu ­können.

Die Parallele zur heutigen Situation drängt sich auf, obwohl Eiden-Offe Spekulationen, man könne aus dem heutigen Prekariat eine effektive Kraft gegen die Hegemonie des Kapitals formen, eine deutliche Absage erteilt.

In diesem Zusammenhang kommt üblicherweise die Frage auf, ob Lite­ratur das richtige Medium sei, komplexe soziale Zusammenhänge, die Bedingungen für die Armut der Vielen und den Reichtum der Wenigen, zu analysieren. Eiden-Offe demonstriert, dass diese Problematik im Vormärz nicht weniger virulent war als heute. Während konservative Kritiker – damals wie heute – die Literatur befreit sehen wollen von jedem äußeren Joch (so als stehe sie nicht in einer Gesellschaft und handle nicht notwendig auch immer von ihr), gab und gibt es stets auch auf Seiten der Linken Zweifel an der Tauglichkeit oder der richtigen Gesinnung kritisch gemeinter Literatur. Im Vormärz hatte sich besonders Friedrich Engels mit Essays voller scharfer Satire gegen seiner Ansicht nach weltanschaulich ungenügende literarische Ansätze gestellt, etwa ­gegen die »wahren Sozialisten« oder den Förderer des »Jungen Deutschlands«, Alexander Jung, über den er schrieb: »Es gibt bei jeder Bewegung, bei jedem Ideenkampfe eine gewisse Art verworrner Köpfe, die sich nur im Trüben ganz wohl befinden.

 

Eine ­politische Poetik der Gegenwart

Solange die Prinzipien mit sich selbst noch nicht im Reinen sind, lässt man solche Subjekte mitlaufen; solange jeder nach Klarheit ringt, ist es nicht leicht, ihre prädestinierte Unklarheit zu erkennen. Wenn aber die Elemente sich scheiden, Prinzip gegen Prinzip steht, dann ist es an der Zeit, jenen Unbrauchbaren den Abschied zu geben.«

Diese Rigorosität lässt sich auch heute nutzbar machen. Wir leben in einer Phase, in der die Begriffe überaus verschwommen sind. Verwunderlich allein schon, was gemeinhin unter »Gesellschaftskritik« oder »politisch engagiertem Schreiben« verstanden wird. Wenn ein »Tatort« im Berber-Milieu spielt, aus ­einem Einzelschicksal Spannungsfunken schlägt, wenn eine Autorin die traurige Geschichte eines Flüchtlings erzählt, ohne jede Kontextualisierung, dann ist es durchaus fruchtbar, einmal auf Engels’ kritische ­Poetik zu schauen. Nach seiner Forderung, geäußert in der Polemik »Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa« (1846/47), gelte es, »einzelne zu erzählende Fakta an allgemeine Verhältnisse anzuknüpfen und ihnen dadurch die frappante, bedeutende Seite abzugewinnen«. Es reiche nicht aus, »einzelne Unglücksfälle oder soziale Casus in ein trockenes und langweiliges Register einzutragen«.

Das Einzelschicksal nämlich bleibt eine wertlose Randnotiz, die, wenn wir davon hören, vielleicht einen kurzen mitleidigen Schauer erregt, aber bestimmt keinen Denkprozess anregt. Wichtig ist vielmehr die Anbindung an die gesellschaftliche Konstellation, die solche unglücklichen Verläufe, die eben nicht Einzel-, sondern Kollektivschicksale sind, überhaupt erst hervorbringt. Erst dann wird die »frappante, bedeutende Seite« daran klar, und zwar die, dass ein solches Los keineswegs Zufall oder individuelles Pech ist, sondern System besitzt. Thomas Melles hochgelobter Roman »3 000 Euro« etwa, dem nachgesagt wurde, er beschäftige sich so überaus kritisch mit dem Hartz-IV-Milieu, fehlt bei näherem Hinsehen genau diese Anbindung ans Allgemeine. Wir erfahren fast nichts über die sozialen Hintergründe der beiden Hauptpersonen, darüber, wie sie so geworden sind, wie sie sind, wieso sie keine andere Chance bekamen oder wahrnehmen konnten.

Rolle und Erscheinungsbild der zeitgenössischen Literatur kritisch zu hinterfragen, dafür liefert Eiden-­Offes »Sozialgeschichte mit Möglichkeitssinn« mannigfaltige Ansätze. Von den sozialen Zumutungen heute beziehungsweise ihrem bewussten Ausschluss aus dem Themenkreis der deutschen Literatur zu erzählen, in Absetzung und Negation, kann allein schon Teil einer »Poesie der Klasse« sein. Zudem könnte sich aus den konstruktiven Beispielen, die Eiden-Offes Buch behandelt, auch eine ­politische Poetik der Gegenwart extrapolieren lassen. Je mehr das literarische Feld sich heute von der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit des Gros der Menschen abkoppelt, desto dringlicher ist es geboten, an ­einer solchen revolutionären Ästhetik zu arbeiten.

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die ­Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 462 Seiten, 30 Euro