Martina Michels, »Die Linke«, im Gespräch über europäische Sanktionen gegen die Türkei

»Die Türkei ist mehr als nur Erdoğan.«

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In der Europäischen Union wird immer wieder über den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nachgedacht. Zuletzt wurde jedoch deutlich, dass die wenigsten Mitgliedsländer dazu bereit wären. Ist der Abbruch dennoch ein realistischer Schritt?
So ein Abbruch würde einen Beschluss aller Staats- und Regierungschefs voraussetzen. Es müsste also eine Einstimmigkeit bestehen, von der bereits absehbar ist, dass sie nicht zustande kommt. Es ist eher ein vorgeschobenes Lösungsangebot, von dem man schon vorher weiß, dass es nicht funktionieren wird.

Ist ein Abbruch überhaupt wünschenswert?
Wir würden einen schweren Fehler begehen, wenn wir die Beitrittsverhandlungen jetzt abbrechen würden. Die Türkei ist mehr als nur Erdoğan. Die Hälfte der türkischen Bevölkerung hat sich schließlich gegen das Referendum ausgesprochen. Es gibt oppositionelle Kräfte in der Türkei, mit ihnen müssen wir auch weiter zusammenarbeiten. Wir sollten nicht noch eine Vorlage für Erdoğan liefern, damit er sich als Märtyrer aufspielen kann. Einzige Ausnahme wäre die Einführung der Todesstrafe. An diesem Punkt hätte Erdoğan eine Linie überschritten. Dann wäre auch ein Beitritt nicht mehr möglich.

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Martina Michels ist seit 2013 Mitglied des Europaparlaments für die Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke. Sie ist Mitglied der Linkspartei und stellvertretendes Mitglied der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU – Türkei. Mit der ›Jungle World‹ sprach sie über den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Sanktionsmöglichkeiten der europäischen Union und die Opposition in der Türkei.

Bild:
Wikipedia / gemeinfrei

Wer sind diese oppositionellen Kräfte?
Das sind Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International, Frauenrechtsorganisationen, Wissenschaftlerinnen, diverse Vereinigungen, die ja auch alle von Verhaftungen bedroht sind. Man sollte dieser Opposition eine lautere Stimme verleihen. Wenn Angela Merkel in die Türkei gefahren ist, hat sie sich nur inoffiziell mit den Gruppen getroffen. Das sollte sich ändern.

Welche Möglichkeiten zur Sanktionierung hat die Europäische Union?
Ich bin für ein Einfrieren der Verhandlungen mit klaren Optionen für weitere offizielle Gespräche. Die Tür sollte man momentan allerdings nicht zuschlagen. In mehreren Fortschrittsberichten des Europaparlaments haben wir entsprechende Forderungen formuliert. In diesem Jahr hat das Europäische Parlament die Mitgliedsstaaten aufgefordert, sich für eine Aussetzung der Verhandlungen auszusprechen. Und seit einem Jahr fließen auch keine Gelder mehr in die Türkei im Rahmen der Beitrittsverhandlungen. Es fließen Gelder im Rahmen des Türkei-Deals. Die gehen allerdings an Flüchtlingsorganisationen und Projekte in der Türkei.
Wir fordern auch einen Abbruch des EU-Türkei-Deals. Derzeit ist die EU selbst ist nicht in der Lage, eine solidarische Flüchtlingspolitik umzusetzen. Das ist ein Armutszeugnis. Ausgerechnet Erdoğan wurde dann gebeten, uns die Flüchtlinge vom Leib zu halten. Dieser Deal muss gestoppt werden.

Das würde sicher drastische Folgen haben, nicht zuletzt für die Flüchtlinge in der Türkei.
Ich glaube nicht, dass dann Hunderttausende Menschen nach Europa kämen. Ein Aufkündigen des Deals würde auch nicht bedeuten, dass man in der Flüchtlingspolitik nicht weiter zusammenarbeitet. Flüchtlingsprojekte müssen natürlich weiter unterstützt werden. Der Deal ist aber deshalb so kompliziert, weil er an die Türkei noch andere Zugeständnisse beinhaltet, wie die Visaliberalisierung und die Zollunion. Diese Verknüpfung muss gelöst werden. Im Umgang mit den Flüchtlingen muss in erster Linie die EU ihre Hausaufgaben machen. Diese Frage werden wir nicht mit Hilfe der Türkei lösen können.

Gibt es noch andere Möglichkeiten für die EU zu reagieren?
Konkret müssten alle Länder aufhören, an die Türkei auszuliefern. Wie im Falle von Doğan Akhanlı und Hamza Yalçın darf den Auslieferungsbegehren nicht stattgegeben werden.
Die Türkei wurde vom Europarat, wo sie ja Mitglied ist, ins Monitoring-Verfahren zurückgestuft. Das hat offiziell verdeutlicht, dass die Türkei den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlässt. Solange dieses Verfahren läuft, sollten alle strafrechtlichen Schritte via Interpol grundsätzlich ignoriert werden.

Wie ist die Stimmung in der EU zu den Sanktionen?
Im Europäischen Parlament gibt es noch eine breite Mehrheit für die Sanktionen und für konkrete Schritte gegen die Türkei, deren Regierung den Rechtsstaat außer Kraft setzt. Inwieweit es realistisch ist, wenn diese Forderungen im Europäischen Rat, dem Gremium der Regierungsvertreter, zur Sprache kommen, ist die andere Frage. Das Parlament kann seine Positionen nicht ohne einige und handelnde Mitgliedstaaten durchsetzen. Und es gibt Staaten, die sagen: »Mit uns nicht!« Ungarn und Polen standen bisher zum Beispiel immer auf der Bremse. Aber auch Merkel und Macron müssten ihre Amtskollegen anders ansprechen.

Was wird die EU unternehmen, um Journalisten aus ihren Mitgliedsländern aus der Gewalt der Türkei zu befreien?
Die Absprachen sind bereits auf allerhöchster Ebene im Gange. Sie werden auch weiter geführt. Nur mit dem konkreten Agieren von Merkel und dem des amtierenden Außenministers wird das Problem lösbar sein.

Das hat bisher zu nichts geführt.
Nun sind das Referendum in der Türkei und die Wahl in Deutschland vorbei. Ich hoffe, dass mit der neuen Situation ein anderes Vorgehen möglich wird. Die Gesprächstür mit der Türkei darf wegen der angegriffenen Medienfreiheit nicht geschlossen werden. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt.