Nach dem Generalstreik in Katalonien sind die Fronten im Konflikt um das Unabhängigkeitsreferendum extrem verhärtet

Zögern auf der Zielgerade

Gegen das katalanische Unabhängigkeitsreferendum setzte die spanische Zentralregierung auf den brachialen Einsatz von Guardia Civil und Polizei. Der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont verzögert zunächst die Erklärung der Unabhängigkeit der Region.
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Vieles deutet auf eine weitere Eskalation im Konflikt um ein von Spanien unabhängiges Katalonien hin. Die Fronten sind extrem verhärtet, insbesondere nach den brutalen Polizeieinsätzen am Sonntag, als das Unabhängigkeitsreferendum der wirtschaftlich stärksten Region Spaniens stattfand. Am Dienstag folgte ein Protest in Form eines Generalstreiks in Katalonien.

Unter dem Motto »Wir legen das Land still« wurde die für den Export sehr bedeutende Mittelmeer-Autobahn AP-7 nach Frankreich blockiert. An den wichtigen Häfen von Barcelona und Tarragona herrschte kompletter Stillstand, mit herbeigeführt von den anarchistischen Gewerkschaften CNT und CGT. Gespalten waren die sozialistischen und kommunistischen Großgewerkschaften UGT und CCOO: Die katalanischen Regionalverbände trugen die Arbeitsniederlegung mit, die Gewerkschaftsführer in Madrid jedoch nicht. Geschäfte, Ämter und der öffentliche Verkehr waren weitgehend lahmgelegt. In Barcelona und anderen wichtigen Städten der Region strömten Menschenmassen zu friedlichen Protesten auf die Straßen. Abertausende protestierten bereits mittags an der Plaça de la Universitat in Barcelona gegen die Polizeigewalt, für den Schutz der Grundrechte und der bürgerlichen Freiheiten – unter lauten Rufen nach »Independència« (Unabhängigkeit).

Die linke Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) und die antikapitalistische Candidatura d’Unitat Popular (CUP) drängen den Regionalpräsidenten zur Unabhängigkeitserklärung.

»Wir Katalanen haben das Recht gewonnen, ein eigener Staat zu sein«, sagte der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont vom Partit Demò­crata Europeu Català (PDeCAT, einst Convergència Democrática de Catalunya) am Sonntagabend angesichts des deutlichen Wahlergebnisses für die Unabhängigkeit, das unter derartigen Umständen allerdings überaus angreifbar ist. Die Reaktion der spanischen Regierung war übertrieben und strategisch äußerst unklug. Die Bilder von wahllos prügelnden Polizisten und blutenden alten Damen gingen um die Welt.

 

Das Referendum habe »niemals stattgefunden«

Etwa 2,2 Millionen Katalaninnen und Katalanen machten dennoch von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Bei einer Beteiligung von 42 Prozent – wie bei der Volksbefragung zum Nato-Beitritt 1986 – stimmten der Wahlkommission zufolge 89 Prozent für die Unabhängigkeit, etwa acht Prozent mit »Nein«, zwei Prozent der Stimmen waren ungültig. Dem Regionalregierungssprecher Jordi Turull i Negre zufolge hielt die Guardia Civil und Nationalpolizei insgesamt 770 000 Menschen von der Wahl ab, primär durch die Beschlagnahmung von Urnen mit ausgefüllten Wahlzetteln, aber auch durch die Schließung von Wahllokalen. Vor allem das prospanische Lager boykottierte das Referendum, das das spanische Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hatte. Den Worten des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy vom rechtskonservativen Partido Popular (PP) zufolge hat es »niemals stattgefunden«.

Kataloniens Sezessionisten sehen das anders, nach Monaten der Konfrontation, mehr noch nach der erwartbaren Eskalation. »Spanien ist die Schande Europas«, kritisierte Turull die Gewalt gegen Wahlberechtigte und Wahllokale. Nach Angaben der Regionalregierung hat das brachiale Vorgehen der paramilitärischen spanischen Guardia Civil und der spanischen Policía Nacional etwa 850 Verletzte gefordert. Eine Zahl, die der PP als »große Lüge« bezeichnete, während das Innenministerium die Zahl verletzter Einsatzkräfte postwendend von 39 auf über 430 korrigierte. Kataloniens Polizei, die Mossos d’Esquadra, die unlängst dem Innenministerium in Madrid unterstellt worden war, verweigerte vielerorts den Befehl, Wahllokale mit Gewalt zu schließen.

In über 75 Prozent der Wahllokale in Schulen konnte die Schließung verhindert werden. Unter tosendem Beifall und Jubel schloss Sonntagabend um Punkt 20 Uhr das Gros der Wahllokale regulär. »Wir haben gewählt«, skandierte eine euphorische Menschenmenge von weit über 1 000 Sezessionisten auf der Straße vor dem Wahllokal in Barcelonas Stadtteil Lesseps, der Josep-Serrat-i-Bonastre-Schule. Ihre starke Präsenz am Abend diente dem Schutz der mit Stimmzetteln gefüllten Wahlurnen.

Applaus gab es auch für die vielen freiwilligen Wahlhelfer, denen die spanische Justiz bis zu 300 000 Euro Geldstrafe wegen Vergehen gegen den Schutz persönlicher Daten androhte. Marcel Jordi Dreier, 22 Jahre alt und Katalane mit deutschem Hintergrund, ist einer von ihnen. »Es war ein heftiger Tag«, sagte er. »Madrid kann uns verprügeln, bestrafen, unseren Präsidenten verhaften, aber wir lassen uns nicht aufhalten. Bis wir das Ziel, eine unabhängige Republik Katalonien, erreichen.« Er glaube nicht, dass Europa den Katalanen helfen werde, lamentierte Dreier; obwohl die spanische Regierung viele Grundrechte verletzt habe, habe sich die EU nur mäßig engagiert. Es sei aber höchste Zeit, dass die EU und ihre Partner eingriffen. Das ist der Wunsch vieler, die am Referendum teilnahmen, und vorerst auch noch des PDeCAT von Puigdemont.

Kritisch gegenüber der Abstimmung gab sich der 38jährige Jordi Alsina: »Der Wahltag markiert ein Vorher und das Danach. Die Polizeigewalt überschattet alles. Es ist ein tieftrauriger Tag.« Seine zwei Töchter, die er zum Wahllokal mitnehmen wollte, hat er aus Angst vor Tränengas und Schlagstöcken zu Hause gelassen. Er sei zwar prinzipiell für die Unabhängigkeit; sie müsse jedoch auf einem anderen Weg erreicht werden. »Dem Referendum vom 1. Oktober muss ein zweites folgen«, meint er, »eines mit allen legalen Garantien und vor allem auch mit Madrid abgesprochen.«

»Warum soll ich zwischen einer korrupten Zentralregierung in Madrid und einer korrupten katalanischen unter der einstigen Convergència entscheiden?« fragte sich hingegen die 52jährige Ester Ibáñez, eine auf Kinesiologie spezialisierte Ärztin, die in Gràcia wohnt, einem Szeneviertel Barcelonas und Hochburg der Sezessionsbewegung. Eine Meinung, die sie mit vielen teilt, die wie sie der Abstimmung fernblieben. Politisch stehe sie Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau (En Comú Podem, Podemos) nahe, die allen Verletzten kostenlos Rechtshilfe gegen die Polizei bieten will. »Beide Seiten, Madrid und Barcelona, setzen auf Konfrontation, um mit der Sezessionsfrage alle anderen brennenden Themen zu überdecken«, sagte Ibáñez. Primär gehe es um Korruptionsfälle, wie die zahllosen des PP von Rajoy oder der »Fall Pujol« um Kataloniens ehemaligen Regionalpräsidenten Jordi Pujol (Convergència), der sich bei der öffentlichen Auftragsvergabe eine »Drei-Prozent-Kommission« einbehalten hat. Bei einem mit der spanischen Regierung vereinbarten Referendum hätte Ibáñez mitgestimmt. Auch sie ist empört über die Gewaltexzesse der Polizei. »Es war grauenhaft«, sagt sie. »Aber dass Puigdemont nun die Unabhängigkeit erklären will, das ist schlichtweg absurd.«

 

Vermittlung durch die EU erwünscht

Schockiert zeigte sich die 18jährige Sezessionistin Salle Phelippes de la Marnierre Guixa: »Die Szenen der Gewalt sind unverzeihlich. Das wird man niemals vergessen. Es ist unmöglich, mit Spanien zusammenzuleben.« Endlich bekomme das Ausland mit, was hier passiere. »Ohne internationale Unterstützung haben wir keine Chance«, sagte sie.

Eine Vermittlung durch die EU strebt auch Puigdemont an. Die linke Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) und die antikapitalistische Candidatura d’Unitat Popular (CUP), die an Puigdemonts Regionalregierung beteiligt sind, drängen den Regionalpräsidenten immer vehementer zur Unabhängigkeitserklärung.

Doch am Montag spielte Puigdemont plötzlich auf Zeit. Er sagte, ein endgültiges Ergebnis des Referendums stehe noch nicht fest, es müssten noch Stimmen ausgezählt werden. Gemäß dem Gesetz der Regionalregierung zum Referendum muss das Parlament 48 Stunden nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses die Unabhängigkeit erklären.

Was dann? Die EU-affinen Katalanen müssten den Wirtschafts- und Währungsraum verlassen und das Aufnahmeprozedere in die EU beginnen, gegen das Spanien de facto ein Vetorecht hätte. Eine Hoffnung der Sezessionisten liegt in bilateralen Verträgen mit der EU, durch die sie den Status eines Quasimitglieds zu erhalten hofft. Zugleich werden Stimmen in Katalonien lauter, die auf die Anwendung des Artikels 7 der EU-Verträge pochen: Spaniens EU-Mitgliedschaft solle wegen Anwendung militärischer Gewalt durch die Guardia Civil und anderer gravierender Verletzungen der EU-Grundrechte ausgesetzt werden.

Zugleich buhlt Rajoy in Madrid erfolgreich um Unterstützung seines Juniorpartners, der rechten Partei Ciudadanos (Bürger), und des Vorsitzenden der Sozialdemokraten (PSOE), Pedro Sánchez, damit Artikel 155 der Verfassung zur Anwendung kommen kann. Damit können die katalanische Regionalregierung und das Parlament in Barcelona aufgelöst werden. Neuwahlen wären die Folge.