Elisa Gigliarelli über selbstverwaltete Betriebe in Argentinien

»Bestehende Projekte sind in ihrer Existenz bedroht«

Interview Von

Können Sie einen kurzen Überblick über die selbstverwalteten Fabriken in Argentinien geben?
Für Argentinien lässt sich sagen, dass das Phänomen der selbstverwalteten Fabriken gegen Ende der neunziger Jahre entstand und seitdem immer populärer wurde. Vor allem durch die sozialen Bewegungen, die sich im Zuge der Krise von 2001 formierten, vergrößerten und verstärkten sich die Konzepte der Selbstorganisation deutlich. Von den Beschäftigten übernommene und selbstverwaltete Fabriken sind hierbei wohl die bekanntesten Beispiele, jedoch gibt es in Argentinien weitaus mehr Projekte, die diesen Ansatz verfolgen, beispielsweise im Rahmen der solidarischen Ökonomie oder in Kooperativen, die in Zusammenhang mit der Recht-auf-Stadt-Bewegung stehen. Viele der Projekte sind darüber hinaus in solidarischen Kooperativen und Netzwerken organisiert und profitieren davon wechselseitig. Wenn wir allerdings nur über die Projekte sprechen, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern übernommen wurden, um im Kollektiv und selbstverwaltet zu arbeiten, dann gibt es der jüngsten Umfrage im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität von Buenos Aires zufolge im gesamten Land 370 Projekte dieser Art mit insgesamt etwa 16 000 Beschäftigten. Für Argentinien lässt sich definitiv sagen, dass die Übernahme von Produktionsstätten seitens der Beschäftigten eine populäre politische Praxis geworden ist, die sich der sich ständig transformierenden Arbeitswelt mit neu entstehenden Sektoren anpasst und hier viel Dynamik und Kraft freisetzt.

Seit Ende 2015 ist der Wirtschaftsliberale Mauricio Macri Präsident. Bei den Vorwahlen für die Parlamentswahlen am 22. Oktober gewann ebenfalls die Regierungskoalition Macris mit knapp zwei Prozentpunkten vor der peronistischen Koalition, der unter anderem die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner angehört. Was hat sich seit dem Amtsantritt Macris für selbstverwaltete Projekte geändert?
Seit seinem Amtsantritt sind im Wesentlichen zwei Probleme aufgetaucht: zum einen ökonomische, zum anderen politische wegen der negativen Einstellung der derzeitigen Regierungskoalition gegenüber selbstverwalteten Projekten. Direkt nach Macris Amtsantritt wurden zum Beispiel zwei Gesetze verabschiedet, die verheerende Folgen für selbstverwaltete Kollektive hatten. Der Übergang zu einer flexiblen Währungspolitik führte in Argentinien zu einer Inflationsrate von 40 Prozent, was die Reallöhne drastisch senkte und die Produktionskosten – speziell für Materialien wie Plastik, Eisen und Papier – steigen ließ, da deren Preise an den US-Dollar gebunden sind. Außerdem wurden die staatlichen Subventionen für Energie und Transport gestrichen, was dazu führte, dass einige Projekte eine Erhöhung ihrer Stromkosten um 300 bis 400 Prozent zu verzeichnen hatten, bei gleichzeitig erschwerten Verhandlungsbedingungen eines »Sozialtarifs« für solche Projekte. Insbesondere Fabriken, die einen hohen Energieverbrauch haben, kämpfen seitdem um ihre Existenz.
Zusätzlich lässt sich eine Art Null-Toleranz-Politik gegenüber jeglicher Form von Enteignung beobachten, kombiniert mit Medienkampagnen, die sich insbesondere gegen solche Formen der Selbstverwaltung richten, die Privateigentum kollektivieren wollen. Des Weiteren sehen wir einen ungeheuren Anstieg der polizeilichen und staatlichen Brutalität und Repression gegen derartige Projekte.

Was ist zu erwarten, wenn die Regierungskoalition die Parlamentswahlen gewinnt?
Ich denke, dass die genannten Probleme sich weiter zuspitzen werden. Beispielsweise werden weitere Importderegulierungen die Folge sein, die die lokale Produktion weiter gefährden könnten. Die größte Gefahr ist allerdings, dass ein erneuter Sieg der Regierungspartei deren brutale Politik weiter legitimieren würde, was zu Verschärfungen ebendieser führen könnte. Schon jetzt setzt die Regierung teils auf brutale Gewalt. So wurde etwa eine selbstverwaltete Stahlfabrik vom ehemaligen Besitzer und mit Unterstützung der Regierung von bewaffneten privaten Sicherheitskräften vor den Augen der Polizei brutal angegriffen und geräumt. Solche Angriffe werden nach einem Wahlsieg zunehmen, denn viele Gesetze der vorherigen Regierung, die solche Projekte schützten, werden zurückgenommen. Bestehende Projekte sind in ihrer Existenz bedroht und jedes zukünftige Projekt muss mit Gewalt und Räumung rechnen. Viele Projekte fordern deshalb gerade ein Schutzgesetz für selbstverwaltet Fabriken.

Während des Treffens in Pigüé forderten einige, es brauche eine starke und gut vernetzte Bewegung von Menschen aus verschiedenen Organisationen, Betrieben und Gruppen mit unterschiedlichem politischem Hintergrund, um sich gegenseitig zu unterstützen. Wie weit ist eine solche Organisationsform gediehen?
Um ehrlich zu sein, ist das gerade noch eine weit entfernte Zukunftsvision, mit der ich aber stark sympathisiere. Wir brauchen Strukturen, die es ermöglichen, nationale Besonderheiten und Praktiken in einem solidarischen Netzwerk miteinander zu verbinden, um losgelöst von politischen Hintergründen zusammen zu kämpfen und zu arbeiten. Dennoch muss gesagt werden, dass die gesellschaftlichen Konstellationen, Ausgangsbedingungen und Projekte sehr unterschiedlich sind. Während in Argentinien die Übernahme von Fabriken durch ihre Beschäftigten eine politische Praktik geworden ist, die sich zusammen mit anderen – wie der Selbstermächtigung von Prekarisierten in Elendsvierteln – zu einer Kraft im urbanen Raum entwickelt hat, stehen Projekte in Kolumbien derzeit vor der Frage, wie sie mit dem neuen Friedensabkommen umgehen müssen. In Rojava wiederum hat die Frage der Regionalisierung dortiger Projekte zentrale Bedeutung in der Auseinandersetzung. Gleichzeitig glaube ich, dass unser Treffen durch die internationale Prägung gut geeignet war, diese Widersprüche und Unterschiede sichtbar zu machen und sie ernst zu nehmen. Es bot den Raum, eine gemeinsame Vision zu entwickeln, die sich nicht ausschließlich im Rahmen der von den Nationalstaaten vorgegebenen Grenzen abspielen muss.

Teilen Sie die Einschätzung, dass in solchen Vernetzungen revolutionäres Potential steckt?
Ich denke, dass sie großes Potential besitzen, indem sie die Konfliktlinie auf den antagonistischen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital legen und nicht vereinfacht den Kampf zwischen Boss und Arbeitern als zentral imaginieren; insbesondere in Zeiten, in denen informelle Arbeit und Prekarisierung rasend schnell voranschreiten und eben jene Konfliktlinie zu verschleiern scheinen. Statt als ein Netzwerk könnte unser Treffen vielmehr als ein Raum für grundlegende konzeptionelle Fragen begriffen werden, als ein Ort, der verbindet, anstatt zu vereinzeln. Es geht um die Frage, wie und unter welchen Bedingungen wir leben wollen. Diese bietet das Potential einer Vernetzung mit weiteren Kämpfen. Kleine Schritte in diese Richtung haben wir dieses Jahr schon erlebt. Das letzte Treffen beispielsweise gab der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und den Konzepten, die zu deren Auflösung führen, besonders viel Raum. Dies ermöglicht es, unsere Agenda der Kämpfe zu kombinieren und gemeinsam zu denken. Das genannte Beispiel hatte bereits sechs Wochen nach dem großen Treffen in Pigüé direkte Auswirkungen auf neue Bezugspunkte und Vernetzungen.