Die Lage im Nordirak nach dem Fall von Kirkuk

Alles verzockt

Die irakische Armee und mit ihr verbündete schiitische Milizen haben Kirkuk und andere bislang von Kurden kontrollierte Gebiete im Nordirak eingenommen.

Tausende Kurden tanzten in den Abendstunden des 26. September ausgelassen auf den Straßen von Erbil. Soeben hatte der kurdische Regionalpräsident Massoud Barzani den Sieg im Unabhängigkeitsreferendum verkündet. Die Wahlkommission gab wenig später bekannt, 93 Prozent der Wähler hätten in der umstrittenen Abstimmung für eine Loslösung der kurdischen Gebiete vom irakischen Staat votiert. Gegen sämtliche Widerstände aus Bagdad, Teheran und Ankara hatte Barzani das Referendum durchgesetzt. Im Siegestaumel erschien das von vielen Kurden langersehnte Ziel der Eigenstaatlichkeit greifbar nah. Der kurdische Präsident Barzani wähnte sich auf dem ­Höhepunkt seiner Macht. »Wir sind in eine neue Phase eingetreten«, zitierte ihn das kurdische Nachrichtenportal Rudaw.

Doch bereits vier Wochen später liegt das kurdische Projekt in Trümmern. Innerhalb nur weniger Tage eroberten die irakische Armee und schiitische Milizen der »Volksmobilisierungseinheiten« (PMF) gut 40 Prozent jener ­Gebiete, die zuvor unter Kontrolle der Peschmerga standen; sie rückten am vergangenen Freitag sogar bis auf 40 Kilometer an die Hauptstadt der Autonomieregion Erbil vor.

 

»Barzani wird alles verlieren«

Die beiden mächtigsten Parteien Kurdistans, die Demokratische Partei ­Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK), liegen im Clinch, zahlreiche Kurden befürchten das Ende der kurdischen Autonomie oder gar den Ausbruch eines Bürgerkriegs. Die Abstimmung über die staatliche Unabhängigkeit entpuppt sich als Pyrrhussieg für den Präsidenten. »Das Referendum für Barzani ist wie der Einmarsch in Kuwait für Saddam Hussein. Er wird alles verlieren«, sagte ein kurdischer Staatsangestellter aus der Provinz Diyala im Gespräch mit der Jungle World.

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der das kurdische Kartenhaus zusammenbrach, wird deutlich, wie fahrlässig Barzani und seine Berater gehandelt haben. Mindestens drei Umstände dürften sie vor der Ankündigung des Un­abhängigkeitsreferendums falsch bewertet haben: den innerkurdischen Konflikt zwischen KDP und PUK, den Einfluss des Iran auf die Regierung in Bagdad und den Willen der westlichen Verbündeten, den Kurden im Nord­irak diplomatisch und militärisch beizustehen.
In den Morgenstunden des 16. Oktober rollten die ersten irakischen Panzer durch die Straßen der Ölmetropole ­Kirkuk. Auf nennenswerten militärischen Widerstand der Peschmerga ­trafen sie nicht. Aufgebrachte Kirkukis hatten zuvor versucht, mit brennenden Straßenblockaden die lokalen kurdischen Einheiten am Rückzug zu ­hindern.

Es greift zu kurz, die jüngsten Entwicklungen im Irak lediglich auf den innerkurdischen Machtkampf und offene Rechnungen zurückzuführen. Die Einnahme der Ölfelder rund um Kirkuk und die Stärkung der irakischen Zentralregierung passen sich ein in die expansive Außenpolitik des iranischen Nachbarn

Noch rückten die ersten Flüchtlingskolonnen langsam gen Norden und ­internationale Beobachter begleiteten die irakische Landnahme mit Fassungslosigkeit, da kamen erste Details über die Hintergründe der Militärkampagne ans Licht. Hinter dem Rücken von Barzanis KDP hatte die PUK des kürzlich verstorbenen, ehemaligen irakischen Präsidenten Jalal Talabani offenbar einen Deal mit der Zentralregierung in Bagdad geschlossen. Die südöstlichen Kurdengebiete stehen traditionell unter Kontrolle von Peschmerga-Einheiten, die von Kommandeuren der PUK angeführt werden – so auch die Stadt Kirkuk. Für den Rückzug der Peschmerga aus den Gebieten war die Regierung in Bagdad offenbar zu zahlreichen Zugeständnissen bereit. So soll sie nicht nur die Wiedereröffnung des zuvor geschlossenen Flughafens von Suleyma­niah versprochen haben, sondern auch die Gründung einer neuen Region um die Städte Kirkuk, Suleymaniah und Halabja, mit einer Regierung unter Be­teiligung der PUK.

In Absprache mit der Zentralregierung in Bagdad plante die PUK also offenbar, weite Teile der kurdischen Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen – auf Kosten der Konkurrentin KDP.

»Die junge Garde in der PUK will sich mit einer harten Position gegenüber Barzani positionieren«, sagte ein Kurde aus Suleymaniah, der mit den Machtkämpfen vertraut ist, im Gespräch mit der Jungle World. »Bafel Talabani ­kooperiert mit dem Irak und dem Iran, will deren Truppen, um die KDP los­zuwerden. Es ist eine späte Rache für 1996, als Barzani Saddam Hussein nach Erbil brachte, um mit der PUK ­einen lästigen Konkurrenten loszuwerden.«

Tatsächlich distanzierte sich Bafel Talabani, ein Sohn Jalal Talabanis und einer der Anführer der PUK, auch in den Tagen nach dem irakischen Einmarsch in Kirkuk von der KDP. Hatte die PUK anfangs noch zumindest halbherzig das Unabhängigkeitsreferendum unterstützt, nannte Talabani es nun ­einen »kolossalen Fehler« Barzanis. Dieser hätte bereits im September die ­Gesprächs- und Vermittlungsangebote aus Bagdad und Washington annehmen sollen.

»Wir werden nicht zulassen, dass ein zionistisches Projekt Kirkuk kontrolliert«, sagte ein Anführer der vom Iran unterstützten PMF dem britischen Guardian. »Kirkuk ist ein zentraler Pfeiler der ira­kischen Wirtschaft und wird nie Barzani gehören.«

Allerdings greift es zu kurz, die jüngsten Entwicklungen im Irak lediglich auf den innerkurdischen Machtkampf und offene Rechnungen zurückzuführen. Die Einnahme der Ölfelder rund um Kirkuk – immerhin stammen etwa sechs Prozent der globalen Ölförderung aus diesem Gebiet – und die Stärkung der irakischen Zentralregierung passen sich ein in die expansive Außenpolitik des iranischen Nachbarn. »Wir werden nicht zulassen, dass ein zionistisches Projekt (wie ein unabhängiges Kurdistan, Anm. d. Red.) Kirkuk kontrolliert«, sagte ein Anführer der vom Iran unterstützten PMF dem britischen Guardian. »Kirkuk ist ein zentraler Pfeiler der ira­kischen Wirtschaft und wird nie Barzani gehören.« Entsprechend große Bedeutung maß der Iran dem irakischen Manöver zu. Kein Geringerer als Qasem Soleimani, Generalmajor der iranischen Revolutionsgarden, soll der Architekt der Operation gewesen sein. Das Ziel: den iranischen Einfluss im Irak (und auch in Syrien) zu stärken.

Bereits kurz nach dem Unabhängigkeitsreferendum soll Soleimani mindestens drei Mal in die Kurdengebiete gereist sein. Am 15. Oktober traf er sich mit PUK-Vertretern und hatte eine deutliche Botschaft: Zögen sich die Peschmerga nicht zurück, verlören sie Teheran als Verbündeten, so zitierte Reuters einen Teilnehmer des Treffens. Es scheint, als habe sich der Iran innerkurdische Animositäten geschickt zunutze gemacht. Die irakische Regierung leugnet den entscheidenden Einfluss des Iran auf das Geschehen. Ein Minister sagte dem Guardian mit Bezug auf Soleimani: »Es ist ein populärer Mythos, dass ein gewisser iranischer General seine Hand in allem hat, das in diesem Land geschieht, dass er eine Art Vizekönig ist.« Das sei aber nicht wahr.

 

Die europäischen und amerikanischen Verbündeten schweigen

Angesichts der nahezu widerstandslosen Gebietsverluste der Kurden im Nordirak überrascht das Schweigen ihrer europäischen und amerikanischen Verbündeten. Trotz mehrfacher Warnungen von deren Diplomaten hielt Barzani am Unabhängigkeitsreferendum Ende September fest, wohl auch im Vertrauen auf Unterstützung westlicher Staaten. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) sprach nach dem irakischen Einmarsch in Kirkuk jedoch lediglich von »innerirakischen Spannungen«. Auch US-Präsident ­Donald Trump äußerte sich zurückhaltend und sagte, dass ihm die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Irakern »nicht gefallen« würden. Das Engagement des Westens in der aktuellen Irak-Krise ist blass.

Dabei feuerten am Wochenende Peschmerga-Einheiten bei Kämpfen um die Stadt Altun Kupri offenbar Milan-Raketen auf ­Abrams-Panzer der irakischen Armee, was die kurdische Seite allerdings ­dementiert. Die Raketen wurden aus Deutschland nach Erbil geliefert, die Panzer aus den USA an die Regierung in Bagdad. Auf die zu erwartende Umstrukturierung des Irak werden wohl weder Deutschland noch die USA entscheidenden Einfluss nehmen können.

Die größte Last trägt – wie in vielen Konflikten – die Zivilbevölkerung. Gut 15 Prozent der Bewohner Kirkuks sind vor der vorrückenden irakischen Armee geflohen, insgesamt soll die derzeitige Krise mehr als 168 000 Kurden zu Flüchtlingen gemacht haben. Die Lage in den von der irakischen Armee eroberten Gebieten ist chaotisch und unsicher. »Wir haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Die Kurden haben Angst, auf die Straße zu gehen, viele sind abgehauen«, sagt Karim al-Jaluli aus der ostirakischen Stadt Jalawla im Gespräch mit der Jungle World. »Wir alle haben Angst vor den PMF.«