Der Sexualforscher Martin Dannecker: ein Porträt

Radikal auf der Seite der Subjekte

Eine Ausstellung im Schwulen Museum Berlin widmet sich dem schwulen Sexualforscher Martin Dannecker.

Ende eines Fernsehabends im Januar 1972: Im dritten Programm des WDR wird spät der vom Sender in Auftrag gegebene Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« des Filmemachers Rosa von Praunheim gezeigt. Er handelt vom Leben, das Schwule in der Bundesrepublik führen, und davon, wie äußere und innere Zwänge auf sie wirken. Die bundesweite Ausstrahlung in der ARD war kurz zuvor verhindert worden: homophile Vereine ebenso wie Reaktionäre waren mit den Inhalten des Films nicht einverstanden. Eine Diskussionsrunde gleich im Anschluss an die Sendung sollte Fragen klären. Der teilnehmende Praunheim wollte nicht auf dem Podium sitzen und begab sich demonstrativ auf die Zuschauertribüne zu seinen Genossen. Mit ihm ging ein Mann mit langen Haaren, Schnauzer und Lederjacke, seine Redebeiträge waren selbstsicher und eloquent. Es war der Mitautor des Films, Martin Dannecker.

Zwei Jahre nach Danneckers TV-Auftritt erschien seine gemeinsam mit Reimut Reiche verfasste Studie »Der gewöhnliche Homosexuelle«, wohl die erste Publikation, die die Lebenszusammenhänge von Schwulen in Deutschland insgesamt in den Blick nahm, ohne diese zu pathologischen Fällen zu erklären. Fazit des Buchs: Statt des Wunsches, anders zu sein, wirkt ein Konformitätsdruck auf den Schwulen, der eher zu einer Identifikation mit dem heterosexuellen Mann führt als zu einer Solidarität mit der Tunte. Statt Kritik an Ausgrenzung zu üben, passten sich Schwule also eher an und verleugneten ihre Sexualität. Homophile Vereine aus jener Zeit plädierten sogar dafür, sich nicht selbst als schwul zu bezeichnen, um möglichst nicht aufzufallen und anzuecken. Danneckers Forderungen waren dagegen das Öffentlich-Machen des eigenen Begehrens und ein selbstbewusster Umgang mit der Sexualität auch außerhalb der Subkultur. Folglich endete Praunheims Film auch mit den Worten: »Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!« Der Film ging auf Tournee und in fast jeder Stadt, in der er gezeigt wurde, gründete sich daraufhin eine politische Schwulengruppe.

Nach Schulabbruch, einer Ausbildung zum Industriekaufmann und einer zum Schauspieler hatte es Dannecker Ende der sechziger Jahre nach Frankfurt verschlagen, wo er Philosophie, Soziologie und – damals noch möglich – Psychoanalyse studierte. Er stieß auf die Studentenbewegung und zugleich auf die Theorien Sigmund Freuds, entschied sich aber gewissermaßen für letztere. Die psychoanalytische Orthodoxie ist immer noch sein wichtigstes theoretisches Rüstzeug. Dessen unbenommen zeigt ein bekanntes Bild ihn, auf der ersten Demonstration von Schwulen in Münster, in schickem Mantel und mit einem Schild mit der Aufschrift: »Brüder und Schwestern, ob warm oder nicht. Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!«
Ab 1977 arbeitete Dannecker erst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später dann als Professor am Frankfurter Institut für Sexualforschung. Das Institut wurde nach der Emeritierung seines langjährigen Direktors Volkmar Sigusch im Jahr 2006 aufgelöst. Der 74jährige Dannecker wohnt derzeit in Berlin und arbeitet immer noch, mittlerweile als Sexualtherapeut.

 

Dannecker ist immer Sexualforscher geblieben und nicht Queer-Theoretiker geworden

Legalisierung von homosexuellen Handlungen, Liberalisierung, Selbstbewusstsein von Schwulen, Aids und Internetsexualität – um all diese Themen ging es Dannecker in seiner Forschung, es waren und sind gleichzeitig dringende Themen der Zeit. Seine Analysen greifen zurück auf soziologische Erhebungen, die dann psychoanalytisch interpretiert werden, eine empirisch-kritische Herangehensweise. Die Psychoanalyse bezeichnet er als nichtnormative Wissenschaft, was erklärt, wieso er sie so schätzt: Sie stehe radikal auf der Seite der Subjekte, opponiere gegen die Forderung nach Anpassung.

Dannecker ist immer Sexualforscher geblieben und nicht, wie es in den Neunzigern durch die veränderte Debatte durchaus hätte passieren können, zum Queer-Theoretiker geworden. Was ihn interessiert, ist nicht so sehr der Diskurs über Sexualität und schon gar nicht die Frage der frühen Sexualforschung, wie Homosexualität entsteht oder gar, was sie ist. Dannecker geht es um das homosexuelle Begehren, wie er es nennt, die Frage also nach den Wünschen, Träumen und daraus resultierenden Handlungen der Individuen. So kreisen seine Texte oftmals um Begriffe wie »Lust« und die Frage nach deren Erfüllung sowie Versagung. Großes Aufsehen erregte seine Studie zu Aids in den frühen Neunzigern, in der unter anderem Zahlen veröffentlicht wurden, die bestätigten, dass nicht alle Schwulen safer sex praktizierten. Kollegen warfen ihm vor, damit Ressentiments zu schüren. Die Verteufelung von Promiskuität sowie das Verdikt der Monogamie waren ihm aber ein solcher Dorn im Auge, dass er dem allgemeinen Trend zur Enthaltsamkeit entgegentreten wollte. Der Blick auf Sex war in den Achtzigern durch Aids verstellt; diesen Schleier wieder zu lüften, war Danneckers Ziel. Das Leben von Schwulen will er durch seine Arbeit verstehbar machen, weder beschönigen noch moralisch bewerten. Mit seinem alten Freund Rosa von Praunheim brach er in einem offenen Brief genau deswegen. Praunheim hatte zuvor die Sexualmoral der Schwulen für die Übertragung von Aids mitverantwortlich gemacht, Dannecker attestierte: »Rosa wird evangelisch!«

So sehr Dannecker die Individualität der Subjekte ins Zentrum seines Denkens stellt und diese verteidigt, so sehr ist er als Person eines dieser Individuen. Seine Texte sind in gleichen Teilen gezeichnet von Sachkenntnis und Empathie für seinen Gegenstand. Ein salopper Ton zieht sich durch seine Äußerungen, da kann dann schon mal das Wort »bumsen« vorkommen.

 

Normalität kritisieren und Differenz akzeptieren, anstatt sie zu zu kaschieren

Kokett gibt er zu, sich anzupassen sei ihm immer schwer gefallen. Sein theoretisches Werk lebt von der am eigenen Leib erfahrenen Ausgrenzung, von der Erfahrung, als Schwuler nicht vorgesehen zu sein. Und doch übersetzt er diese Erfahrungen nicht plump zurück in Theorie. Vielmehr erzeugt diese Spannung eine Dynamik, gespeist aus Neugierde und Überempfindlichkeit, sich immer tiefer in die Gefilde des Sexuellen zu bewegen, nach Lust, Ängsten und Glück zu suchen. Die am eigenen Leib erfahrene Diskriminierung sensibilisiert ihn für die Ausgeschlossenen, weswegen immer wieder das Leben von Homosexuellen als Thema auftaucht.

Normalität zu kritisieren und die von ihm so bezeichnete Differenz zwischen Schwulen und Heterosexuellen zu akzeptieren, anstatt sie zu kaschieren, das steht im Mittelpunkt von Danneckers Überlegungen. In seiner Vision leben Menschen ein hedonistisches Leben, und Schwule sind nicht nur gleichberechtigt, sie sind der Gesellschaft gleichgültig, im doppelten Sinne: Sie sind gleichwertig und deswegen egal, noch lange aber nicht »gleich«. Das unterscheidet die Toleranz von der Scheintoleranz: diese toleriert nur den angepassten Schwulen, toleriert werden soll er aber als durchaus andersartiger. Dannecker selbst ist das beste Beispiel dafür, eine singuläre Erscheinung: zu schick angezogen, mit spitzer Zunge argumentierend und radikal offen sprechend über das Faszinosum Sexualität.


Die Ausstellung »Faszination Sex: Der ­Theoretiker & Aktivist Martin Dannecker« im Schwulen Museum Berlin läuft vom 2. November 2017 bis zum 28. Februar 2018